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Neues Ufer Neuer Zirkus
Die Berliner Ballettschule und Schule für Artistik öffnet sich neuen Zirkusformen
von Tom Mustroph
Erschienen in: Theater der Zeit: Sterne über der Lausitz – Die Schauspielerinnen Lucie Luise Thiede und Susann Thiede (03/2022)

Neuer Zirkus ist im Kommen, sogar in Deutschland. Und da auf allen Ebenen. Die bislang vor allem der tradierten Artistik verpflichtete Staatliche Ballettschule Berlin und Schule für Artistik öffnet sich für die neue Zirkusform und schließt perspektivisch eine gravierende Ausbildungslücke. Damit kann die Schule, in der bis vor Kurzem der Ballett-Zweig noch als der wichtigere galt, der aber wegen der Querelen um die frühere Leitung in den letzten Jahren massiv in Verruf geriet, einen Weg in eine nicht belastete Zukunft finden. In Bochum basteln Enthusiasten des „Open Space“, einer ursprünglich für die Street Art Szene von Biking, Tricking und Parkour etablierten Trainingshalle, gar an einer Ausbildungslaufbahn von Regelschule bis zur Universität für Artisten. Die akademische Stufe soll mit der Folkwang Universität der Künste entwickelt werden. Parallel bekommen kleinere Spielstätten wie das Berliner Chamäleon, das Jahre lang bereits der neuen Kunstform eine Bühne gab, Flankenschutz durch größere Institutionen. Der scheidende Berliner Festspiele-Intendant Thomas Oberender holte Cirque-Nouveau-Produktionen zumindest sporadisch ins Programm. Die Berliner Volksbühne stellte ihren Neuanfang unter René Pollesch sogar ganz unter das Zeichen des Zirkus. Sie bemühte allerdings eher die Assoziationen des tradierten Zirkus, mit Zelt, rollenden Wägen und fahrendem Volk. Aber immerhin. Und der deutsche Ableger der französischen Dachorganisation Territoires de Cirque, die weltweit im November eine dreitägige Nacht des Zirkus in Anlehnung an die Fête de la Musique einführte, organisierte im letzten Jahr unter dem Label „Zeit für Zirkus“ bundesweit Aufführungen und Workshops in 13 Städten.
Dort konnte man erahnen, welches Potenzial die Kunstform hat. In der autobiografisch inspirierten Kölner Produktion „٣x Eva“ etwa zeigten die Artistinnen Laura Runge, Rahel Gieselmann und Yolande Sommer, welche Bilder von Weiblichkeit Zirkus, Ballett und Turnen erzeugen, wie elementar dabei die sexuelle Aufladung dieser Bilder und wie fließend die Grenze zum Missbrauch ist. Ein Apfel hängt hoch in der Manege als symbolisches Ziel der drei Evas. Sie versuchen, die antike Schönheitsprämierungsfrucht zu erreichen. Runge, der dies gelingt, nimmt sie, klemmt sie zwischen ihre Beine und vollführt am Trapez zahlreiche Schwünge und Figuren, ohne dass der Apfel dabei zu Boden fällt. Mit ihrer in vielen Jahren Training errungenen Gewandtheit gelingen ihr sehr eindrückliche Bewegungssequenzen zu den Themen Leistungsbereitschaft und Leistungszwang in der Körperkunst, über die Anstrengungen, konventionelle Weiblichkeit herzustellen sowie über die Rebellion dagegen.
Einen anderen Weg schlagen die gelernten Jongleure Christoph Rummel und Benjamin Richter ein. Rummel operierte ebenfalls in Köln mit weißen Kugeln, die er in weißen Würfeln mal verschwinden ließ, sie mal zu Figuren türmte und sie auch Flugfiguren in der Luft unternehmen ließ. Es handelt sich um eine Hybride aus Jonglage, Magie und Choreografie mit Objekten. Richter, ein in England ausgebildeter Jongleur, der jetzt in Berlin lebt, erkundet die Bewegungsqualitäten von so ungewöhnlichen Objekten wie Weingläsern und Steinen oder weißen Stelen, die in Galerien als Stützen für Vitrinen und Displays benutzt werden. Er betreibt seine Studien zur „Language of Objects“ nicht nur künstlerisch wie in seiner Produktion „Taktil“, sondern auch wissenschaftlich. Er lehrt und forscht am Artistikbereich der University of the Arts in Stockholm.
In den skandinavischen Ländern und in Frankreich, wo einst Jérôme Savary mit seinem Le Grand Magic Circus Furore machte, ist der neue Zirkus längst etabliert, von Schulen über Spielstätten, Förder- und Residenzprogramme bis hin zur Promotionsmöglichkeit. „Neuer Zirkus entstand in den 1970er Jahren in Frankreich, parallel zu 1968. Die jungen Kreativen zu der Zeit stammten nicht aus Zirkusfamilien, sie waren gegen Normen und Konventionen, und gegen die kapitalistische Gesellschaft. Ihnen ging es nicht mehr um immer mehr und immer höher, sondern um andere Erzählformen und künstlerische Ausdrucksmöglichkeiten“, erzählt Alice Greenhill, selbst aus Frankeich stammend und im letzten Jahr Mitorganisatorin von „Zeit für Zirkus“, Theater der Zeit. Sie bedauert, dass Jugendliche, die hierzulande Feuer für diese Kunstform gefangen haben, ins Ausland gehen müssen, wenn sie ihre Leidenschaft zum Beruf machen wollen.
Diesem Mangel möchte die Berliner Artistenschule in Zukunft abhelfen. „Man sieht, dass ein Markt da ist. Schule ist natürlich ein schwerer Tanker, aber wir versuchen, die Bewertungskriterien umzuschreiben und die relevanten Ausbildungsbereiche für den zeitgenössischen Zirkus einzubeziehen“, erzählt Jens Becker, Artistiklehrer an der Schule, Theater der Zeit. Die Schule ist dafür prädestiniert; es handelt sich um die Staatliche Schule für Ballett und Artistik. „Das Gute ist, dass wir alles im Haus haben, was es braucht. Wir haben im beruflichen Gymnasium noch das besondere Profil ‚Tanz Theater Theorie‘. Das kann man nutzen. Wir haben die Fachrichtung Bühnentanz, für den klassischen Tanz, aber auch modern und contemporary. Und wir haben Lehrkräfte in der Artistik, von denen einige sich bereits aus eigenem Interesse weiterbilden, um selber zeitgenössisch unterrichten zu können. All das können wir zusammenfügen“, meinte die neue Schulleiterin Martina Räther zu Theater der Zeit.
Für die Schule, die in den letzten Jahren vor allem wegen Missbrauchsvorwürfen und harschen Konflikten zwischen mittlerweile ehemaliger Leitung und einzelnen Lehrkräften in den Medien war, könnte die inhaltliche Annäherung der beiden Ausbildungsbereiche den Aufbruch zu einem neuen Ufer bedeuten. Neuer Zirkus bedeutet auch neue Chancen. //