Theater der Zeit

Anzeige

Auftritt

Circus Theater Roncalli: Kunst statt Dressur

All for Art for All von Bernhard Paul – Inszenierung Bernhard Paul, Musikalische Leitung Georg Pommer

von Stefan Keim

Assoziationen: Nordrhein-Westfalen Theaterkritiken Zirkus Bernhard Paul Circus Roncalli

Steampunk-Clown Paolo Carillon und seine Tochter Noemi in „All for Art for All“ im Circus Roncalli.
Steampunk-Clown Paolo Carillon und seine Tochter Noemi in „All for Art for All“ im Circus Roncalli.Foto: Circus Roncalli

Anzeige

Anzeige

Zwei Männer. Einer macht einen Kopfstand auf dem Kopf des anderen. Sie halten sich nicht fest. Kopf auf Kopf gehen sie eine Treppe herunter. Schon das bringt das Publikum zum Ausrasten. Doch die Nummer geht noch weiter. Rückwärts geht es die Treppe wieder hinauf, Kopf auf Kopf. Die Hermanos Acero sind die Abschlussnummer des neuen Roncalli-Programms „All for Art for All“, Akrobatik, bei der einem wahrhaftig der Mund offen stehen bleibt. 

Moment, ist der Begriff „Programm“ eigentlich richtig? Zirkusdirektor und Roncalligründer Bernhard Paul – inzwischen 75 Jahre alt – nennt sein Unternehmen „Circus Theater“ und kämpft seit langem darum, dass Zirkusse als Theater anerkannt werden. Zum „immateriellen Kulturerbe“ in Deutschland wurden sie immerhin gerade erklärt. Die aus Frankreich stammende „cirque nouveau“- Bewegung hat längst viele Mischformen aus Zirkus und Theater entwickelt, der „Circus Dance“ ist ebenso längst etabliert und bringt viele begeisternde Aufführungen hervor. 

All das geht an Roncalli nicht vorbei. Bernhard Paul ist weiterhin neugierig, sucht neue Impulse und bleibt sich auf der anderen Seite treu. Sein Zirkus hat sich weiterentwickelt. Tiere gibt es schon seit fünf Jahren nicht mehr, dafür eine dreidimensionale holographische Performance, in der virtuelle Elefanten und Pferde in der Manege zu sehen sind. Das ist sehr eindrucksvoll, vor allem wenn sich ein lebensgroßer Elefant direkt vor der ersten Reihe auf die Hinterbeine stellt und die Körper der Pferdeherde beim Laufen verwischen wie auf einer alten Fotografie mit langer Belichtungszeit. 

Und der alte Roncalli-Zauber? Stellt sich sofort wieder ein, allein schon durch das einzigartige Clownsensemble. Der Weißclown Gensi ist seit 16 Jahren dabei, ein würdevoller Zeremonienmeister, der Glöckchen an das Publikum verteilt und mit ihm zusammen musiziert. Die anarchische Seite vertritt Anatoli Akerman, der einen Zuschauer an einem Pfahl des Zeltes festbindet, weil er Angst hat, es könnte einstürzen. Überwältigend originell ist Paolo Carillon, eine Art Steampunk-Clown. Er kommt mit einem Gefährt in die Manege, dessen Getriebe offen ist. Man sieht, wie ein Zahnrad ins andere greift. Dann präsentiert er – unterstützt von seiner Tochter – eine magisch-poetische Seifenblasenperformance. 

All das ist natürlich schon höchste Kunst. Doch Bernhard Paul will diesmal mehr. Sein Stück „All for Art for All“, das schon im vergangenen Jahr Uraufführung hatte und nun im zweiten Jahr auf Tour geht, ist eine Hommage an die bildende Kunst. Gleich zu Beginn tragen Artist:innen und Tänzer:innen Bilderrahmen um den Kopf und verkörpern als lebende Bilder die Mona Lisa oder Edward Munchs „Schrei“. Das hat große Leichtigkeit, auch Humor, ist aber niemals Verballhornung, sondern eine elegante Verneigung. Das Roncalli-Ballett zeigt eine kurze, eindrucksvolle Version des „Triadischen Balletts“ mit Kostümen, die Oskar Schlemmer nachempfunden sind. Roncalli meets Bauhaus. 

Und Marie Sarach trägt ein Kostüm aus farbigen Rechtecken, als sei sie ein Gemälde von Mondrian. Sie ist eine Kontorsionistin, kann ihren Körper atemraubend verbiegen und bringt so das abstrakte Gemälde zum Leben. Natürlich bleibt die Beschäftigung mit der bildenden Kunst populär und unterhaltsam, Roncalli ist ein Unternehmen, dass die Masse ansprechen muss, um genug Geld zu verdienen. Umso beeindruckender ist die Lust am Experiment, die Vereinigung von Kunst und Entertainment. Ein Abend bei Roncalli bleibt ein außergewöhnliches Erlebnis, das durch den Verzicht auf Dressurnummern noch menschlicher geworden ist. 

Erschienen am 23.3.2023

teilen:

Assoziationen

Neuerscheinungen im Verlag

Cover Recherchen 167
Cover Rampe vol.2
Cover B. K. Tragelehn

Anzeige