Auftritt
Schaubühne Berlin: Virtuos verpufft
„Angriffe auf Anne“ von Martin Crimp – Regie Lilja Rupprecht, Bühne und Kostüme Annelies Vanlaere, Musik Fabian Ristau, Video Rebecca Riedel
von Thomas Irmer
Assoziationen: Berlin Theaterkritiken Christopher Rüping Lilja Rupprecht Schaubude Berlin

„Angriffe auf Anne“ war zu seiner Entstehungszeit (uraufgeführt 1997 am Royal Court London) vor allem ein Angriff auf die lange Tradition des britischen well-made play und wurde wohl deshalb der mit Sarah Kanes und Mark Ravenhills Stücken angestoßenen Schock-Welle zugerechnet. Insofern gehört es zu den Ursprüngen von Thomas Ostermeiers Schaubühne, auch wenn dieses Stück damals nicht die Rolle einer Initialzündung für neue Dramatik wie etwa „Shoppen und Ficken“ gespielt hat.
Martin Crimps drama-ironischer Anschlag auf eine unfassbare Figur in 17 Szenen ist vor allem ein Spiel, wie eine Anne in immer wieder anderen Zusammenhängen und Bedeutungen auftaucht, ohne je kenntlich zu werden. Eine Art forcierte Subjektauflösung, denn Anne ist – sogar in unterschiedlichen Schreibweisen des Namens – nicht nur Tochter, Geliebte, Alltagsmensch und Künstlerin, sondern möglicherweise auch ein neues Automodell und vielleicht überhaupt nur Projektion.
Den Globe der Schaubühne, diesen großartigen Raum der fast intimen Zuschaunähe, machen Lilja Rupprecht und Annelies Vanlaere zu einer kleinen Show-Bühne mit verspiegeltem Eingang und überwiegend weicher elektronischer Live-Musik von Fabian Ristau. Damit ist auch ein Ablauf der Szenen wie in kurzen Nummern für die drei Schauspieler:innen programmiert, die ebenso wie die ungreifbare Anne immer wieder andere sind – das aber wunderbar. Jule Böwe, Kay Bartholomäus Schulze und Schaubühnen-Neuzugang Marcel Kohler zuzusehen, ist ein Vergnügen. Sie spielen mit Masken und Perücken und ständig wechselnden Kostümen, jeder Auftritt eine kleine Überraschung. Einmal sind sie drei alte Schachteln mit an Maggie Thatcher erinnernden grauen Betonfrisuren (vielleicht doch ein Hinweis darauf, woher die ganze Kane-Ravenhill-Wut einmal kam), dann singt Jule Böwe den von Crimp erfundenen Song „Girl Next Door“ als rührende Traurigkeitsballade (Szenenapplaus). Halb horrormäßige Comic-Masken tragen als Verfremdung dazu bei, dass man das Spiel von einer Konstruktion Annes nicht so ganz ernst nehmen muss. Es ist sozusagen Theater-Theater, beeindruckend, virtuos einfallsreich und musikalisch wie visuell mit großem Besteck aufgepeppt. Aber ein neuer Zugriff des durchaus herausfordernden Stücks gelingt damit nicht.
Crimps Text, der damals einer bestimmten Stoßrichtung der Erneuerung des Dramas folgen wollte, ist schlecht gealtert, sehr schlecht sogar, muss man sagen. Er wollte die Verflüchtigung eines bald nur noch simulierten Individuums in der Ära neuer Medien aufzeigen mit einer heute längst verdampften Ironie für entfremdete Distanz-Kommunikation. In den als Exposition dienenden Nachrichten auf einem Anrufbeantworter bedanken sich die Eltern der mutmaßlichen Anne mit damals ohne ein direktes Gegenüber typischem Stammeln des Danks für eine Postkarte – ein in der Ära von #socialmedia dürrer medienhistorischer Gag.
Nur einen Tag zuvor hatte am Deutschen Theater die Übernahme vom Schauspielhaus Zürich von Sarah Kanes „Gier“ Premiere, Regie Christopher Rüping. Auch „Gier“ ist ein Text eines rätselhaft unvollständigen und aufgesplitterten Subjekts, von innen voller Schmerz über krasse Erlebnisse der Unmöglichkeit von Liebe am Ende des 20.Jahrhunderts. Dagegen wirkt „Angriffe auf Anne“ wie die Bauzeichnung eines Bungalows, auch wenn sie zeitlich einmal aus demselben Kraftquell der Erschütterungen des neuen britischen Dramas hervorging.
Erschienen am 20.2.2025