Theater der Zeit

II. Kostümbildnerinnen und Kostümbildner im Gespräch

Du kannst gar nichts falsch machen

Ein Gespräch mit Dagmar Niefind

von Dagmar Niefind

Erschienen in: Lektionen 6: Kostümbild (06/2016)

Assoziationen: Kostüm und Bühne Schleswig-Holstein Akteure

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Dagmar Niefind, Sie stammen aus Lübeck. Wie gestaltete sich Ihr Weg zum Kostümbild?

Das Lübecker Stadttheater spielt eine wichtige Rolle in meinem Leben. Aufgewachsen bin ich im Haus meiner Großeltern, das etwas außerhalb von Lübeck liegt. Meine Großmutter hatte als Einzige in unserer Familie ein Theaterabonnement. Wenn sie abends ins Theater ging, hat sich diese einfache Frau, die wunderbare Marmeladen kochen konnte, vollkommen verändert. Sie hat sich ein bisschen gepudert und Lippenstift aufgetragen, hat sogar Parfum getragen, was sie sonst nicht mal an Weihnachten tat. Dann hat sie ihr Hütchen aufgesetzt und das Reclam-Heftchen in die Tasche gesteckt. Ihre Verwandlung und ihre Freude zu sehen war für mich als Kind unglaublich aufregend und schön. Später, ich war acht oder neun, durfte ich still dabeisitzen, wenn meine Großeltern die Opernübertragungen aus Bayreuth im Radio gehört haben. Ich hatte natürlich keine Ahnung, was da verhandelt wurde, aber die Atmosphäre, die dann in diesem Raum herrschte, war eine ganz besondere. Ich habe den ganzen Wagner auf diese Weise gehört und es sehr genossen, weil sie es genossen haben. Als ich dann 15 oder 16 war, bekam ich selbst ein Abo und habe sehr viel im Lübecker Theater gesehen. Ich fand die Inszenierungen aber unglaublich spießig und dachte nicht, dass ich unbedingt zum Theater gehen muss.

Welchen Berufsweg haben Sie dann gewählt?

Meine Mutter hat alles selber genäht, wie das eben normal war in den 1950er Jahren. Sie hat für mich und meine Schwester immer die gleichen Schnitte gemacht, die fand ich natürlich furchtbar. Aber sie hat uns beigebracht zu nähen. Später habe ich eine Ausbildung begonnen in der Armgartstraße in Hamburg, wo es damals eine tolle Werkkunstschule gab. Ich habe vier Semester lang grundlegendes Handwerk gelernt, wirklich jede Taschenverarbeitung, jede Kragenverarbeitung, Aktzeichnen, Schnittzeichnen. Anschließend konnte man ein Lehrjahr machen in einer Couture-Werkstatt in Hamburg-Eppendorf, wo diese ganzen reichen Damen sich damals noch ihre Kleider haben nähen lassen. Das war eine tolle Ausbildung und ganz im Sinne meiner Mutter, die wollte, dass ich was Richtiges lerne.

Wie kamen Sie dann doch zum Theater?

Das war so verrückt in meinem Leben. Ich glaube, ich habe sehr viel Glück gehabt. Die Türen haben sich immer im richtigen Moment geöffnet. Ich bin dann von Hamburg nach Düsseldorf auf die Modeschule gegangen, um Directrice zu werden. Dort merkte ich, dass Mode ja gar nicht das Richtige für mich ist. Aber ich hatte einen ganz wunderbaren Zeichenprofessor. Ich habe immer zu große Hände und Füße gezeichnet, nie diese eleganten langen Beine. Er sagte, in der Mode wirst du damit gar nichts, du musst zum Theater gehen. Eine Freundin aus der Hamburger Zeit ging als Gewandmeisterin an die Schaubühne. Sie sagte, du, wir haben so irrsinnig viel zu tun und in drei Wochen ist Premiere, du musst unbedingt kommen als Zuschneiderin. Und da ich mein Studium auch irgendwie finanzieren musste, bin ich eben in den Semesterferien an die Schaubühne gegangen. Ich kam in diese Schneiderei und sah die Figurinen für Geschichten aus dem Wiener Wald von Moidele Bickel. Der Blitz schlug ein: So soll Theater aussehen. Meine Eltern fragten: Bist du ganz sicher? Ich sagte: Ich bin hundertprozentig sicher. Es ist toll, wenn einem so etwas begegnet im Leben und es keine Fragen mehr gibt. 

Was war für Sie das Besondere an der Schaubühne, die Arbeit in der Schneiderei, die Figurinen von Moidele Bickel, die Atmosphäre im Haus oder das, was auf der Bühne passierte?

Es war das Ganze. Es war eine winzige Schneiderei: Es gab einen Herrengewandmeister und drei Herrenschneider und eine Damengewandmeisterin und nur eine Damenschneiderin und dann ich und noch ein paar Leute, die dazukamen. Wir waren wirklich eine ziemlich eingeschworene Mannschaft, und wenn man dabei war, selbst als kleine Anfängerin, war man dabei. Und das spürte man auch. Ich hab so viel gelernt damals. Als ich dann in Düsseldorf fertig war, ging ich 1974 zu Martin Rupprecht an die UdK in Berlin, um Kostüm zu studieren. Eigentlich wollten die mich auch an der Schaubühne fest haben, aber das wollte ich nicht, weil ich gerne Kostümbildnerin werden wollte und noch einige Sachen lernen musste. Aber es war sehr spannend, diese ganzen Schaubühnenprojekte mitzumachen. Ich konnte auf allen Proben sitzen. Ich bin jetzt noch auf jeder Probe – das ist ja kaum eine Kostümbildnerin –, weil mich der Text interessiert. Ich bin am Theater, weil ich Text liebe, weil ich Musik liebe und weil ich dabeisein möchte. An den Probenkostümen sieht man ja schon, ob etwas funktioniert oder nicht. Man spürt, wie sich der Schauspieler damit bewegt, was das für eine Szene ist, vor welcher Wand, vor welcher Farbe sie stehen usw. Um eine Konzeption zu machen, muss man sehr genau wissen, wie Schauspieler funktionieren. Und dann natürlich: Einen Grüber oder auch einen Stein auf Proben zu erleben – das würde ich heute noch jedem wünschen, weil das einfach bei Peter Stein ein ganz tolles Handwerk war und beim Grüber eine solche Magie hatte. Ich glaube, dieses intuitive Wahrnehmen dessen, was da passiert, hat mich am allermeisten am Theater fasziniert. Das ist einfach ein riesiges Geschenk, an die Schaubühne zu kommen und solche Schauspieler zu sehen. Bruno Ganz kann man fünf Stunden lang zugucken und es ist immer noch spannend. Oder Edith Clever.

Was war das Besondere an den Kostümen der Schaubühne?

Ich finde, gerade Moidele Bickel hat jetzt wirklich mal eine Ausstellung verdient, weil sie die einzige Kostümbildnerin ist, die andere Kostümbildnerinnen ausgebildet hat. Wir haben irrsinnig viel von ihr gelernt. Wir sind ja sechs oder acht Frauen, die alle eine Karriere gemacht haben. Das finde ich einfach toll und dazu muss man auch mal Danke sagen. Es war großartig, was sie da vermittelt hat – nicht intellektuell, sondern man durfte ihr einfach über die Schulter schauen und zusehen, wie eine Figurine entsteht. Sie hat ja einfach wunderbar gezeichnet. Moideles Kostüme sind in die Abstraktion gegangen. Den psychologischen Moment einer Figur hat sie mit einer großen Klarheit deutlich gemacht, ohne den Schauspieler einzuengen. Als ich diese erste Figurine sah, habe ich gespürt, dass das inhaltlich gestimmt hat. Es war nicht historisch präzise oder wahnsinnig kompliziert, sondern es hatte eine große Klarheit. Für die Oper ist das ganz wichtig. Wenn man nicht ein Konzept hat, das wirklich klar ist, dann funktioniert es nicht. Deswegen habe ich von Moidele in der Beziehung viel mitnehmen können.

Brauchten Sie denn die Ausbildung überhaupt noch?

Ja, die Ausbildung war wichtig, weil ich nochmal Kunstgeschichte studiert habe. Und ich bin richtig zum Zeichnen gekommen, habe Akte und Figurinen gezeichnet. Das habe ich ja auch bei Moidele gesehen, Zeichnen ist ganz wichtig. Gerade Figurinen für eine Oper, das geht gar nicht ohne Zeichnungen. Dass du gut zeichnen kannst, heißt ja, dass du auf dem Papier die Figurine formulierst. Du formulierst das Kostüm. Du denkst auf dem Papier. Und dann kannst du es mit der Schneiderin oder dem Regisseur besprechen. Ausgeschnittene Bildchen aus einer Modezeitschrift – das kann es nicht sein. Für mich. Aber ich bin ja auch ein Dinosaurier.

Sie haben dann sehr oft mit Klaus Michael Grüber gearbeitet.

Grüber hat mir solche Geschenke gemacht, schon in den Anfängen. Die Winterreise im Olympiastadion war unsere erste Zusammenarbeit. Ich hab dem Grüber gesagt: Klaus, ich kann das gar nicht. Und dann kam dieser Mann zu mir – ich war 24 – und sagte: Du kannst gar nichts falsch machen. Ich meine: Wer sagt einem das? Und seitdem hatte ich das Gefühl, dass ich bei ihm auch nichts mehr falsch machen konnte. Er wusste, dass ich ihm genau zuhöre, dass ich da bin, auf jeder Probe, von Anfang bis Ende. Die Art, wie er gearbeitet hat, hat mich emotional sehr berührt, wir haben nie intellektuell über irgendeine Figurine gesprochen. 

Wie lief denn die Probenarbeit ab?

Mit dem Grüber war es a-intellektuell. Ja. Wir spürten uns. Er spürte, dass ich das, was er macht, verstehe. Das war für ihn ganz wichtig. Das ist nicht ein intellektuelles Verständnis, sondern ein emotionales. Ich brachte Probenkostüme mit, möglichst viele und möglichst auch unterschiedliche, und konnte sagen, in welche Richtung ich gehen möchte. Ich konnte nichts falsch machen. Beim Stein war es das Gegenteil. Da habe ich immer alles falsch gemacht, deshalb hatte ich auch kein Vertrauen.

Und wie sprachen Sie darüber auf den Proben?

Gar nicht. Wir haben nur geflirtet. Es war humorvoll, lustig, sehr zärtlich, sehr erotisch auch, sehr nah … Ich hab ihn wahnsinnig gemocht. Gerade bei der Winterreise und auch bei Rudi gab es eine Atmosphäre, die sehr dicht war. Einer zaubert und du darfst die Bälle auffangen. Oder du darfst kurz was machen und er freut sich, dass du das jetzt aufgehoben hast oder dass du dabei bist und das interpretierst in der Art, dass er sagt: Ja, das stimmt. Und das hat er mir immer zu verstehen gegeben. 

Später, bei der Berénice in Paris 1984, habe ich etwas ziemlich Heftiges gemacht. Ich habe die ganzen Kostüme außerhalb der Werkstätten aus gestricktem Jersey anfertigen lassen. Die Schneider in dieser Firma wurden extrem nervös, weil sie dachten, dass sich das überhaupt nicht tragen lässt. Sie passten noch irgendwelche Sachen ein, damit das irgendwie Halt bekommt. Auch die ganze Comédie-Française war aufgeregt. Da hat mich Klaus einmal zur Seite genommen und gesagt: Du, Dagmar, ich hör da immer sowas. Was machst du denn? Du lässt das alles stricken? Er blieb ganz ruhig. Ich hab das Ganze mit viel Mut und Kraft durchgestanden. Dann war die große Kostümprobe. Das war wie ein Wunder: Dieses Jerseykleid hing da auf dem Bügel und sah natürlich nach gar nichts aus. Es war ganz hell, mit einem Goldton drin, schön in Streifen gestrickt. Dann zog die Darstellerin der Berénice das an und hatte plötzlich eine Aura, dass man einen Schritt zurücktrat. Sie stand ganz gerade, sie wurde eine Königin. Sie sah hinreißend aus. Alle waren begeistert. Das hatte keiner geahnt. Ich habe das nur gesehen, weil ich sie eben auf den Proben gesehen hatte und wusste, das wird gut sein. Man braucht sehr viel Mut, aber ich war auch noch jung. Heute würde ich das gar nicht mehr machen. Das war kein Kostüm im Sinne von Kostüm-Kostüm, das war nur eine irrsinnig schöne Frau mit einer Aura.

Dann kamen die Modezeitschriften und wollten Interviews haben. Plötzlich was das der Hit! Das ist natürlich schön, wenn dann das ganze Theater kommt und sagt: Ja, so kann man vielleicht auch Kostüme machen. Die sind ja sehr altmodisch, aber sie haben natürlich auch eine wunderbare Tradition. Die Berénice ist 1670 uraufgeführt worden. Könnt ihr euch vorstellen, dass sie alle Figurinen von allen Inszenierungen bei sich in der Bibliothek haben? Das waren ungefähr 28 Mappen. Ich wurde gefragt, ob ich mich inspirieren lassen wollte, und konnte mir alles angucken. Und es war selbstverständlich, dass meine Figurinen auch dazukommen. Das ist etwas, dass es in Deutschland gar nicht mehr gibt. Das hat mich sehr berührt, das muss ich sagen. Ich fand das schön, in einer Reihe zu stehen und man sagt: Dann haben wir das zum 29. Mal inszeniert und da hat das so ausgesehen. 

Wenn Sie Grüber als jemanden beschreiben, der nicht intellektuell inszeniert, sondern mit Instinkt und Gefühl, stellt sich mir die Frage, wie man sowas in Stoffe, Materialien überträgt.

Es gibt von Grüber immer ein paar Stichworte. Das war zum Beispiel beim Lear so. Er sagte: Alles aus Pelz und ganz alt, aber ganz heutig. Das reicht. Mehr sagt er nicht. Und das sagt er dann eben etwas alkoholisiert abends um elf. Damit kann ich aber was anfangen, weil ich ihn so gut kenne. Beim Lear sagte er zum Beispiel auch: Alle die gleiche Frisur. Da wusste ich aber, so kann man das nicht machen und habe es ein bisschen verändert. Er sah das dann auf der Probe, drehte sich zu mir um und sagte: Danke, Dagmar. Man möchte ja selber, dass es stimmt. Dafür braucht man irrsinniges Vertrauen zueinander.

Entsteht das Kostüm in den sechs oder acht Wochen Proben? Aber wie geht das dann mit der Werkstatt? Man wünscht sich immer, dass man relativ lange ausprobiert, hat aber nur bedingt Geld zur Verfügung und kann nicht einfach ins Blaue produzieren.

Wir haben An der großen Straße parallel zu den Drei Schwestern gemacht. Die Drei Schwestern war die A-Produktion und wir waren die B-Produktion. Das heißt, ich hatte niemanden, ich hatte keine Werkstatt, keinen Schneider, nichts. Da bin ich auch mal zum Grüber gegangen und hab gesagt: Ich weiß nicht, wie ich das schaffen soll. Keiner will irgendetwas machen. Er sagte dann einfach: Du, das ist das Stück. Ich hab zu ihm gesagt: Ich hab’s verstanden, Klaus, ich mach es alles selbst. Und das habe ich dann auch. Ich habe alles aus dem Fundus oder aus dem Stofflager geholt und selbst genäht. Die ganzen Stoffe hab ich selber entfärbt und neu gefärbt. Sobald ein Kostüm fertig war, ging das sofort auf die Bühne und ich sagte: Klaus, das ist jetzt das Original. Da sagte er: Wunderbar. Manchmal war das Probenkostüm so schön abgenutzt, dass er sagte: Dagmar, das bleibt so. Ich war ja immer auf der Probe. Er war so einfach. Ich kannte die Schauspieler so gut, das mögen sie. Auch das Haus, die Werkstätten, den Fundus zu kennen ist wichtig. Diese Schaubühne war einfach mein Zuhause. Ich hab irrsinnig geackert in den Jahren mit dem Grüber. Später kam ich dann an eine Grenze, auch weil ich ein Kind bekam, wo ich sagen musste: So schaff ich das nicht mehr. 

Haben Sie mit anderen Regisseurinnen und Regisseuren anders gearbeitet? 

Andrea Breth hat auch von Anfang an unglaubliches Vertrauen zu mir gehabt, weil ich eben immer auf den Proben bin. Die spüren ja, dass ich das sehe, was da ist und was vielleicht gar nicht geht. Das ist natürlich auch jetzt wunderbar, wo ich mit meinem Mann [der Regisseur und Bühnenbildner Marco Arturo Marelli] Opern mache. Ich bin nicht sicher, ob ich jemals anders hätte arbeiten können. Das muss ich ganz ehrlich sagen. Das war ein gewachsener Prozess – mit Werkstatt, mit Schauspielern, mit Regisseuren. Es war nie schwer oder mühsam. 

Und die Arbeit beim Film?

Ich habe meinen Abschluss 1979 an der UdK bei Martin Rupprecht mit der Blechtrommel von Volker Schlöndorff gemacht. Ich habe ihm die Figurinen für Die Blechtrommel hingehängt und in dem Monat bekam der Film auch den Oscar. Martin sagte nur: Ach, da können wir dir ja jetzt keine schlechte Zensur mehr geben. Das war sehr lustig. Ich hätte eine richtige Karriere beim Film machen können. Es war ein Riesenerfolg, ich hätte wirklich nach Hollywood gehen können. Nur hat mich das eben nicht interessiert. Ich finde es künstlerisch nicht spannend. Beim Film heißt es einfach nur, heute wird die und die Szene gedreht. Ich habe einen Fundus und ziehe diesen Menschen an. Die Sachen sehe ich dann erst ein Jahr später, das ist das Schlimmste. Ich durfte ja nicht mal durch die Kamera gucken, was ich gerne getan hätte. Nein, das ist ein Heiligtum. Die Kostümbildnerin darf nicht durch die Kamera gucken. Das waren Erfahrungen, nach denen ich gesagt habe: Kinder, macht euer Zeug doch alleine. 

Heute arbeiten Sie ausschließlich für die Oper?

Ich könnte mir nicht mehr vorstellen, fürs Schauspiel zu arbeiten. Ich kenne nicht mehr die Schauspieler, die ich so spannend finde, dass ich da drei Monate draufgucken möchte. Das muss ich ganz ehrlich sagen. Aber für Sänger zu arbeiten ist ein ganz großes Geschenk. Die ziehen das Kostüm an und sind dann in der Rolle. Die reisen ja derartig viel herum. Die großen Sänger, die singen ja in fünf verschiedenen Inszenierungen quer durch Europa. Wenn sie das Kostüm anhaben, dann wissen sie auch die Inszenierung. Das ist ganz interessant.

Wie laufen die Vorbereitungen für die Oper?

Es gibt einen viel größeren Vorlauf. Man muss ein Jahr im Voraus die Figurinen abgeben. Gerade an diesen großen Opernhäusern – Stockholm, Helsinki oder wo wir überall arbeiten. Die großen Sänger sind nur zu ganz bestimmten Terminen da, um die Anprobe zu machen. Das heißt, man muss sich völlig im Klaren sein, was man will, man kann überhaupt nichts mehr ändern. Für die Regie sind drei Wochen da. Danach kommen die ganzen musikalischen Proben, technischen Proben etc. Da musst du unglaublich gut vorbereitet sein. Deswegen ist es toll, wenn man mit dem eigenen Mann arbeitet. Wir sitzen gemeinsam am Modell und überlegen uns genau, wo, wann, wie, welche Farbe. Jede Szene wird hundertprozentig vorher gedacht und fotografiert. Das ist eine sehr kämpferische Auseinandersetzung. Aber wenn es dann den Raum hier verlässt, dann sind wir uns auch einig. Das ist ja ein ganz wichtiger Punkt. Wir würden nie coram publico noch streiten. Das haben wir zu Hause gemacht. Wir machen das ja schon seit dreißig Jahren zusammen.

Bedeuten die eng getakteten Vorbereitungen für die Oper nicht auch eine künstlerische Einschränkung?

Das stimmt, aber nur die Oper hat die Musik. Anderthalb Jahre ist man nur mit dieser Oper beschäftigt, hört sie immer wieder auf CD, und dann kommen endlich die großen Orchesterproben mit den Sängern, die dann das erste Mal aussingen – das ist es dann für mich. Zuletzt haben wir in Kopenhagen Die Zauberflöte gemacht. Als auf der Probe die Königin der Nacht ihre Arie am Klavier aussang, haben alle geheult. Wir mussten die Probe unterbrechen. In solchen Momenten weiß man, warum man an der Oper ist. Für mich ist das einfach ein Geschenk. 

Würden Sie einem jungen Menschen heute empfehlen, eine Ausbildung zu machen?

Unbedingt. Das ist ganz viel Handwerk. Es gibt ja Beispiele, dass Leute Quereinsteiger sind, was ich total okay finde. Die sind ja auch toll, weil sie sich nochmal anders anstrengen müssen. Aber eine Ausbildung halte ich für ganz wichtig. Für das Filmkostüm muss man wirklich eine gute Ausbildung haben. Für die Oper ist das auch notwendig. Beim Schauspiel ist es allerdings für jemanden, der nur Kostümbild macht, schwierig, einen Job zu kriegen.

Sie haben auch gelehrt. Das heißt ja auch, dass man sich der Generation, die da heranwächst, um neu zu denken, anders zu denken, anders Theater zu machen, öffnen muss. Wie war denn das für Sie?

Ich hab zehn Jahre unterrichtet, ich hatte eine halbe Gastprofessur an der UdK, und habe richtiges Handwerk unterrichtet: Epochenstudium 17., 18., 19. Jahrhundert. Die Studenten hatten von Kulturgeschichte keine Ahnung. Man musste bei null anfangen. Nehmen wir zum Beispiel das Biedermeier, das aus der Napoleonischen Zeit mit ihren vielen Kriegen entstanden ist. Das kann man ja nur kapieren, wenn man weiß, was vorher war. Deshalb ist das Epochenstudium eben so wichtig. Dann kann man den historischen Bogen spannen und weiß, dass da etwa eine bürgerliche Gesellschaft herangewachsen ist, die sich abgrenzen wollte von der Adelsgesellschaft. Das muss man einordnen können, wenn man sich etwa mit den Kostümen für ein Stück von Marivaux beschäftigt. Natürlich kann man immer sagen, das machen wir alles heutig. Das ist ja überhaupt nicht die Frage. Ich gehe aber stark davon aus, dass es in der Geschichte eine Pendelbewegung gibt. Das Pendel bewegt sich auch wieder zurück. Momentan habe ich das Gefühl, dass historische Kostüme auch wieder gewollt werden. Das viel größere Problem ist allerdings, dass bei den Theatern irrsinnig gespart wird und es kaum noch eine Chance gibt, dass in den Häusern Kostüme hergestellt werden. Deshalb wird fast nur noch gekauft. Wenn man das alles abbaut und sagt, das brauchen wir nicht, gibt es aber irgendwann die Leute nicht mehr, die das können. Das finde ich schwierig, gerade für die Jungen. Dann müssen sie wieder selber nähen.

Dagmar Niefind, geboren 1950 in Lübeck, studierte in Hamburg, Düsseldorf und Berlin. Ihre ersten Kostümassistenzen absolvierte sie an der Schaubühne am Halleschen Ufer in Berlin. Es folgten erste selbstständige Arbeiten für Peter Stein (Trilogie des Wiedersehens, 1978) und Klaus Michael Grüber (Winterreise, 1977, Faust, 1982, Lear, 1985). Sie arbeitete international u. a. an der Comédie-Française mit Grüber (Berenice, 1984), am Wiener Burgtheater mit Andrea Breth (Der zerbrochne Krug, 1990, Emilia Galotti, 2002, eingeladen zum Berliner Theatertreffen), an der Opéra Bastille mit Pierre Audi (La Juive, 2007). Niefind stattete Volker Schlöndorffs Filme Die Blechtrommel (1979) und Die Fälschung (1981) aus. Seit 1986 arbeitet sie vorwiegend gemeinsam mit ihrem Ehemann, dem Regisseur und Bühnenbildner Marco Arturo Marelli, für die Oper u. a. in Paris, Wien, Hamburg, London, Tokio, Helsinki, Kopenhagen, Madrid, Dresden und Graz. Dagmar Niefind lebt in Berlin.

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