Theater der Zeit

Stück

Die toten Freunde (Dinosauriermonologe)

Ein Singspiel mit dem Nachwort einer Birke

von Ariane Koch

Erschienen in: Theater der Zeit: Barbara Mundel – Stürzende Gegenwart (12/2022)

Assoziationen: Dramatik Rheinland-Pfalz Pfalztheater Kaiserslautern

Ariane Koch
Ariane KochFoto: Mayk Wendt

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Personenverzeichnis

Figuren:

Rosmarie (R)

Kind (K)

Grossmutter (G)

Historikerin (H)

Anführerin (A)

Wesen (W)

Ei (Ei)

Birken

Mit Dank an Anahi, Gesine, Philippe und Simone

und an die Workshopleiter:innen und -teilneh­mer:in­nen des Hans-Gratzer-Stipendiums 2020, Schauspielhaus Wien: Anna H., Anna N., Anne, Caren, Elias, Ivona, Jona und Tobias

Einmal lag ich angewinkelt
Neben einer Feuerstell’
Und summte Lieder
Die meine Mutter und Mutters Mutter
Immer sangen, wenn ihnen war bang

Der Sternenhimmel spannte freundlich
Über meinen Blickwinkel und noch weiter
Die Monde winkten hinab
Waren sogar recht gut aufgelegt

Als ich lernte, in die Zeit zu schauen
Nicht nur zurück, sondern auch nach vorn
Und kommen sah, was ihr nicht wissen wollt
Dieses Schwimmen

(Volkslied, ca. 100 Millionen Jahre nach Christus)

R:

Ich bin sicher
Ich war schon einmal älter
Als dass ich es jetzt bin

Die Evolution ist recht schnell vonstattengegangen
Ich muss sagen, ich habe fast nichts davon mitbekommen
Mir ist, als käme ich nun nicht mehr vom Fleck
In dem, was man Zeit nennt
Weil sich um mich herum kaum mehr etwas bewegt
Obwohl ich früher einmal die Schnellste war

Seit ich mit Kaffee aufgehört habe, bin ich immerzu wach
Liege frühmorgens im Stein, den Schwanz eingerollt, die Augen offen
Gefangen in dem, was man Gegenwart nennt
Dinge begegnen mir wie zum ersten Mal
Die Sonne, die durch die Nebeldecke drückt
Der Zungenkamm, der an der Wand lehnt
Daneben ein paar leere Näpfe
Stimmen poltern die Höhlen hinauf
Bist es du? Bist es du?

Ich migrierte aus einer anderen Zeit
Das Land, wo ich schlüpfte, ist vorüber
Aber dass es kein Telefon gibt, das man mit der Zunge entsperren kann
Das ist schon ein Problem

Manchmal habe ich Heimweh nach dem Urmeer
Wenn ich meinen Schwanz ins Mittelmeer tauche
Ist es nicht dasselbe

Letztens hielt ich ein Baby in den Händen
Aber es war eigentlich ein Frosch
Ich getraute mich nicht, es den Eltern zu sagen
Sie schienen es nicht zu bemerken
Ruckelten den Laich in einem Wagen herum
Und eigentlich ist es auch recht egal
Quakte ich dem Froschkind zu
Worauf es fröhlich zurückquakte

Wenn mir lang wird
Verspeise ich ein Stück Rosinenzopf
Die Krümel am Maul hängend
Schmatze ich trotzdem zufrieden
Mücken fliegen zusammen um die Wette
Bis sie sich niederlassen auf meinem Bein
Durch dessen Haut sie aber nicht zu stechen vermögen

Am Morgen schlürfe ich Kürbisse aus
Am Nachmittag mache ich mir Notizen
Am Abend trinke ich zwei kleine Pfützen, die mir trotz Gewohnheit ins Gehirn fahren
Die Vorhänge zugezogen

Ich gehe nur ab und zu ins Steinzeit-Restaurant
Mag die Wesen auch nur mässig, die mich umgeben
Es gibt ein-zwei passende Fossilien
Mit denen ich zwischen den Felsen spiele
Wer schafft den flachsten Frosch

Dann die Krokodile
Sind die wirklich lebendig oder eher tot?
Wie sie sich kaum bewegen in dem Teich
Die Zähne im aufgerissenen Maul das Wasser kämmend
Wartend auf die Schafe einmal pro Monat
Ich winke wie wahnsinnig
Aber diese Idioten erkennen mich nicht

Das Hyänenartige in mir
Nicht ohne die anderen sein zu können
Aber nicht zu nah, nie zu nah
Und eigentlich immer im Wunsch eine totzubeissen
Ist es, weil ich nicht sterben kann?

Manchmal trete ich jemanden flach
Nur aus Versehen
wirklich
Und wenn ich durchs Gestein schlurfe
So zittern die Dinge

A: Unsere roten Federn

K: Kleine Hörner

G: Meine Flechten sind gross

A: Meine Zähne noch viel grösser

R: Ich habe einen Hautpanzer

A: Kamm, Schild, Rückensegel

G: Dein Fusswurzelknochen steht ab

K: Ich wachse gerade

H: Ich war einmal

A: Unsere Klauen sind scharf

K: Zeig mal

A: Aufgepasst

G: Ich sehe scharf wie ein Messer

H: Ich sah in die Vergangenheit

K: 50 cm

A: Und ich 50 m

G: Es ist kein Wettbewerb

R: Und trotzdem sind wir so klein, wenn man uns mit der Welt vergleicht, trotzdem sind wir ein Nichts, ein Staub, ein Hauch in der Milchstrasse, ein Blinzeln der Zeit, ein kleines Knacken im Raum, kaum hörbar, oder?

K: Wettbewerb in was?

A: Wer rennt am schnellsten

G: Du meinst, wer schwimmt am schnellsten

A: Vier- oder zweibeinig?

K: Ich habe Wurzeln, du Echse

H: Ich kroch über die Dinge wie eine Tigerschnecke

K: Du BIST eine Tigerschnecke

R: Wettbewerbe sind langweilig

A: Du bist nur wütend, weil du nie gewinnst

R: Es geht nicht ums Gewinnen

K: Du klingst wie meine Mutter

G: Ich bin keine Mutter

K: Geht es ums Verlieren?

A: Es geht ums Überleben

R: Oder ums Sterben. Wir überleben doch schon viel zu lange. Irgendwann ist doch auch mal gut. Nach all diesen Millionen von Jahren. Irgendwann dürfen dann doch auch mal die nächsten. Wir sind ja schon ganz staubig, so lange sitzen wir hier schon rum

G: Das ist Birkenstaub

A: Ich finds gut, dass wir nicht ausgestorben sind, wir haben uns einfach durchgesetzt gegen all diese –

H: Wir waren untötbar. So gingen wir in die Geschichte ein

R: Aber kann man sich überhaupt an etwas erinnern, was nicht stirbt, sondern immer da ist? Wir erinnern uns ja dann immer nur ständig an uns selber

K: WIE LANGWEILIG

R: Ich wäre manchmal gerne ausgestorben, zumindest ein bisschen, einfach immer weniger werden, zunehmend verschwinden

G: An mich muss sich niemand erinnern, wirklich. Ich wäre nicht traurig, wenn man mich vergässe (rollt ein wenig vor und zurück)

K: Stellt euch vor, man könnte sich erinnern, wie das Sonnenlicht warm durch die Schale leuchtet, wie man sich dem Licht entgegendrückt, das Herz schlagend. Stellt euch vor, man wüsste noch, wie sich das weiche Knacken der Schale anhört, wie sich ein heller Riss durchs Blickfeld zieht, der immer schneller bricht, länger wird, bis dass der Deckel nachgibt, und man plötzlich schon den halben Kopf im Wind hat, ohne zu wissen, was ein Wind oder ein Kopf ist. Stellt euch vor, man wüsste noch, wie die Welt durch die auf dem Auge liegende Milchhaut zum ersten Mal verschwommen vor einem hin- und herpendelt. Stellt euch vor, man wüsste noch ganz genau, wie man zur Seite kugelt und aus dem Ei hinauskriecht und unter den Beinen oder Flügeln etwas spürt, was man nicht kennt

A: Als ich auf die Welt kam, war schon alles voll. Um mich herum lagen 20 Eier. Während meiner Kindheit war ich ständig damit beschäftigt zu überlegen, wo mein Platz ist. Um mich herum war buntes Treiben, Kreischen, Lachen, alle Plätze im Nest schienen schon vergeben. Ich sass zwischen euch und war trotzdem allein

K: Du hast dich ständig aufgespielt, wolltest einem ständig etwas befehlen

H: War ich nur ein Mosaik, aus dem, was mich umgab?

G: Wieso „nur“?

R: Es ist ja nicht so, dass das Leben zwingend mit der Kindheit anfangen muss. Es ist doch schon längst durcheinandergeraten. Als ich aus dem Ei schlüpfte, da war ich schon 400 oder 4000. Als ich auf die Welt kam, da war schon klar, dass ich immer jünger würde

K: Und irgendwann gehst du wieder zurück ins Ei, legst die Schalen wieder an?

R: Warum nicht

H: Ich bevorzugte es, in den Altern herumzuspringen, tageweise. Heute war ich jung und morgen war ich alt. So fühlte es sich zumindest an

G: Springen? Du gehörst doch zu den Schneckenartigen

H: Manchmal verlor ich mich völlig in der Zeit, wusste nicht, war schon Mittwoch oder Mittelalter

A: Es ist Urzeit

G: Welche Uhrzeit?

R: Sehr witzig

G: Ich bin irgendwie schon viel zu lange mit euch zusammen, als dass ich noch mit euch zusammen sein könnte

R: Und ich bin schon viel zu lange mit mir selber zusammen. Diese dicke Haut, meine Krallen und scharfen Zähne, so unnütz hängen sie an meinen Fingern, stehen sie in meinem Maul herum und bringen gar nichts, ausser es gelüstet mich nach Vogelsnack

K: Vögel? Hat jemand was von Vögeln gesagt?

R: Ist es das Altern, wenn man das Gefühl hat, alle Probleme begegnen einen mindestens zum zweiten Mal?

A: Klingt eher nach schlechtem Problem-­Management

H: Das war die Unsterblichkeit

R: Alles ist immer die Kopie von etwas, was ich schon erlebt habe. Und das Schlimmste ist, dass ich immer das Gefühl habe, ich habe es schon einmal besser erlebt, also die Ereignisse sind nicht nur Plagiate, sondern es sind auch noch SCHLECHTE Plagiate

K: Du erlebst immerhin noch etwas. Ich habe das Gefühl, schon seit Jahrtausenden nichts mehr zu erleben

H: Warst du nicht erst 200?

K: Immer dieselben Fritten: die Eichhörnchen-Wurstverkäuferin, der grimmige Fels mit der grossen Nase, Grossmutter, die gar nicht besonders gross ist, sondern eher kugelförmig

G: Es ist gemein mit dieser Zeit, weil einer suggeriert wird, das Leben sei kurz, es könne jederzeit vorbei sein, man müsse jede einzelne Sekunde schätzen, aber das stimmt überhaupt nicht. Das Leben ist nicht kurz, sondern sehr, sehr lang

A: Im besten Fall

R: Im schlechtesten Fall

K: In unserem Fall

G: Ich bin kein Fall, ich bin –

H: Aber ich hätte dem wehenden Vorhang stundenlang zusehen können, wie er sich sanft kräuselte. Es schaute so schön aus, aber oft war niemand da, dem ich es hätte sagen können

G: Ich bin doch da

A: Andererseits wird die Cellulite an meinem Hintern immer schlimmer

G: Ich dachte, die geht wieder weg?

K: Also mit meinem EIGENEN Altern habe ich keine Probleme, aber mit dem Altern der ANDEREN. Das Altern der anderen stimmt mich irgendwie traurig

R: Wie traurig?

K: Punktuell, wie wenn jemand mit kleinen Nadeln in meine Rinde sticht, manchmal merke ich es, manchmal nicht

H: Vielleicht weil man das eigene Sterben ja sowieso nicht bemerkte, aber das schleichende Sterben der anderen sehr wohl?

G: Die hängenden Hälse

A: Das schmerzende Knie

H: Eine dicke Schleimspur

R: Man wünscht sich ja irgendwie den eigenen Tod herbei, aber selten den von anderen

A: Kommt drauf an

H: Es kam bestimmt die Zeit, wo auch wir gehen müssten

R: Und das ist völlig ok

G: Wer hatte eigentlich diese schreckliche Idee, dass man sich immer weiterentwickeln muss, dass man grösser oder kleiner, schneller oder besser werden muss? Dass man Schwimmhäute braucht oder diese Säbelzähne? Dass es so etwas wie Evolution geben muss?

H: Damit wir das Vergangene erforschen konnten?

R: Damit mal endlich etwas passiert. Ich WÜNSCHE mir ja, dass mir neue Beine oder Federn wachsen, dass ich endlich fliegen könnte. Wegfliegen

A: Wo willst du denn hin?

R: Vielleicht zu den Monden

G: Wenigstens müssen wir keine Eier mehr legen

K: Ach, so ein kleines Ei fände ich schon süss, so ein klitzekleines Geschwister. BITTE

G: Auf keinen Fall

A: Wir sind doch prächtig, genauso wie wir sind: In unseren Venen fliesst warmes Blut. Unsere Herzen schlagen laut und füreinander. Wir mögen in der Sonne zu liegen mit unseren dicken Bäuchen und unseren kleinen Köpfen

H: Im Urmeer lag ich wie die Mikroben, habe mich treiben lassen, die Urzeit genossen, Drink mit Sonnenschirmchen

K: Mikroben? Alles was vor mir kam, interessiert mich sowieso nicht. Alles was vor mir war, sah einfach scheisse aus, sorry

G: Da können sie ja nichts dafür

A: Als wären sie Welpen

R: Wer?

G: Was ist das für ein Geräusch

K: Ich höre nichts

G: Ich glaube, unsere Ohren sind auch nicht mehr das, was sie einmal waren

K: Ich habe gar keine Ohren

H: Aber spürtest du nicht diese Erschütterung

G: Ich dachte, das sei dein Schlängeln

H: Ich kroch, ich schlängelte nicht

R: Dieser Gesang

G: Oder ist irgendwas mit meinem Hörgerät?

H: Ich hatte es schon gerochen, bevor es in mein Blickfeld geriet

K: DA

R: Was ist das?

H: Wer war das?

G: Kommt mir bekannt vor

K: Mir gar nicht, es geht auf zwei Läufen

H: Wie die T-Rexen früher, wusstet ihr noch

K: Die Lachnummern?

R: Sieht aber so gar nicht wie ein T-Rex aus

K: So dünn. Es könnte mal ein paar Eichhörnchen vertragen

G: Ist es ein Freund der Birken?

K: Ich habe Angst

H: Ich dachte, das will ich erforschen

R: Seit Tagen liege ich auf der Lauer. Seit Tagen höre ich es singen und weiss nicht, wie mir geschieht. Ich kann meinen Blick nicht von ihm abwenden. Auf seinem Kopf sind lustige Büschel wie Gras. Seine Zähne sind seltsam flach, so als hätte es sie tagelang an einem Stein stumpf geschliffen. Das Wesen sticht in mich hinein. Es ist wie meine Kindheit, die endlich von den abtauenden Gletschern freigegeben wird. Es ist wie ein Riss im felsigen Boden, durch den nun eiskaltes Wasser strömt, die Steine so lange umspült, bis dass sie rund und weich werden. Ich muss dieses Wesen haben. Es muss mir alles über mich berichten, wer mich Rosmarie taufte, warum die Birken gelben Staub über alles legen, was ihnen in den Weg kommt, warum ich mich so schrecklich langweile, warum wir nicht endlich sterben, wohin ich gehen könnte, wenn ich dann endlich einmal wegwandere. Manchmal stelle ich mir vor, dass sich des Wesens Haarbüschel und sein weicher Panzer an meinen Flechten reiben, dass wir zusammen rollen und tanzen. Mein Magen knurrt, mein Herz pocht wie ein Galopp, aber ich bewege mich nicht von den Birken fort

G: Ich war zuerst da. Ich war mutterseelenallein und gänzlich zufrieden damit. Es gab eine Steppe, auf der man lange gehen konnte, ohne dass einem sich ein einziger Baum in den Weg stellte. Ich schlief nicht in Löchern, sondern unter der aufgehenden Sonne, folgte ihrem Licht und kam ihr jeden Tag ein Stückchen näher. Hie und da eine Wüstenspringmaus, manchmal der Wind, der die Sandkörner in unendlich neuen Kombinationen stapelte. Als ich diese Eier legte, als sie einfach aus mir hinauspurzelten, da wollte ich mich eigentlich gleich davonmachen, wollte weiterziehen, schliesslich hatte ich die Sonne noch nicht erreicht. Ich habe sofort gewusst, dass die Eier mich nicht brauchen, habe gewusst, dass ich diese Eier nicht brauche. Ich habe es trotzdem nicht geschafft zu gehen. Also bin ich geblieben und habe zugeschaut, wie aus jedem einzelnen Ei etwas schlüpfte. Das sind meine Kinder

A: Was guckst du, als hättest du zu viel Birkenstaub geleckt?

R: Wir haben etwas gesehen

A: Was denn?

R: Ein Wesen, dort hinten. Es sah seltsam strich-
artig aus, war behangen mit Tüchern und fuhr mit den Krallen an den Stämmen entlang, während sein Mund etwas hell Tönendes formte

A: Das habt ihr doch geträumt, das war bestimmt ein fettes Eichhörnchen

R: Es ging wie auf zwei Pfoten

A: Ein Eichhörnchen, dass das Weibchen macht? Oder dir sind die Erinnerungen mal wieder ausgelaufen?

R: Das helle Tönen seines Mundes brach nicht ab, also habe ich mich hinter einer Birke versteckt

A: Als hättest du hinter einer Birke Platz

R: Und auch als die Sonne es beleuchtete, tat es nichts dergleichen, ausser mit seinen schlanken Vorderfüssen Schatten auf seine Augen zu werfen

A: Apropos Sonne: Hast du eigentlich kein Problem damit, dass in dem Loch, wo du wohnst, kaum Licht ist

R: Was? Nein

A: Weisst du, in dem Loch, wo ich bin, da scheint immer indirekt die Sonne, weil sie an einem Fels in mein Loch hineinstrahlt. Vielleicht kannst du ja einmal auf Besuch kommen?

Pause

A: Ich habe in letzter Zeit ständig das Bedürfnis, mich selbst nachzuschlagen. Dann schaue ich stundenlang Fotoalben an, in der Hoffnung, irgendetwas über mich zu erfahren

R: Und erfährst du etwas?

A: Irgendwie wirke ich da so echt und abgeschlossen, also ganz so als wäre ich eine greifbare Persönlichkeit, und das beruhigt mich dann. Ich sehe so fröhlich aus auf den Bildern und dann frage ich mich, warum ich das jetzt nicht mehr bin

R: Kannst du mir mal aus der Sicht gehen? Ich glaube, das Wesen kommt wieder

A: Ja, aber auch meine Augen lachen auf den Bildern. Wo ist denn nur dieses Lachen hin?

R: Weisst du, wenn dieses Wesen singt, dann werde ich ganz weich, egal wie verkrampft mein Panzer oder mein Herz ist. Ist es nicht erstaunlich, wie der Gesang den Aggregatzustand von Körpern verändern kann, so als würden die chemischen Verbindungen mithören, die Moleküle brechen auseinander, aus Ecken werden Kreise? Ich schlängle einfach zu Boden nieder und kein einziger Muskel ist mehr bereit sich anzuspannen, bis dass der Song sein Ende findet

A: (ist weggerollt)

K: Wo komme ich her?

H: Aus einem Ei

K: Und was war vor mir?

H: Andere Eier

K: Und was war vor den Eiern?

H: Keine Eier

K: Sondern?

H: Kleine Lebewesen ohne Eierschale

K: Und wer hat sie gelegt?

G: Sind wir hier in einem Aufklärungsfilm?

H: Wir wussten kaum etwas über sie. Wir hatten zwar vereinzelte Knochen ausgegraben, aber das waren nur Splitter von etwas, von dem wir nicht wussten, wie wir sie zusammensetzen sollten. Wir wussten nicht, welches Teil gehört auf welches, welche Antwort gehört zu welcher Frage. Es war alles ein riesiges Puzzle, bei dem wir nicht wussten, wo wir anfangen sollten

K: Haben die Lebewesen vor uns auch Eichhörnchen gegessen?

H: Bestimmt. Wer konnte diesen buschigen Schwänzen widerstehen?

R: Immer wenn jemand Anekdoten aus seiner Kindheit zum Besten gibt, dann stehe ich dumm daneben, weil ich mich selbst an nichts erinnern kann. Alle haben lustige Geschichten von früher zu erzählen – ausser ich. Manchmal frage ich mich, ob ich überhaupt eine Kindheit hatte, oder ob sie meine Eltern erfunden haben. Ich meine, auch diese Fotoalben, das könnte ja irgendjemandes Baby sein. Und auch meine Eltern: Die könnten irgendjemandes Eltern sein. Vielleicht sind es überhaupt keine Eltern. Vielleicht sind es einfach zwei wahnsinnige Personen, denen sehr langweilig war

G: Mir war alles andere als langweilig

A: Apropos Langeweile: Als ich klein war, sammelte ich auf einem Spaziergang Steine, die mich besonders schön und glänzend dünkten. Ich rannte mit den Krallen voll Steinen zu meinem Vater, um sie ihm zu präsentieren. Mein Vater betrachtete die Steine kurz und sagte dann: Das sind hundsgewöhnliche Steine

K: Du kennst deinen Vater?

A: Nö, aber ich stell mir den halt so vor

R: Ein Terrazzoboden oder eine Erinnerung ist wie aus kleinen Steinen zusammengesetzt. Die wahnsinnigen Personen, die sich als meine Eltern ausgeben haben müssen, gossen die Steine zusammen, schliffen die Oberfläche glatt ab, nannten das einen Boden, über den ich jetzt hinübergehen soll. Als ob mich dieser Boden halten würde!

G: Sind wir denn nicht alle Steine, Versteinerungen, die gegen den Wind anschreien?

K: Aber ich bin doch weich, Oma

G: Ich bin nicht deine Oma

R: Ja, vielleicht hast du recht. Es geht nicht nur ums Sterben, sondern auch darum, dass wir auseinanderfallen sollen dürfen, dass wir auch instabil sein sollen dürfen. Wir tun zwar immer schrecklich unsterblich, aber trotzdem sind wir verletzlich. Ich habe genug davon, so zu tun, als seien wir Felsen, gegen die sich die Wellen werfen

A: Du kannst dich gerne ein wenig gegen mich werfen, wenn du willst

R: Schaut, da kommt es wieder

G: Was macht es?

K: Es winkt, die Haarbüschel über den Augen tanzen

R: Ich glaube, es will etwas rufen

A: Versteht das irgendjemand? Ich versteh kein Laut

K: Woher kommt es?

R: Ich habe es zuerst gesehen

A: Und jetzt? Was willst du damit?

K: Keine Ahnung. Ich habe Hunger

A: Wir sollten es nicht essen, kein Dino weiss, wie viele Jahrtausende das schon irgendwo abgehangen ist

G: Fleisch sollte man ja abhängen, sonst ist es zu zäh

A: Und irgendwann verfault es

K: Es sieht nicht verfault, sondern recht frisch aus

G: Spinnst du? Wir können das nicht essen. Es ist uns vielleicht von irgendwoher gesandt worden. Wir müssen uns unbedingt anhören, was es uns zu sagen hat

A: Es kann ja gar nicht reden

R: Wir müssten wahrscheinlich seine Sprache lernen

A: Es soll gefälligst unsere Sprache lernen, wir waren zuerst da

G: Bist du sicher?

R: Ich finde, das Wesen wirkt recht ähnlich wie wir

A: Es ist komplett anders

R: Aber wenn ich es anschaue, dann sehe ich mich in ihm gespiegelt, wie in Terrazzo

A: Und wie siehst du in der Spiegelung aus?

G: Irgendwie fett

A: Warum ausgerechnet Terrazzo?

K: Vielleicht will es uns töten

R: Schön wärs

G: Es sieht nicht wütend aus, sein Kamm ist nicht rot

R: Es hat gar keinen Kamm

A: Auf jeden Fall bin ich skeptisch. Es könnte Krankheiten mitbringen, vielleicht werden wir alle sterben

R: Ja, wir sollten es küssen

H: Warst du denn nicht neugierig? Wir lagen hier seit Jahrhunderten im Aufenthaltsraum herum und es passierte nichts, und jetzt, wo endlich einmal jemand Neues daher kam, dachtest du nur ans Essen?

G: Es gibt schon Mittagessen?

A: Du solltest mal deine Ohren spülen lassen

K: Immer wenn ich etwas essen will, dann hat jemand was dagegen. Immer wird mir mein Mahl vermiest. Wie soll ich in Ruhe mein Essen geniessen, wenn mir immer jemand reinredet? Iss das nicht und iss das nicht. Ich bin schon ganz abgemagert, man sieht schon fast meine Schwanzknochen. Ich träume von gebratenen Eichhörnchen, wie sie im Feuer auf und ab hüpfen und sich selber bis zur Perfektion garen, ihre knusprig-buschigen Schwänze schwingend, so sehr setzt ihr mich auf Diät. Ich verstehs nicht. Die Welt gehört doch uns. Wir können hier doch essen, was wir wollen, oder?

H: Seit wir keine Birken mehr assen, ging es uns viel besser

R: Rosinenzopf

A: Ja, aber dafür vermehren die sich jetzt unkontrolliert

G: Aber wir teilen ja auch gern

A: Also, ich nicht

H: Die weissen Stämme tanzten im Kreis, stieben einer nach dem anderen auseinander, kamen wieder in der Mitte zusammen, neigten sich dem Boden zu, schwenkten ihre Äste, schüttelten jeweils Gelbstaub über den zu ihren Rechten, dann pendelten sie sich wieder ein, gerade dort, wo sie verwurzelt waren, jetzt wiegten sie sich nur ein bisschen, als würden sie vom Wind bewegt, nun waren sie wieder starr

A: Was machst du

R: Nichts

A: Ich sehe doch, wie du es den ganzen Tag beobachtest

R: Ja. Und?

A: Könntest ja auch mal mich beobachten

R: Dich kenne ich schon

A: Wir sind uns auch ähnlich

R: Du stehst mir im Weg

A: Aber wir gehören doch zusammen, oder?

R: Mir ist, als ob ich das Wesen schon mal irgendwo gesehen habe

A: Du spinnst doch. Diese Ansammlung an Hässlichkeit

R: Denkst du, es ist der Tod? Vielleicht bringt es uns endlich das Ende

A: Ich möchte nicht, dass du dich mit ihm abgibst

R: Du kannst mir nichts befehlen, du bist nicht meine Mutter

A: Aber deine Freundin

R: Ich habe keine Freunde

R: Hallo

W: (schweigt)

R: Ich heisse Rosmarie, und du?

W: (pfeift)

R: Ich kann leider nicht –

W: (pfeift)

R: Parles-Tu Français?

W: (schweigt)

R: Ich habe von dir geträumt

W: (schweigt)

R: Ich habe geträumt, dass du in einem Gebäude aus Stein wohntest, dass du als Haus bezeichnetest. Du hattest Wesen in den Armen, die dir glichen, aber viel kleiner waren als du. Ich nehme an, das waren deine Jungen. In deinem Garten wuchs eine Birke, aber die verhielt sich anständig, hielt sich sogar mit ihrem Staub zurück. Auf den Strassen waren noch viel mehr Wesen deinesgleichen. Ihr zogt zwischen den Häusern hindurch, so als suchtet ihr etwas. Eure Kopfhaut war in Falten gelegt, vielleicht bedeutete es Wut. Eure Stimmen schrien hoch, noch höher als sonst. Es kamen noch mehr deinesgleichen, ihr begannt euch gegenseitig niederzureissen, manche blieben am Boden liegen, manche Liegengebliebenen wurden weggeschleift. Der Boden war nun zusammengesetzt aus Toten oder Verletzten, ein Mosaik. Ich hatte Angst, obwohl ich seltsam unbeteiligt herumstand, dich nur begleitete, mich oder dich schliesslich in der Masse verlor. Dann bin ich aufgewacht

W: (schweigt)

R: Was der Traum wohl bedeutet?

K: Findet ihr es nicht auch seltsam, dass wir gar nicht so genau wissen, von wem wir eigentlich abstammen? Dass wir gar nicht so recht wissen, wer unsere Väter, vor allem Väters Väter waren? Dass wir nicht wissen, warum wir so aussehen, wie wir aussehen, warum wir das träumen, was wir träumen. Zum Beispiel habe ich letzte Nacht geträumt, alle meine Freunde sind tot, ich war die Letzte auf der Welt, nur auf meiner Hand sass eine sehr kleine Eidechse, die mich mit ihrer gelben Zunge lüstern abschleckte

A: Geil

G: Ich finde es auch seltsam, was aus euch geworden ist, ich fühle mich irgendwie für euch verantwortlich, aber gleichzeitig seid ihr so anders

K: Dabei finde ich Eidechsen nicht mal hot, sondern extrem grausig

A: Sie sind halt ein bisschen distanziert, blasiert, glasiert, Eidechsen halt, aber wenn man drauf steht –

K: Man weiss nie: Heben die die Hand zum Gruss oder kratzen sie sich gerade am Kinn

H: Ja, aber wir wussten doch eigentlich ganz genau, dass unsere Väter und Väters Väter Bestien waren. Dass wir von Kriegern und Monstern, von Vergewaltigern und Massen­mördern abstammten. Dass unsere Stamm­bäume von ihnen übersät waren, dass die Erde, auf der wir gingen, voll war mit ihren Gebeinen, dass die Höhlen, in denen wir hausierten, voll waren mit ihren Geistern, dass unsere Geschichtsbücher, unsere Gene und vielleicht sogar unsere Gedanken voll waren mit ihren Überresten

G: Ich bin keine Massenmörderin

H: Ein bisschen waren wir alle Massenmörderinnen

K: Letztens habe ich eine Eidechse am Schwanz gezogen. Sie hat sich gerade ein wenig gesonnt, die Zähne gebleckt. Ich habe mich angeschlichen und –

A: Dann ist das Vorherige noch in mir, in meinen Knochen, in meinem Gang? Rosmarie, habe ich einen Mörderinnen-Gang?

K: Deshalb schleichst du so doof wie eine Eidechse

G: Ihr gleicht mir alle nicht

R: Aber ich weiss ja von gar nichts. Ich kann mich an keine mordenden Papas erinnern. Ich habe die Personen, die sich als meine Eltern ausgegeben haben, eines Tages verlassen und im Anschliessenden vergessen, wer sie waren und wo sie wohnten

G: Bleibt unsere Moral intakt, nur weil wir alles vergessen und deshalb nichts mehr wissen?

A: Aber ist nicht genau das unsere Qualität? Dass wir alles ständig vergessen?

H: Ich wollte alles erinnern, ich wollte Mahnmale bauen, ich wollte –

K: Ich weiss noch genau, wie die Eidechse dann ihren Schwanz abwarf und herumschwankte, weil sie das Gefühl für das Gleichgewicht verloren hatte –

R: Genau. Immer wenn ich etwas mache, dann schwingt da so etwas mit. Ich habe mich ständig gefragt, was das ist, und jetzt habe ich es herausgefunden. Es ist die Moral. Ich habe diese moralische Verantwortung, die ich nicht kanalisieren kann. Ich habe das Gefühl, dass das, was ich mache, irgendwie nicht richtig ist, aber ich weiss nicht, was richtig ist beziehungsweise was genau falsch an meinen Handlungen sein könnte, vielleicht ist das die Vergangenheit in mir?

A: Ich bin stolz auf meine Väter, auf meine Vorfahren

R: Die du nicht kennst, weil sie abgehauen sind

A: DU haust immer ab

R: Ich bin kein Vater

G: Und ich bin keine Mutter

A: Sagt ja auch niemand

H: Also die Männlichen waren ausgestorben, nicht abgehauen

R: Die Glücklichen

H: Und da waren auch alle anderen ziemlich froh drüber, dass es mit denen endlich zu Ende ging. Die waren ja sowieso nur noch traurige Kreaturen mit diesen Fitnessstudios, und so weiter

G: Wir haben sowieso schon immer viel länger gelebt. Irgendwann ging es auch nicht mehr auf, wenn das Weibliche 500 Jahre alt wird und das Männliche nur Achtzig

H: Ja, man hatte ja auch ein wenig nachgeholfen mit dem Aussterben

K: Wie denn?

G: Ich sag nur: Fuchsbandwurm

K: (zu W) Du riechst so gut, ist das ein spezielles Shampoo, in dem du deine Fellsträhnen badest? Und auch dein Fleisch, dass fast hautlos über deine Knochen gespannt ist, fast durchsichtig, nur einmal ablecken, nur einmal kurz ein bisschen näherkommen, einmal kurz ein bisschen an deinen langen Krallen saugen, schmecken, knabbern –

W: (kreischt und rennt weg)

A: (zu angeranntem W) Wenn du uns nichts zu sagen hast, dann kannst du auch wieder gehen. Wenn du uns nichts zu schenken hast, dann kannst du auch wieder gehen. Den ganzen Tag streifst du herum, etwas wie einen unnützen Stock in den Krallen haltend. Deine Zähne sind flach, du kannst uns nichts tun. Meine Zähne sind scharf, ich kann dich mit einem Biss durchlöchern, kann deinen ganzen kleinen Körper in ein Sieb verwandeln, kann das Sieb an einen Baum hängen und durch die Löcher hindurchschauen, kann dich als Sieb den Birken übergeben, sie werden darüber lachen, werden im Kreis um dich herumtanzen, werden mich in ihrem Kreis aufnehmen und so werden wir alle zusammen lachen in alle Ewigkeit

W: (weitergerannt)

A: Dieses Wesen soll dorthin zurück, wo es hergekommen ist

K: Vielleicht ist es irgendwo ausgebrochen?

H: Ausgegraben worden?

G: Aus seinem Land?

R: Oder aus seiner Zeit?

K: Ich würde gern aus der Zeit ausbrechen

A: Ist mir eigentlich völlig schnuppe, woher es kommt, Hauptsache es verschwindet wieder, Hauptsache es macht sich endlich wieder vom Acker, mir tut schon das Gehirn weh von diesen hellen Tönen, die es tagtäglich herumpfeift, mir brummt schon richtiggehend der Schädel von dieser Frequenz. Ich grabe mich in mein Loch ein, aber das Pfeifen dringt sogar durch die Erde, dringt durch die Birkenwurzeln bis in mein Heim hinein, wo ich liege und mir die Zähne raufe, so sehr nervtötet es mich. Wenn wenigstens du bei mir liegen würdest

R: Aber es singt so schön

A: Von Singen kann hier keine Rede sein. Wenn dieses Wesen nicht bald verschwindet, dann kann ich für nichts mehr garantieren

G: Beruhige dich, es tut uns ja nichts

H: Und es war so klein

K: Und schmeckt so süss

R: Vielleicht bringt uns das Wesen endlich das Sterben bei? Ich habe keine Lust mehr auf diese Untotheit, auf dieses Warten

G: Vielleicht sind wir längst tot und merken es nicht?

H: Vielleicht starben wir jeden Tag ein bisschen, bis dass wir irgendwann ausgestorben sein würden

K: Habt ihr auch das Gefühl, die Luft flirrt gelb? Die Birken sollen sich mal ein bisschen zurückhalten mit ihrem Birkensex, bald wachsen sie auf mir drauf

A: Also, ich will mit dem Tod überhaupt nichts zu tun haben, der soll mich gefälligst in Ruhe lassen, der soll gefälligst dorthin zurückgehen, wo er hergekommen ist, also zu den Zeichnun­gen an den Höhlenwänden. Sicher nicht öffne ich dem die Tür, so doof wie der ausschaut, was ist das für eine seltsame Schürze, und auch sein Hut sieht ausgeleiert aus, und diese komischen Zähne –

H: Ich wollte auch Sex

A: Das wollen wir doch alle. Rosmarie?

R: Lass mich

H: Aber weil es das Männliche nicht mehr gab, gab es ja auch das Weibliche nicht mehr. Wenn der eine Pol ausstarb, dann war der andere endlich frei. Keine Dualität mehr. Es gab nur noch uns, die sich manchmal zusammenfanden, ineinander verschlangen, in der Dunkelheit leuchtend. Nur meine getigerte Musterung zeichnete sich gegen das Licht ab

K: Ach, diese Theorien mit männlich und weiblich habe ich schon in der Grundschule nicht kapiert

H: War ja auch lange her

G: Als ich klein war, erzählte man sich an den Feuerstellen, dass es einmal zweipfotige Wesen gegeben hatte, deren Füsse wie flache Teller waren, sie trugen keinen Panzer, sondern waren so weich wie unsere Schnäbel in unserer Brutzeit noch waren. Ihre Gehirne waren evolutionär betrachtet schon relativ gut ausgebildet, aber kaum zu vergleichen mit unseren

K: Abgefahren. Und wie hiessen die?

G: Ich glaube irgendwas mit M

H: Hatten wir es jetzt mit so einem M zu tun?

K: Und was ist damals mit denen passiert?

G: Sind ausgestorben. Waren aber auch nur sehr kurze Zeit da

K: Und warum sind sie ausgestorben?

G: Keine Ahnung, waren wahrscheinlich einfach zu blöd

R: Wieso versteckt es sich im Fels, mag es keine Geschenke?

G: Jeder mag Geschenke

R: Aber vielleicht mag es kein frisch geköpftes Eichhörnchen?

G: Leg es mal ab, vielleicht kommt es raus, wenn wir uns zurückziehen

R: Ich hatte mich so gefreut, ihm von meinem Traum von letzter Nacht zu erzählen

G: Komm, wir gehen

R: Schau, es zeigt sich doch noch

G: Warte, Rosmarie

R: Hör doch, es singt wieder

W: (in seiner für die anderen unverständlichen Sprache)

H: Tags darauf lag das Wesen reglos auf dem Boden, mitten zwischen den Birken. Ich glaube, es war Blut, das um es herum eingetrocknet war. Schön sah es aus, wie die Haarfäden um es herum verteilt, die Glieder irgendwie verdreht, als hätte es zum Fliegen angesetzt. Ich leckte einmal kurz an ihm, aber der Geschmack entzog sich allem, was ich kannte. Ich dachte, wir sind im Tod nicht alle gleich, wie man es uns Jahrtausende gelehrt hatte. Ich beschloss, den Tod zu erforschen, gerade weil es ihn nicht mehr gab. Und was wäre eine bessere Gelegenheit, als jetzt, wo der Tod uns gebracht worden war, in Form von diesem Wesen?

A: Liebe Freunde, wie uns allen bekannt ist, haben wir vor einigen Tagen ein uns unbekanntes Wesen entdeckt. Mit Geschenken und Willkommensgeschrei haben wir es zu empfangen gesucht. Wir haben uns von der schönsten Seite gezeigt. Unsere Absichten waren die allerbesten

K: Es ist jetzt flach wie Fladenbrot

A: Ruhe. Leider ist es heute morgen tot aufgefunden worden

R: TOT?

A: Es bewegt sich nicht mehr

R: ES IST TOT?

G: Vielleicht ist jemand aus Versehen draufgetreten?

H: Niemand trat AUS VERSEHEN auf andere

A: Wir können es uns nicht erklären, wir haben keine Ahnung, haben keine Indizien

G: Wir wissen auch nicht genau, was TOT bedeutet

R: Wer hat es umgebracht?

K: Wir könnten einmal schauen, zu wem die Fussabdrücke auf dem –

A: RUHE! Wir sind alle extrem traurig, aber es trifft hier niemanden eine Schuld

G: Wir sollten es dahinten im Birkenwald begraben

H: Ich fand es nicht gut, wenn wir es den Birken überlassen hätten, bald besässen die das ganze Land, wo sollten wir dann noch Platz haben?

R: Ich verstehe das alles nicht, es hat euch nichts getan

G: Rosmarie, vielleicht legst du dich erstmal ein bisschen ins Loch und ruhst dich aus?

H: Vielleicht war es einfach so gestorben? Das soll ja früher manchmal passiert sein

K: Vielleicht bringt es uns endlich den Tod

A: Seinen eigenen?

G: Unseren?

H: Hier lag der personifizierte Tod, ganz flach

A: Rosmarie, du hast dir doch auch den Tod gewünscht

R: Aber doch nicht so. Ich wollte, dass etwas passiert, ja, ich wollte vielleicht sogar sterben, aber ich habe nie gewollt, dass das Wesen stirbt. Dass es ohne mich stirbt. Dass es mich hier zurücklässt. So war es nie geplant gewesen. Ich wollte mit ihm zusammen sein, vielleicht zusammen weggehen, versteht ihr?

A: Nein

R: Ihr könnt mich gleich mit ihm zusammen bei den Birken begraben

G: Die Birken sollen euch behüten, die Birken sollen euch selig haben

A: Vergiss es

R: Oder ich nehme es zu mir ins Loch. Dann sind wir wenigstens im Tode zusammen. Gebt es mir

H: Nein. Ihr solltet sofort mit dieser religiösen Verirrung aufgehört haben. Wir hätten es natürlich zu wissenschaftlichen Zwecken aufbewahrt, auseinandergesägt, dann nützte uns das Fladenbrot wenigstens noch irgendwas. Ich hatte immer gesagt, wir müssten es erforschen

R: Nicht

A: Gute Idee

R: Gebt es mir, ich war die einzige, die es mochte

H: Ich mochte es auch

A: Nein, wir brauchen es noch, es gehört uns allen

R: Es war mein Freund

A: Ich dachte, du hast keine Freunde

R: Gebt es mir

H: Es gehörte mir, schliesslich hatte ich es tot aufgefunden, es ist höchstes Kulturgut

K: AUFSCHNEIDEN

R: Wenn ihr das tut, werde ich –

H: Dich umgebracht haben?

K: Uns töten?

A: Uns hassen?

G: Weggehen

R: GEBT ES MIR. NEHMT ES MIR NICHT WEG

K: Wo willst du denn hin? Deine Rollen sind sowieso kaputt. Du schaffst es ja nicht mal bis zum Ausgang. Und auch in den Bus wird dir niemand helfen. Ausserdem können wir ja nichts dafür, dass es jetzt flach ist

H: Das erinnert mich daran, wie ich einmal eine Tigermücke mit einem Buch zerquetschte. Ich erschlug sie auf Seite 66, indem ich das Buch einfach zusammenklappte. Sie klebte beim Wort rosarot. Dort war sie nun für immer konserviert mit ihrem schwarz-weiss gestreiften Rücken

K: Ja, lieber ein flaches Wesen als gar kein Wesen

H: Lieber ein seziertes Wesen als gar kein Wesen

A: Lieber ein totes Wesen als ein lebendiges Wesen

G: So viel gibts ja gar nicht mehr aufzuschneiden

A: Ab ins Labor mit ihm

H: Wir rissen seine Pfoten auf

A: Trennen die Haut vom Fleisch

H: Filetierten Knochen heraus

A: All die Teile, die wir nicht kennen, lösen wir aus dem Puzzle heraus

H: All die Teile, die wir nicht kannten, legten wir in Flüssigkeiten ein

A: Beschriften jedes Teilchen mit einem eigens für sie erfundenen Namen

H: Die Haarbüschel zerlegten wir zu einzelnen Fäden

A: Die Fäden legen wir einzeln aus

H: Die Krallen

A: Auch voneinander zertrennt

H: Vorderfüsse und Hinterfüsse

A: Die Augen herausschneiden

H: Die Milchhaut

G: Der Planet im Auge

H: Das Fell an den Deckeln

G: Die Sommersprossen

H: Daneben legten wir die Nase

A: Der Mund ist noch weit aufgerissen

H: Als schrie es im Tod noch weiter

A: Das Ärmste

H: Die Zähne hatten wir einzeln aufgereiht

A: Wie weiss die sind

H: Dann ein bisschen daran herumgepinselt

A: Was sind das für Hauptlappen da?

H: Man wusste es nicht

A: Man schneidet sie auch mal ab

H: Schau, wie Ornamente

A: Wir pinnen sie an eine Wand

H: Wir schnupperten an all den Teilen

A: Manche schlecken wir auch ab

H: Die Wand war jetzt wie ein Gedicht: seltsame, schöne Bilder, die zwar zu uns sprachen, aber die wir nur mit dem Herzen verstanden

K: Du, was macht eigentlich eine Historikerin?

H: Nach dem Ursprung suchen

K: Machen wir das nicht alle?

R: Meine Liebe wohnt auf der anderen Seite der Zeit. Es gibt kein Fenster, wo wir uns noch zuwinken könnten. Kein Platz, an dem wir uns noch träfen. Meine Liebe und ich sind in zwei unterschiedlichen Gesteinsschichten versteinert, so dass wir zwar über- und untereinander liegen, aber uns niemals wieder berühren. Meine Liebe und ich sind in zwei unterschiedlichen Zeitaltern geboren und gestorben. Wer gräbt uns aus, wer meisselt uns hinaus, wer führt uns wieder zusammen, wenn nicht jetzt, dann wenigstens in einer Million Jahren?

R: Ich bin gekommen, um dich umzubringen

A: Schön. Und wie willst du das anstellen?

R: Ich komme, um dir zu sagen, dass du tot bist, dass du nicht mehr da bist. Ich werde für immer so tun, als gäbe es dich nicht mehr

A: Aber warum

R: Weil du es umgebracht hast

A: Aber ich habe es nicht umgebracht, die Birken waren es

R: Woher weisst du das

A: Weil ich mir nicht vorstellen kann, dass es jemand von uns war

R: Aber du hast es gehasst

A: Ich habe es nicht gehasst

R: Dann hast du die Birken beauftragt, es umzubringen

A: Die Birken machen nicht, was ich ihnen sage, die Birken machen, was sie wollen

R: Ich weiss, dass du es warst. Ich gehe

A: Wolltest du mich nicht noch umbringen? Rosmarie? Es war ein Versehen

R: (schon weggerollt)

R: Wann holt man mich endlich ab
Manchmal weiss ich nicht
Wie lange soll ich hier noch rollen
Wartend bis zum Lunch
Der dann doch immer aus denselben
Gut kaubaren Komponenten besteht

Jetzt sinke ich wieder hinab

Ich fordere eine Untersuchung
Dieses Verbrechens
Das an mir begangen
Weil man dich mir genommen

Wenn ich nur aufstehen könnte
Wenn ich nur aufstehen könnte

K: Wir haben die Einzelteile genommen und neu zusammengesetzt. Wir haben es ausgestopft und animiert. Wir haben Sehnen und Knochen, Verbindungen und Kabel gelötet, so dass es sich nun bewegt, als wäre es echt, als wäre es lebendig. Schau, wie es pfeift, schau, wie es seine langen Haarbüschel schwingt. Wenn man sich genau davor stellt, dann schwenkt es sein Vorderbein wie zum Gruss. Krass echt, oder?

H: Wir hatten ihm sogar ein Häuschen aus Glas gebaut, eine Vitrine, hatten es ein Museum genannt, das Tod-Museum

K: Gleich da neben der Cafeteria steht es

A: Dort, wo früher der Flipperkasten stand und jetzt unsere gehäkelten Sachen verkauft werden

G: Ich hasse häkeln

K: Es gab hier einmal einen Flipperkasten?

R: Lasst es sofort gehen

K: Magst du es nicht mehr?

R: Es ist nicht echt

K: Es ist WIE echt

A: Es ist eine Kopie, ja, aber man kann es nicht freilassen, es ist nicht lebensfähig

R: Dann schaltet es wenigstens ab

K: Du meinst, wir sollen es töten?

R: Es lebt doch gar nicht wirklich. Es ist nicht einmal eine Kopie. Ihr habt alles Lebendige an ihm abgetötet, seht ihr das nicht? Ja, es schwenkt seine Vorderfüsse. Aber schaut doch einmal diesen Ausdruck in seinen Augen. Da ist doch nichts mehr. Da ist alles leer. Es ist schon wieder nur ein schlechtes Plagiat von etwas, was einmal so schön und echt war. Es ist schon wieder nur diese Schlaufe, in der ich lebe, wo alles nur ein Abklatsch von etwas viel Schönerem ist. Das Lebendige kann man nicht animieren

G: Das ist jetzt höhere Ethik

H: Ja, der Andrang war riesig. Es war eine Sensation. Alle wollten es sehen. Aus dem ganzen Land wurde angereist. Schlangen bildeten sich vor dem Museum. Wir konnten dem Tod jetzt unmöglich den Stecker ziehen

K: Jede soll etwas davon haben

H: Es ging um Wissenschaft, um Fortschritt

K: Kannst auch ein Dauerabo haben, wenn du willst

G: Nimms nicht zu schwer, Rosmarie

A: Wie viel Eintritt sollten wir verlangen?

K: Gebratene Eichhörnchen?

A: Stell dir vor, wir besitzen den Tod. Es wird das berühmteste Exponat aller Zeiten

K: Und wir haben ihn wieder zum Leben erweckt

H: DER LEBENDIGE TOD

R: Ihr seid schrecklich

A: Wenn du lieb fragst, gebe ich dir einmal eine Sonderführung, aber nicht anfassen, hörst du

K: Was ist das hier eigentlich? Ist das ein Ei?

G: Kinder, wenn ich euch so anschaue, dann hätte ich am liebsten nichts mehr mit euch zu tun. Ihr seid aus diesen Eiern geschlüpft und niemand hat mich gefragt, ob ich mich mit euch abgeben will, ob ich euch grossziehen möchte. Ihr habt einfach eure Schnäbel und Fressen aufgemacht und erwartet, dass ich da was reinwerfe. Ich finde euch ja nett und so, aber manchmal würde ich mir gerne aussuchen dürfen, mit wem ich meine Zeit, ja mein ganzes Leben verbringe

A: Ich dachte, du hättest uns AUSGESUCHT?

G: Ich hätte nie Mutter werden sollen

K: Mama?

G: Warum habt ihr das Wesen umgebracht? Warum seid ihr Bestien geworden?

A: Ich habe es nicht umgebracht, es waren die Birken

K: Mama, warum hast du uns nie etwas gesagt? Du warst ja die ganze Zeit hier. Ist das dein Ei? Ist das mein Geschwister?

A: Ich dachte ja immer, du wärst eine Art Oma

G: Ich wollte gar nie Mutter sein, ich wollte euch nicht besitzen, als wärt ihr ein Stück Land oder eine Leder-Handtasche, ich wollte einfach mit euch befreundet sein, wollte einfach, dass ihr mir zuhört, dass ihr mich ernst nehmt, aber ihr seid so grausam

K: Manchmal habe ich mir einfach gewünscht, dass jemand den Lead übernimmt, verstehst du? Dass sich jemand verantwortlich zeigt, dass mir jemand sagt, wo es langgeht

A: Sage ich dir doch

K: Ja, das NERVT

G: Manchmal kommt ihr mir so wahnsinnig fremd vor, manchmal glaube ich, ich habe euch noch nie gesehen, kenne euch gar nicht. Dann denke ich, es ist alles ein grosses Missverständnis, das sich hoffentlich bald aufklärt. Manchmal vergesse ich sogar eure Namen, vielleicht aus Protest?

A: Aber es ist doch völlig egal, wie wir heissen, Rührei, pochiertes Ei, verlorenes Ei

K: JA. Wem zum Henker gehört dieses Ei? Wer hat sich hier fortgepflanzt? Was, wenn eine Eidechse drin ist?

G: Kinder, es tut mir leid euch mitteilen zu müssen, dass ich euch jetzt für immer verlassen werde

H: Wo gingst du hin?

R: Weiss ich noch nicht

H: Interessierte es dich nicht, wer das Wesen umgebracht hatte?

R: Ich weiss, wer das Wesen umgebracht hat

H: Das glaubte ich nicht

R: Es interessiert mich nicht mehr, lass mich

H: Es interessierte dich nicht, dass ich es war?

R: Glaube ich dir nicht

H: Ich war draufgetreten. Einfach so

R: Lass mich

H: Es war so klein und ich war so gross. Ich war draufgekrochen, weil ich grade Lust dazu hatte, weil ich konnte, weil ich schauen wollte, was passiert, wenn es flach unter mir ist. Es ging ganz schnell. Es hat fast nicht geschrien oder geweint. Unter meinem Gewicht brachen alle seine Knochen und dann war es still. Es hatte mich vor allem aus wissenschaftlichen Gründen interessiert. Jetzt erlebte ich es hautnah mit. Ich werde Bücher darüber schreiben, werde Vorträge darüber halten, werde – Rosmarie?

R: (ist weggerollt)

K: Hab keine Angst, Ei. Ich werde mich um dich kümmern. (singt für das Ei)

Was spielt es für eine Rolle

Welcher Art ich angehör’

Ich gehöre niemandem

Höchstens der, die mich auserdacht

Ich nicht traute einer Seele

Die auf diesem Planeten stampfte
Über meine Freunde: Farne

Und weiteres lebendig’ Zeug
Oder wie viel Arten sollen sterben?

(Volkslied, ca. 160 Millionen Jahre nach Christus)

H: Der Himmel verdunkelte sich mit Birkenstaub. Die weissen Stämme hatten sich zu Kreisen angeordnet, uns umrundet, und kamen immer näher.
Birken, was wolltet ihr? Sie sprachen nicht, sie sprachen nicht mit uns, ihre Äste wie Säbel

K: Haben diese Bäume eigentlich nichts besseres zu tun, als die ganze Welt mit ihrem Staub zu belästigen, die ganze Welt mit ihrer Spezies zu bewuchern? Weg da!

A: Seid lieb mit den Birken, dann tun sie uns auch nichts

K: Lasst uns in Ruhe, ihr Birken! Was hängt da an ihren Stämmen? Ist das – Mama?

H: Sie war an einer Birke aufgehängt, war völlig von Ästen durchwachsen, ganz so, als hätten sich die Birken von ihr ernährt, als seien die Birken in sie übergegangen, oder umgekehrt. Ein Stück durchlöchertes Fleisch

K: MAMA

H: Sie hing ganz leblos

A: Pass auf, geh nicht näher

H: Sie rannte auf die Birken zu, stemmte sich ihnen entgegen, riss den ersten Stamm entzwei, schüttelte das ausgerissene Holz zwischen den Zähnen, drückte mit ihren massigen Flossen Äste auseinander

A: Aber die Birken sind in der Überzahl, sie beugen sich über ihr neues Opfer

H: Am Himmel standen Staubwolken wie Heuschreckenschwärme. Die Luft flirrte gelb. Meine Lungen verstopften zunehmend, das Atmen fiel schwer. Mein Husten war gelb

E: Hatschi

K: Gesundheit, Ei

A: Die Birken lassen niemanden mehr gehen

H: Schau, wie wir umfielen, wir belegten den Boden wie Steine. Und irgendwann würden die Steine zu einem einzigen verschmelzen. Über diesen Boden würden sie drüberwachsen, die Nächsten und die Übernächsten. Rosmarie? Wo bist du? Das hätte ihr gefallen, es sah nämlich aus wie –

A: Ich sterbe

H: Ich sah nur noch Silhouetten um mich herum. Obwohl ich nach euch rief, bekam ich keine Antwort. Der Staub legte sich über mich, verstopfte meine Gehörgänge, ich ruderte mit den Gliedern, aber fand keinen Halt mehr, sondern versank langsam im Gelb wie in Sand

Und wenn ich falle
So ist es ein Fallen in langsam
Donnert erst meine schwere Mitte
Dann meine alle Viere
Dann peitscht der Schwanz ins Leere
Zuletzt der Kiefer kracht aufs Epizentrum:
Boden

(anonym, ca. 150 Millionen Jahre nach Christus)

R: Ich werde gegen das Vitrinenglas treten, welches zerbersten wird. Das Wesen wird hell pfeifen und so binde ich es los, trenne Kabel und Drähte und hieve es hinaus, lege stattdessen ein Feuer in der Vitrine, welche innert Sekunden in Flammen steht, und es wird alles niederbrennen, die ganze Cafeteria, die Tische und die Stühle, die Küche und die Esswaren. Dann springt das Feuer auf die Bibliothek und den Aufenthaltsraum über, auf die hellgelb gestrichenen Gänge. Alles wird brennen. Das Wesen und ich werden dem Lichtspektakel ein wenig zuschauen, aber dann werde ich es auf meinen Rücken schwingen, und werde sagen, halt dich fest, Freund, und galoppiere los, werde einfach loslaufen in den Gelbstaub hinein, und immer weiter, bis er sich über unsere Augen und Münder legen wird, so dass wir nicht mehr sehen werden, nicht mehr sprechen werden, bald wird man uns nicht mehr unterscheiden können vom Gelb, in dem wir einfach immer weiterreiten

Nachwort einer Birke:

Seit Jahrzehnten faszinieren uns die Textfragmente der Dimos (vor der 181. Lautverschiebung Dinos), welche im Staub über Jahrtausende konserviert wurden und bis heute als eins der ältesten Wort-Exponate der Welt gelten. Der Text wurde schon in verschiedensten Versionen von etlichen Bäumen übersetzt, erforscht oder aufgeführt. Seine Interpretation hält uns wach, weil er uns noch immer vor so viele Rätsel stellt. Wir suchen seit jeher im Gestein nach den Wesen, die uns im Text und der dazu gehörenden Welt begegnen, hoffen auf weitere Relikte, die uns Aufschluss darüber geben könnten, wer sie waren, warum sie starben, und von wo letztendlich wir abstammen. Aber das Graben führt nirgends hin: Wir haben nur dieses fragmentarische Textstück, mit dem wir all unsere Fragen stillen müssen. Standen wir im Krieg mit den prähistorischen Dimos? Welche Bedrohung ging damals von uns aus? Inwiefern hat unsere Art die Dimos verdrängt? In unserer sozialen Ordnung spielen (Bluts-)Verwandtschaft, Familie oder das Matriarchat als Regierungs­formen längst keine Rolle mehr, umso mehr faszinieren uns die Erinnerungen an diese untergegangene Ära. Die Ära der Dimos war eine Ära des Übergangs, des Loslassens, eine Zeit der Enden, während wir in einer Welt der Anfänge wachsen.

Ihre Begegnung mit dem, was wahrscheinlich vor den Dimos gewesen war (Mensh), versetzte sie wiederum in ein produktives Nachdenken über ihre eigene Spezies und deren Ursprung. Mit dem Mensh vor Augen traten sie den Untergang an. (Wobei dieser Theorie gewisse Birken vehement widersprechen. Es gibt auch die These einer Versklavung von Dimos durch die Birken, dazu fehlen aber eindeutige historische Quellen. Auch das hier vorliegende Textfragment ist in dieser Hinsicht mehrfach deutbar.)

Ergänzung: Über die Autorin des Fragments wissen wir leider nichts Genaueres. Wir gehen von einem Kollektiv an Verfasserinnen aus oder einer wankelmütigen Einzeldimo. Wenn wir den Text als historische Quelle begreifen, so ist davon auszugehen, dass dessen Autorin als eine der wenigen überlebt hat. Andererseits könnte es auch die blanke Literarisierung einer Dystopie, sprich alles komplett erfunden sein, zum Beispiel durch die Bewohnerin eines Altenheims*.
(5/9. Baum, Familie 430. 23 Quatronen, Plak)

* Ort, wo gewisse frühere Arten sich kurz vor dem Ableben tummelten

© Felix Bloch Erben GmbH & Co. KG
Gefördert mit Mitteln des Deutschen Literaturfonds.

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