Magazin
Transformationen in Erfurt
Das junge Festival PHOENIX 2.0 verstärkt Bemühungen um ein neues Schauspiel
von Michael Helbing
Erschienen in: Theater der Zeit: BRACK IMPERieT – „Hedda Gabler“ von Vegard Vinge und Ida Müller in Oslo (09/2022)
Assoziationen: Freie Szene Sprechtheater Theaterkritiken Thüringen
Weißer Rauch steigt auf vor Erfurts Theater. Schwarzer allerdings auch. Das sind, Anfang Juli, keine Zeichen kulturpolitischer Unentschlossenheit in der einzigen deutschen Landeshauptstadt ohne Schauspiel. Vielmehr stehen die Zeichen gerade sogar vergleichsweise günstig, dass die Erfurter, nach der Spartenschließung 2003, hier absehbar wieder „Habemus Spectaculum“ rufen könnten. Unter veränderten Vorzeichen wird die Rückkehr des Schauspiels ernsthaft geprüft.
Jener Rauch aber verweist auf die Sixtinische Kapelle, wo mit weißem Rauch seit 1914 eine erfolgreiche Papstwahl signalisiert wird. Die Rauchzeichen des Misserfolgs sind älter. Das wird protokolliert als ein „Jahr der Misere“: eines unter sehr vielen in der langen Chronik, von der sie hier binnen einer Stunde berichten, während sich von einem leistungsfähigen Nebelgenerator erzeugter „Rauch“ auch grün oder orange färbt. Es stinkt mitunter gewaltig.
Das Künstlerkollektiv PARA (Berlin/Hamburg/Frankfurt) sorgt derart für mehr Aufsehen in der Stadt, als es ein eigenes Schauspiel gerade vermocht hätte. Schaulustige hinterm Absperrband haben ein zufälliges optisches und olfaktorisches Erlebnis, ohne akustischen Zusammenhang, der zahlende Gäste dieser performativen Installation via Kopfhörer erreicht.
Auf dem Platz vor dem 2003 (!) eröffneten Theaterneubau, der seitdem reines Musiktheater beherbergt, laufen die Akteure in Schutzanzügen und mit Klemmbrettern als Forensiker unter Zuschauern umher. Sie markieren eine historische Spurensicherung, sammeln in „Haze – Eine Bezeugung in Rauch“ erklärtermaßen Beweismittel aus dem Zeitalter der Verbrennungstechnologie, für einen kommenden Prozess gegen die Menschheit.
Im Kontext dieser Stadt lädt sich das mit zusätzlicher Bedeutung auf. Der kulturpolitisch in Gang gesetzte Theatertransformationsprozess Erfurt trifft nicht nur unweigerlich auf den allgemeinen, der die deutschsprachige Bühnenlandschaft beschäftigt: mehr Mit- und Selbstbestimmung, flache Hierarchien, effektive und nachhaltige Strukturen, … Dieser wiederum ist, wie Diskurse zeigen, auch kaum noch denkbar ohne jene kulturelle Transformation, von der jetzt alle reden, angesichts einer sich abzeichnenden Klimakatastrophe. „Ein lebendiges Schauspiel“, postuliert Nicola Bramkamp, Gründerin der Initiative SAVE THE WORLD in Erfurt, „kann diese kulturelle Transformation begleiten“, indem es neue Narrative biete, die helfen, „diese Krise zu begreifen und zu überwinden“.
Bramkamp tritt im Konferenzteil des Theaterfestivals PHOENIX 2.0 auf, das sich binnen zehn Monaten zum zweiten Mal ereignet. Schauspielerin Anica Happich (Berlin) und Regisseur Jakob Arnold (Düsseldorf) hatten es im vergangenen Jahr ins Leben gerufen (TdZ 11/2021). Partner ist das Erfurter KulturQuartier, eine Genossenschaftsinitiative, die das alte Schauspielhaus umbaut und neu beleben will, mit und für Programmkino, Stadtradio, freies Tanztheater.
Das Festival widmet sich dezidiert jungen Theatermachern vor dem Abschluss ihres Studiums oder am Beginn ihres Berufslebens. Und doch: „Das erklärte Ziel unserer Initiative ist es, dass Erfurt wieder sein Schauspiel bekommt“, betonen Happich und Arnold. Wenn überhaupt, könnte es 2027 so weit sein, wenn die dann 25-jährige Ära des Intendanten Guy Montavon endet.
Nicht allein das PHOENIX-Programm versucht derweil subtil, ein drohendes Missverständnis auszuräumen: dass alles so werden könnte wie es war, strukturell und ästhetisch. „Wir machen nicht das Schauspiel von 2003, wenn es so kommt“, betont auch Marc Grandmontagne auf dem Festival. Der gewesene geschäftsführende Direktor des Bühnenvereins begleitet und berät im Auftrag der Stadt jene Transformation, über die diese wiederum mit dem Land zu verhandeln hat. Kulturminister Benjamin-Immanuel Hoff (Linke) will mit den nächsten, ab 2025 geltenden Thüringer Theaterverträgen jedoch weniger Struktur-, vielmehr Tarifpolitik verbinden. Nur in Erfurt, Weimar und Meiningen gilt derzeit der Flächentarif.
Lieferte die Berliner Musiktheater-Combo glanz&krawall die Begleitmusik – „Fuck your fucking standards!“ – so singen sie als „La Bohème Supergroup“, die einer Puccini-Oper mit Mitteln des Punks die bürgerliche Kunst austreibt. Zum Festival eingeladen, macht das Ensemble daraus, im permanenten Rollentausch, ein dreckiges Stück über prekäre Künstlerexistenzen, Gentrifizierung und Frauenbilder. Mimì überwindet ihre metaphorisch gelesene Schwindsucht, will nicht länger Muse, will selbst Künstlerin sein.
Einen Abend später ruft einer: „Sie werden kein Schauspiel sehen.“ Der Auftakt zu Peter Handkes „Publikumsbeschimpfung“, die Jakob Arnold an und zwischen langen Tafeln mit Wasser und Wein auf der Hinterbühne inszenierte: als wie aus dem Moment entstehendes Solo für Joshua Hupfauer, im Zwiegespräch mit uns und sich über das Theater befindlich, mit Intermezzi der Sopranistin Daniela Gerstenmeyer. Diese Eigenproduktion des Festivals wie auch dessen Programm in Gänze prophezeien uns, die Zukunft des Schauspiels liege gewiss jenseits der Spartengrenzen. //