Theater der Zeit

Gespräch

Ein Festival als Reflexionsraum

Ein Gespräch zu Figure it out im Westflügel Leipzig

Figure it out. Internationales Treffen für Figurentheater + Showcase am Westflügel Leipzig erfüllte den von Festivals oft behaupteten und selten eingelösten Anspruch, nicht nur eine Abfolge von Events zu bieten, sondern auch in den vertieften Austausch untereinander und mit dem Publikum zu gelangen. Tom Mustroph sprach für double mit der Theaterwissenschaftlerin Jessica Hölzl, die gemeinsam mit Julia Lehmann das Diskursprogramm organisierte, und Dana Ersing vom kuratorischen Team des Westflügels, das für das Showcase aus insgesamt 12 Produktionen verantwortlich war.

von Tom Mustroph, Dana Ersing und Jessica Hölzl

Erschienen in: double 46: Networking – Netzwerkmodelle im Figurentheater (11/2022)

Assoziationen: Baden-Württemberg Sachsen FITZ! Zentrum für Figurentheater Schaubude Berlin Lindenfels Westflügel

Westflügel Leipzig, Figure it out. Foto: Dana Ersing
Westflügel Leipzig, Figure it outFoto: Dana Ersing

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Jessica Hölzl, Dana Ersing, das Festival Figure it out hatte drei Komponenten: Das Showcase mit zwölf Produktionen sowie der „Late Night Junges Figurentheater“, das Diskursprogramm für internationales Fachpublikum und die experimentellen Feedback-Formate. Zunächst zum Diskursprogramm: Was hat sich dort an Themen und Aspekten herauskristallisiert?

Jessica Hölzl: Wir hatten an den drei Vormittagen des Festivals jeweils die Morning Sessions mit Fachpublikum und den Künstler*innen. Am ersten Tag ging es um die Möglichkeiten des Kuratierens. Drei Sprecher*innen stellten kurz ihre Arbeit vor: Wie wird kuratiert, wie funktionieren verschiedene Konzepte und Konstellationen? Das war auch für den Westflügel interessant, wo es ja nicht eine künstlerische Leitung gibt, sondern es sich beim Kuratieren um einen Teamprozess handelt.

Dana Ersing, Sie gehören zum Team des Westflügels. Was an nachahmenswerten Impulsen haben Sie gefunden?

Dana Ersing: Etwas ganz Konkretes nicht. Es war aber interessant zu erfahren, welche Herausforderungen beim Kuratieren auch andere haben. Maxence Rocheteau vom Festival Mondial des Théâtres de Marionnettes in Charleville-Mézières hat davon gesprochen, dass sie sehr vielen unterschiedlichen Zielgruppen gerecht werden müssen. Allein die Spanne zwischen dem internationalen Fachpublikum und den Menschen vor Ort ist schon groß. Das ging uns bei Figure it out ja ähnlich.

JH: Bei der nächsten Morning Session beschäftigten wir uns mit Netzwerken und Allianzen. Da unterscheidet sich natürlich ein Haus wie das FITZ Stuttgart in Deutschland sehr von einem kleinen Haus in Litauen, das das einzige unabhängige Haus im ganzen Land ist und zu internationaler Zusammenarbeit regelrecht gezwungen ist, wenn es mit freischaffenden Akteur*innen und Produktionszentren kooperieren, selbst verwaltet arbeiten und eigenen ästhetischen Interessen und künstlerischen Fragestellungen nachgehen möchte. Am dritten Tag legten wir unter dem Titel „Neue Barrieren in Europa“ das Augenmerk auf Situationen in Schottland, Polen und Ungarn. Es ging um das Verhältnis von Kunst, Kultur und politischer Verwaltung, um Themen wie Finanzierung, Rechtsruck und Konservativismus, aber auch um spezifische Förderstrukturen, die vielleicht problematisch sind. Es war eine sehr bereichernde Runde, weil die Teilnehmer*innen nach drei Tagen bereits ausgiebig miteinander ins Gespräch gekommen waren und sich dann auch wirklich sehr intensiv über Bedürfnisse und Möglichkeiten der Unterstützung innerhalb der Szene austauschen konnten.

Welche Barrieren haben sich als die hinderlichsten herausgestellt?

JH: Es ging schon viel um Struktur und Förderung.

DE: Und auch um Zensur – das Wort wurde schon in den Mund genommen, gerade in Bezug auf Polen. Was können wir überhaupt noch beantragen als freie Gruppe, was wird überhaupt gefördert? Und es ging um die grundsätzliche Frage: Macht man, wenn man keine Förderung erhält, trotzdem das Projekt und zeigt damit dem Staat: Wir können es auch so! Oder sagt man: Nein, wir machen es nicht, um zu zeigen, dass wir Unterstützung brauchen.

Wie war da das Stimmungsbild?

JH: Es war superkontrovers.

DE: Ich würde sagen, es ging eher in Richtung trotzdem machen, weil nur so etwas beim Publikum entstehen kann. Es wäre so viel verloren für die Gesellschaft, wenn beispielsweise ein Festival nicht stattfindet. Die Verantwortung ist also, es trotzdem stattfinden zu lassen. Aber so richtig geeinigt haben wir uns nicht.

Mir ist in dem Kontext noch einmal deutlich geworden, dass in dieser Runde auch Künstler*innen auf dem Podium saßen und dass wir in Zukunft, wenn wir so eine Showcase mit Konferenzprogramm noch einmal veranstalten, versuchen werden, das anders zu lösen. Denn es gibt das Dilemma, dass die Künstler*innen abends spielen und tagsüber aufbauen und für diese Runden einfach wenig Zeit haben. Beim nächsten Mal müssen wir das Programm so legen, dass auch die Künstler*innen Zeit haben, an der Konferenz gut teilnehmen zu können. Das ist schließlich auch etwas, was den Westflügel ausmacht: Dass in unserem Team Spieler*innen mit kuratieren.

Aufgefallen ist mir, dass viele Stücke im Programm vertreten waren, die schon einige Jahre im Repertoire der jeweiligen Gruppen sind. Klar, es ging darum, die mit dem Westflügel verbundenen Künstler*innen zu präsentieren. Aber es ist für ein Festival doch ungewöhnlich, so gar nicht auf Neuheiten zu setzen. Wie hat dies das Stammpublikum aufgenommen, dass ja wahrscheinlich viele Produktionen schon kannte?

DE: Es gab auch einige neuere Stücke wie „Die Blumen des Bösen“ vom Figurentheater Wilde & Vogel, aber auch welche, die im Westflügel noch gar nicht gezeigt wurden, beispielsweise „Stadt. Land. Kuh“ von flunker produktionen oder „Straszka Pospolita“ von Grupa Coincidentia. Und „My Psychedelic Diary“ von Christoph Bochdansky hat noch nicht bei uns stattgefunden. Wir zeigen im Westflügel traditionell nicht immer nur die neuesten Produktionen der Gruppen. Unser Publikum kennt es, dass Stücke alle paar Jahre wiederkommen, und viele haben inzwischen den Reiz des Wiedersehens erkannt.

Sie sind tatsächlich überzeugt, dass nicht nur Ihnen, also den Figurentheaternerds hier im Hause, sondern auch dem Leipziger Publikum diese Art von Wiedersehen älterer Produktionen gefällt?

DE: Auf jeden Fall. Das bekommen wir auch gesagt, wenn wir Stücke wieder ins Programm nehmen: Ah, hier kommt wieder „Krabat“ oder „Dust“. Und es wird auch immer wieder gefragt: Ich habe das Stück jetzt nicht gesehen, wann kommt es wieder? Oder: Ich wollte das noch meiner Freundin zeigen. Also ich glaube nicht, dass das Publikum das als langweilige Wiederholung empfindet. Klar, Nachhaltigkeit ist ein viel genutztes Wort, aber im Falle des Westflügels stimmt es wirklich. Es ist gar nicht unser Anliegen, die Künstler*innen zu drängen, immer neue Stücke zu produzieren, sondern auch Wiederaufnahmen zu machen, ein Stück zu überarbeiten, zu schauen, was daran noch aktuell ist, und eher so zu denken, dass Stücke einfach über Jahre eingespielt werden.

Wie viele Kurator*innen aus dem In- und Ausland waren zum Festival eingeladen? Und weil es sich ja auch um einen Showcase handelte: Wie war das Feedback im Sinne von Einladungen einzelner Produktionen?

DE: Es waren 15-20 Kurator*innen beim Festival. Der Westflügel selbst hat ja kein angestelltes Hausensemble, sondern nur mehr oder weniger fest mit dem Haus assoziierte Ensembles, die ihre Gastspiele und Koproduktionen selbst organisieren. Ich weiß, dass es für einige Stücke Interesse der Kurator*innen gab, aber abgefragt haben wir das nicht.

Ihr eigenes Augenmerk als Festivalorganisatorinnen lag also weniger auf dem Verkauf fertiger Produktionen, sondern richtete sich mehr auf das Feld der Kooperationen, Koproduktionen und Austauschformate?

DE: Genau. Unser Kontakt als Spielstätte war während des Festivals mit den Kolleg*innen aus anderen Häusern eher vom Austausch zu den aktuellen Herausforderungen geprägt, aber auch zu zukünftigen Zusammenarbeiten und Netzwerken. Diesen Fachaustausch habe ich als sehr gewinnbringend empfunden, gerade in Bezug auf eine gegenseitige Stärkung, Unterstützung und Solidarität innerhalb der internationalen Figurentheaterszene. Es war uns aber wichtig, den Künstler*innen, die das Haus in den letzten Jahren begleitet haben, die Möglichkeit zu bieten, ihre Produktionen einem internationalen Fachpublikum vorzustellen, damit sich dadurch in Zukunft Gastspielmöglichkeiten oder Koproduktionen für sie ergeben.

„Figure it out“ versuchte auch, den Dialog mit dem Publikum anders zu gestalten. Welche Formate wurden entwickelt?

JH: Es gab zum einen die Nach(t)gespräche. Dafür hinterließ man nach den Abendvorstellungen seine Telefonnummer und erhielt per SMS eine Nummer einer anderen interessierten Person für ein Telefonat etwa fünfzehn Minuten nach Ende der Vorstellung. Für die Kurzstücke am Nachmittag baute eine Künstlerin kleine Boxen für Feedbackzettel. Zu jeder Produktion, außer zu den Kurzformaten, luden wir als Special Guest eine*n Künstler*in oder Wissenschaftler*in ein, der*die einen interdisziplinären Anknüpfungspunkt zum jeweiligen Stück findet und im zeitlichen Abstand von zwei Wochen einen Text, ein Bild oder ein Audiofile dazu erstellt.

Als Künstler*innennachgespräche hatten wir Table Talks an schön gedeckten Tischen, die von einem*r Gastgeber*in moderiert wurden. Es gab Essen für alle, jede*r konnte sich dazusetzen und ganz zwanglos ins Gespräch kommen.

War Figure it out eine einmalige Gelegenheit oder denken Sie an regelmäßige Wiederholungen im ein- oder zweijährigen Rhythmus?

DE: Jetzt ist es noch zu früh, etwas in Stein zu meißeln. Aber wir haben schon im Westflügel darüber gesprochen, ob wir es in drei Jahren in ähnlichem Rahmen noch einmal machen – es war doch ein sehr schönes Erlebnis in unserem Haus und alles ist gut aufgegangen. Es wird sicher nicht das letzte Mal gewesen sein. Jetzt finden erst einmal ähnliche Formate in unseren Allianz-Partnerhäusern statt: 2023 in der Schaubude Berlin und 2024 im FITZ Stuttgart. – www.westfluegel.de

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