Auftritt
Ingolstadt: Leider ermüdend
Stadttheater Ingolstadt: „Big Guns“ (DSE) von Nina Segal. Regie Mareike Mikat, Ausstattung Simone Manthey
von Sabine Leucht
Erschienen in: Theater der Zeit: Subversive Affirmation – Performances von Julian Hetzel (01/2020)
Assoziationen: Stadttheater Ingolstadt
Die Evakuierung endet draußen in einer Sackgasse. Jeder, der vor der Vorstellung seine Jacke abgegeben hat, friert. Das ist in diesen Minuten bedeutsamer als die Gestalt mit Sturmhaube und MP im Anschlag, die auf einem Containerdach lautstark gegen Metallstreben tritt.
Nun kann es natürlich sein, dass Theaterzuschauer den Einbruch einer Bedrohung in eine Aufführung selbst dann als inszeniert wahrnähmen, wenn echte Terroristen das Gebäude stürmten. Dass eine Mischung aus Trägheit und Gewöhnung an den dramatischen Konflikt sie so lange einlullt, bis echte Schüsse fallen. Doch im Kleinen Haus des Stadttheaters Ingolstadt hat man zu diesem Zeitpunkt schon so seine Erfahrungen mit Alarmsignalen gemacht, hinter denen dann doch nichts weiter steckt. Auf dem Spielplan steht „Big Guns“ der britischen Autorin Nina Segal, das im März 2018 in London uraufgeführt wurde. Zwei Spieler respektive Stimmen sezieren darin unseren schizophrenen Umgang mit der Gewalt. Denn während sich die Angst über ihre Zunahme entgegen ihrer faktischen Abnahme perpetuiert, delektieren wir uns an ihr via TV-Krimis, IS-Enthauptungs-Videos, Newsfeeds und Social Media.
Segals Versuch über unsere angstlustige Gesellschaft hat ihr österreichischer Kollege Thomas Arzt in eine gut durchrhythmisierte Partitur aus Satzfragmenten übertragen. In Mareike Mikats deutschsprachiger Erstaufführung wird sie von zwei Frauen szenisch ausagiert.
Die neue Oberspielleiterin am Stadttheater Ingolstadt und ihre Ausstatterin Simone Manthey haben Ingrid Cannonier und Sarah Horak in Falten- und Miniröcke gesteckt, die sich mit Fliegerjacken und Sonnenbrillen beißen. Ein schlanker Rollcontainer, der auch durch enge Flugzeuggänge passen würde, steht auf einer Arenabühne, die großen Zirkus ankündigt, aber nüchtern wie ein Seminarraum wirkt. Passend dazu wechseln die beiden Schauspielerinnen in rascher Folge zwischen kühlem Dozenten-, geschäftigem Stewardessen- und emotionalem Laienprediger-Habitus. Sie entertainen, belehren, flöten und brüllen und verbreiten eine unglaubliche Hektik, die zumindest anfangs noch nicht von den Inhalten ihres Wortfeuerwerks gedeckt ist. Sie beschwören Rücken an Rücken das Kurz-Davor der Katastrophe. Sie rennen durch die und aus der Arena und rufen Texte über die unmittelbare Nähe der Gewalt von ganz weit weg herein, stellen sich auf Rednerpulte und steuern an vier schwarzen Technik-Türmen die Atmos. Bisweilen ist dieser Aktionismus auch illustrativ. So setzt eine von ihnen einer Zuschauerin einen großen Teddy auf den Schoß und lässt einen Staubsaugroboter los, als es um das Vorzeigepaar Ike und Kay und ihren Wohn-Blog geht.
In ihren „Fall“, wie in den der Vloggerin und Frosted-Lips-Spezialistin Leila oder in die Einträge eines gefundenen Tagebuchs schleichen sich immer mehr Gewaltfantasien. Drei spiegelglatte Selbstdarstellungsoberflächen werden im Laufe des Abends verbal in Galle-Hirnmasse-Blut-und-Kaugummi-Splatter transformiert. Was einem aber fast entgeht, weil man von den Schauspielerinnen mit Händchenhalten und gemeinschaftlichem Ballons-zerplatzen-Lassen vollumfänglich eingeseift wird. Schließlich hat man als Zuschauer „ein Recht auf Unterhaltung“.
Segals Text erzählt durchaus komplex von „Tsunamis, kollabierenden Gebäuden, zerbrochenen Märkten“ wie von denen, für die die Angst der Betroffenen nur ein Schauspiel ist oder eine Fantasie. Mikat lässt die Panik- und die Beschwichtigungsdämonen, die im Stück versteckt sind, alle auf einmal los. Damit wirkt ihre Inszenierung hyperaktiv und müde zugleich. Inhaltliche Feinheiten gehen im Aufmerksamkeitskonkurrenzkampf unter. Was ihn überlebt, ist vor allem der permanent beschworene „Mann mit der Waffe“, der dem Publikum bei der offenbar eigens zu diesem Zweck anberaumten Evakuierung zwischendurch kurz gezeigt wird, dadurch aber eher noch weniger bedrohlich wirkt. Und banalere Fragen wie diese: „Vielleicht brauchen wir … andere Menschen, die gefoltert werden … damit wir aufatmen können, dass wir nicht sie sind.“ //