Theater der Zeit

Bericht

„Anger“ heißt Zorn. Wut heißt „fury“ oder „rage“

„Angry Hour“ von Sööt/Zeyringer im Rahmen des Festivals „The Future Is F*e*m*a*l*e*“

von Almut Wedekind

Erschienen in: double 41: Puppe* – Figurentheater und Geschlecht (04/2020)

Assoziationen: Performance Berlin Akteure Theaterkritiken Sophiensaele

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Ich erwartete zunächst, dass „eine performative Enzyklopädie weiblicher Wutausbrüche, die Ausrasten als Empowerment-Strategie anwendet“, sehr körperlich, wild und leidenschaftlich werden würde.

Tiina Sööt und Dorothea Zeyringer vollzogen mit klarer, entschlossener Haltung und begleitet von zwei simplen, vierfüßigen Holzhockern eine ebenso präzis gesetzte wie aufeinander abgestimmte Choreografie in 28 Kurzkapiteln. Weder geografisch noch chronologisch sortiert, warf ein Beamer historische Aktionen weiblichen Widerstands und die dazugehörigen Namen an die Wand hinter den Performerinnen, die extrem reduzierte Bilder generierten. Gleichwertig folgte ein Vorgang konsequent aus dem vorherigen, ohne dabei zu einem organischen Handlungsverlauf zu werden. Die Neugier auf die neue Variante, den neuen kleinen Spannungsbogen, trug durch die Dauer. Jahreszahlen und Kurzerklärungen der jeweils zitierten Ereignisse barg das Programmheft. Alles sachlich, weitestgehend emotionslos, cool. Wie der Umgang mit den Dingen und Körpern auf der Bühne.

Das Verhältnis zwischen Performerinnen und Hockern bzw. ihren Einzelteilen war keineswegs ebenbürtig. Es wurde keine Animation oder phänomenologische Untersuchung des Materials angestrebt. Die Hocker dienten als Instrumente zur Bildgenese. Dennoch erschienen sie als wichtige Kollegen: Allein auf der Bühne klagten sie als leere Plätze an, sie ließen, als Furienhäupter über den Boden schleifend, donnerndes Geheul erklingen oder empörten stumm wackelnd als Penisstereotype. Sie wurden gehalten, um die Muskelkraft der Körper auszureizen; auseinander geschraubt, um die Fragilität einer Sitzpose krachend zusammenfallen zu lassen oder um eine Abtrennung zu vollziehen, die eine in sanft-monotonem Ton gesprochene Anweisung zum Durchführen einer Enthauptung begleitete. Die Objektzustände transformierten nicht nur Situationen, sie kommentierten sich auch gegenseitig, eröffneten Denkräume: Gerade noch wackelnde Holzpenisse, wurden die Stuhlbeine im nächsten Bild zu Anführungszeichen, die von den Performerinnen gesprochene Sätze als Zitate aus Valerie Solanas' „S.C.U.M. Manifesto“ markierten. Kreiselte der abgeschraubte Sitzdeckel erst geräuschvoll als abgetrennter Kopf des Holofernes über die Bühne, wurde er als nächstes zum konturlosen Gesichtsersatz weiblicher Körperdarstellungen in der bildenden Kunst.

Sööt/Zeyringer haben NICHT getobt und geschrien. Sie sprachen klar und ohne sich oder eine Figur emotional zu involvieren. Sie haben NICHT ihre Körper erhitzt, um einen persönlichen Kampf auszutragen. Ihre Körper wurden während der Performance zu ebenso gegenständlichen Dingen wie die Hocker selbst. Die Abstraktion der Darstellungen erzeugten einen Abstand zwischen den Ereignissen, den Performerinnen und den generierten Bildern, der von den Zuschauenden gefüllt werden musste, um sich dem eigentlichen Objekt des Abends zu stellen: dem weiblichen Zorn und dessen Wahrnehmung. Des Zornes Ziel ist weniger Vergeltung, als vielmehr der deutliche Ausdruck von Unmut und Unzufriedenheit. Er bezieht sich auf kein Ich, sondern gilt einer gesellschaftlichen Angelegenheit.

Unter der Überschrift „KADRISANDID (an estonian folk character) curse people who refuse to give them gifts“ sagte uns Sööt schon im dritten Bild ins Gesicht: „I wish you do not enjoy this performance“. – www.sootzeyringer.wordpress.com

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