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Mein Vater starb irgendwo zwischen zwei Bewegungen
Zum Tod der Tänzerin und Choreografin Trisha Brown
Erschienen in: Theater der Zeit: Playtime! – Der Theatermacher Herbert Fritsch (05/2017)
Das choreografische Werk von Trisha Brown steht für die radikale Erforschung der Grenzen zeitgenössischer Tanzkunst, kann gelesen werden als eine Art ästhetischer Grundlagenforschung mit den Mitteln von Körper, Bewegung und den Beziehungen zwischen den Tänzern, zwischen Tanz und Raum, zwischen Tanz und Leben – und ist zugleich eine Provokation des Möglichen beziehungsweise des Unmöglichen.
In „Man Walking Down the Side of a Building“ von 1971 schreitet ein Tänzer die Fassade eines Hochhauses herunter. Trisha Brown öffnet die Vertikale für den Tanz, vergleichbar den Recherchen Marcel Duchamps in der bildenden Kunst zur vierten Dimension. Sie sucht einen Nullpunkt des Tanzes, stellt alles infrage; die Bühne, das Theater, die Tanztechnik, die Musik, die dramatischen Strukturen, die Grenze zwischen Kunst und Alltag. In „Roof Pieces“ (1973) verlagert sie ihre choreografische Arbeit auf die Dächer New Yorks, in Lofts und Appartements, indem sie mehrere Blocks bespielt. Es entstehen Choreografien ohne Tanz, ohne Ton. Es entstehen Tänze, in denen nichts geschieht und sich viel ereignet.
Anfang der sechziger Jahre kommt sie nach New York, probt mit der Tänzerin und Choreografin Anna Halprin und gründet gemeinsam mit Steve Paxton, Yvonne Rainer und anderen das Judson Dance Theater, das zentrale Labor des Postmodern Dance. Ihre Freundschaft mit Robert Rauschenberg, die künstlerischen Kooperationen mit ihm, aber auch mit Donald Judd oder Laurie Anderson legen den Grundstein für die interaktive Dynamik zwischen bildender Kunst und Choreografie, zwischen Raum und Tanz. Wie keine andere Choreografin hat Trisha Brown den Tanz an die radikalen Extreme der Moderne herangeführt.
Es ist nur konsequent, dass sie 2007 in der documenta 12 eine Schlüsselposition einnahm. Sie hat den Raum für die Grenzgänge eines William Forsythe oder Tino Sehgal vorbereitet, sie steht am Anfang einer neuen Ästhetik, in der die Recherchen mit dem eigenen Körper ins Zentrum der künstlerischen Produktion rücken. Ihre choreografischen Zeichnungen sind längst zu Kunstwerken erklärt worden. Und ihre konzeptuellen, minimalistischen und experimentellen Bewegungsinstallationen der siebziger Jahre haben die Grundlagen geschaffen für ein neues Denken von Choreografie und Tanz im Kontext der Moderne.
Zugleich führte sie die Bewegungsforschung von Steve Paxton und Lisa Nelson, später dann von Bonnie Bainbridge Cohen fort und übersetzte sie in einzigartiger Weise für den Bühnentanz. Was wir als Release-Technik zusammenfassen, was als „go with the flow“ immer wieder faszinierte, beschrieb sie selbst als „the line of least resistance“. Das Reduzieren technischer Virtuosität, wie sie auch noch von Merce Cunningham gefordert wurde, finden wir in ihren Choreografien, vor allem aber in ihren Solos, übertragen in eine neue Bewegungsqualität. Exemplarisch sei hier verwiesen auf ihr Solo „If you Couldn’t See Me“ von 1994, in dem sie eine einzigar tige neue Perspektive auf den tanzenden Körper erschließt. Trisha Brown tanzt mit dem Rücken zum Publikum und lässt teilhaben an den verschiedenen Ebenen von Bewegungsentwicklung. So wechseln Bewegungen, die ihren Impuls aus der Muskulatur empfangen, mit Bewegungen der Skelettstruktur oder der Körperflüssigkeiten. Der Körper als Forschungsraum erhält bei Trisha Brown eine ästhetische Gestalt.
Trisha Brown hat etwa einhundert Choreografien geschaffen, zuletzt sechs Opern inszeniert. Sie ist auf die Bühne, in das Theater, zurückgekehrt. Aber sie hat ihren existenziellen Bezug zum Tanz, zur Kunst, zur Bewegung keinen Moment aufgegeben. In „Accumulation with Talking“ von 1973 sagt Trisha Brown: „While I was making the dance my father died somewhere between these two movements.“ Diese bedingungslose Verbindung zwischen Leben und Kunst wirkt bis in die großen Werke wie „Orfeo“ von 1998 fort und begleitete sie als Ausnahmeerscheinung der zeitgenössischen Tanzkunst. Am 18. März 2017 starb Trisha Brown mit 80 Jahren. Ihre letzte Choreografie realisierte sie 2010. //