Gespräch
Kann, darf, soll
Eine Gesprächsrunde zu Tabus und ihrer Überwindung im Puppentheater
Einmal im Jahr tagt die Dramaturgische Gesellschaft. Zum diesjährigen „Klassentreffen“ der Dramaturg*innen aus dem deutschsprachigen Raum fanden sich vom 23. bis 26. Juni an die 300 Besucher*innen im Dresdner tjg. theater junge generation ein. Als zukünftige Nachbarin des Kinder- und Jugendtheaters auf dem Areal des Kraftwerks Mitte war auch die Dresdner Puppentheatersammlung ins Programm mit eingebunden. Deren Direktorin Kathi Loch resümiert das von ihr moderierte Gesprächsformat mit dem Titel „Die Puppe darf das! Tabus und ihre Überwindung im Puppentheater“.
von Kathi Loch
Erschienen in: double 46: Networking – Netzwerkmodelle im Figurentheater (11/2022)
Assoziationen: Praxiswissen Sachsen Puppen-, Figuren- & Objekttheater Theater Junge Generation
„Die Kunst der Begegnung“ lautet das Tagungsmotto. Daran angelehnt nehmen wir in unserer Veranstaltung die Begegnung zwischen Publikum und Puppe unter die Lupe und fragen nach ihren spezifischen Potentialen und Grenzen. Im Fokus stehen die Tabus, die in dieser Darstellungsform verhandelt wurden, werden und werden sollten. Unsere Erkundung führen wir einerseits historisch durch, andererseits im Lichte aktueller Diskurse und der zeitgenössischen Puppenspielpraxis.
Der Blick zurück
Zuständig für den historischen Blickwinkel ist Lars Rebehn. Der Oberkonservator der Dresdner Puppentheatersammlung hat drei Beispiele im Gepäck, um den Umgang des Puppentheaters mit Tabus zu illustrieren: Erstens die Darstellung von Gewalt im traditionellen Handpuppentheater. Zweitens die (verbalen) Grenzüberschreitungen des Kaspers im traditionellen Marionettentheater. Drittens die subversiven Strategien des freien DDR-Puppentheaters. Fazit des historischen Teils: Mit der lustigen Figur konnte das Puppentheater immer auf ein Grundprinzip zurückgreifen, das gut geeignet war, um sich gegen herrschende Klassen und moralische Zwänge aufzulehnen. Vor allem die vielfältigen Beispiele aus dem Rebehnschen Videoarchiv machen das sehr plastisch und liefern hervorragende Impulse für die Diskussion aktueller Fragestellungen. Für diese sind wir als Trio aufgestellt: Als Direktorin der Dresdner Puppentheatersammlung darf ich die Gesprächsrunde moderieren. An meiner Seite denken und sprechen Jemima Milano, seit 2019 im Puppentheater-Ensemble des tjg. theater junge generation, und Michelle Bray, Diversitätsberaterin, studierte Schauspielerin und einige Jahre Ensemblemitglied im Bautzner Puppentheater.
Wozu das alles?
Wir auf dem Podium sind uns einig: Können kann die Puppe ganz viel. Auch wenn Michelle Bray sich an Momente erinnert, in denen sie die Puppe gerne zur Seite gelegt und den Text selbst gesprochen hätte, ist die Überwindung der physischen Grenzen, die die Puppe ermöglicht, sowohl aus Spieler*innen- wie auch aus Publikumsperspektive eine unschlagbare Bereicherung. Aber wozu soll dieses Potential denn nun genutzt werden? Und wozu lieber nicht? Auch darin sind wir uns einig: Es gibt nicht per se Dinge, die ich auf der Puppentheaterbühne darf oder nicht (mehr) darf. Aber es gibt Dinge, bei denen sollte ich mir überlegen, ob ich sie machen möchte, wenn mir etwas daran liegt, respektvoll mit Menschen umzugehen, die eine andere Lebensrealität haben als ich selbst. Heißt das, dass ein weißes Ensemble nur weiße Geschichten erzählen sollte? Oder Schwarze Puppen nur von BPoC-Spieler*innen gespielt werden sollten? Wir auf dem Podium glauben, nein. ABER: Es braucht in solchen Fällen einen bewussten Prozess, der die eigene Position immer wieder reflektiert: Wer erzählt was über wen? Gibt es eine Kommentarebene? Wie wird kontextualisiert? Gibt es eine Begleitung durch jemanden, der*die Expertise mitbringt, oder Kontakt zu bestimmten Communities? Im Moment sind wir noch an einem Punkt, an dem überwiegend privilegierte Menschen (das bedeutet in den meisten Fällen: weiße, cis-geschlechtliche Personen ohne Behinderung) die Geschichten erzählen. Dieser mangelnden Diversität müssen wir mit besonderer Aufmerksamkeit und intensiver Reflexion begegnen. Und daran arbeiten, dass sich die Verhältnisse zukünftig ändern werden.
Darf man das (noch)?
Zwischenfrage aus dem Publikum: Sind traditionelle Spielformen, Texte und Sujets damit heute einfach nur inakzeptabel, wenn sie voller Rassismen, Sexismen und Stereotype stecken? Das Podium plädiert für Differenzierung, Beispiel Gewalt: „Ich hab‘ nix gegen Gewalt“, stellt Jemima Milano klar, ABER: Es macht einen großen Unterschied, ob eine Szene darauf zielt, strukturelle Gewalt aufzuzeigen und Diskriminierung bewusst zu machen, oder ob Gewalt und Diskriminierung einfach nur reproduziert werden. Bei der Einordnung helfen die Fragen: Wer tritt in welche Richtung? Wer hat die Macht? Wer kritisiert wen? Und was ist die Gesamthaltung der Inszenierung? Es geht auch nicht darum, unsichtbar zu machen, was einmal war, im Sinne pauschaler Aussagen wie „Man darf keine Stoffe mehr aufführen, in denen XY erwähnt wird“. Stattdessen können wir unsere heutigen Möglichkeiten nutzen, uns mit Machtverhältnissen und Ungleichheiten auseinanderzusetzen. Wir können die alten Stoffe neu anschauen, neue Blickwinkel und kritische Inszenierungsansätze entwickeln. Selbst mit Stereotypen, zu denen die Puppe nun einmal neigt, können wir fruchtbar umgehen, solange wir uns bewusst machen, welche Schubladen wir da im Kopf haben. Vielleicht verschwinden die Schubladen dann – oder sie bekommen ein neues Etikett. Michelle Bray zum Abschluss des Themas: „Wenn nach oben gehauen wird, bin ich immer dabei!“
Wünsche und Visionen
Ist das Thema Tabubruch im Puppentheater denn heute überhaupt noch ein Thema? Wieder Einigkeit auf dem Podium: Ja, denn erstens gibt es die Dauerbrenner (#sexdrugsandviolence), die jede Generation mit ihren eigenen Formen beackern muss. Und dann gibt es auch neue Tabus – oder zumindest solche, die hier und heute mit neuer Brisanz aufgeladen sind. Und taugt der Kasper noch als oberster Rebell gegen Tabus und gesellschaftliche Zwänge? Auch ein klares Ja, denn sein anarchisches Potential ist zeitlos. ABER: Nicht mehr zeitgemäß ist vermutlich, dass die Kasperfigur automatisch als weißer, heterosexueller, cis Mann daherkommt. Wie wäre es also mal mit einem nicht-binären Kasper, der*die sich das Thema Abtreibung vornimmt? Eine Vision wäre somit: eine Mischung aus „back to the roots“ und einem forschen Aufbruch in die Zukunft. Schlusswort von Jemima Milano: „Ich hoffe, wir hören nicht auf, uns zu hinterfragen, weil: Das bringt uns weiter.“ – dramaturgische-gesellschaft.de