Theater der Zeit

Bericht

Die Puppe und die Zukunft

50 Jahre Studiengang Zeitgenössische Puppenspielkunst in Berlin

1972 wird an der damaligen Staatlichen Schauspielschule Berlin das Angebot um Puppenspielkunst erweitert und der erste Studiengang für ein Theater der Dinge im deutschsprachigen Raum geboren. Zum 50. Jubiläum gestalteten Studierende, Lehrende und Alumni ein kompaktes Programm aus künstlerischen Beiträgen und Gesprächsrunden, in denen Geschichte, Gegenwart und Zukunft der Ausbildung befragt wurden.

von Katja Kollmann

Erschienen in: double 46: Networking – Netzwerkmodelle im Figurentheater (11/2022)

Assoziationen: Praxiswissen Puppen-, Figuren- & Objekttheater Berlin

Bruder Tiger, Freies Diplomprojekt von Keumbyul Lim. Foto: © Barbara Braun/ MuTphoto
Bruder Tiger, Freies Diplomprojekt von Keumbyul LimFoto: Barbara Braun/ MuTphoto

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Drei Tage im Juli an der Hochschule für Schauspielkunst (HfS) Ernst Busch in Berlin: goldene lamettaartige Papiervorhänge konterkarieren 72 Stunden lang das ruhige Grau des Sichtbetons, an das man sich gewöhnt hat nach dem Einzug der verschiedenen Studiengänge in das lang ersehnte gemeinsame Haus in Berlins Mitte. Streckt man jetzt die Arme nach oben, dann kann man diese übergroßen Goldfäden sogar berühren. Und man ist so ganz kurz eins mit diesem Papierwesen, das auf jede nachbarschaftliche Bewegung mit einer wunderbaren Verspieltheit reagiert. Mit dieser Installation und einem opulenten Programm, zu dem AbsolventInnen und MitstreiterInnen und alle, die kommen wollten, eingeladen waren, beglückwünschte sich der Studiengang Zeitgenössische Puppenspielkunst zu seinem 50. Geburtstag.

Das zweite Juliwochenende, an dem die Feier stieg, musste sich laut Programmzettel aufteilen in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Menschen wuseln herum zwischen „Bühne oben“ und „Bühne unten“. „Was war“ quillt über von gelebtem Puppen- und PuppenspielerInnen-Leben. Fällt man durch die Tür des Raumes 1.32, hört man die Stimme Lutz Großmanns, Puppenspiel-Student zu einer Zeit, als dieses Jahrtausend noch frisch und unverbraucht war. Der bringt „seinen“ Kasper mit, den unzerstörbaren Evergreen des Puppenspiels, und führt ihn zu den großen Baustellen des Lebens: Liebe, Krankheit und Tod. Die Puppenspiel-Erfahrung von Laura Schulze und Sven Tillmann ist vergleichsweise kurz. Sie studieren noch und zeigen ihre an der Hochschule entwickelten Arbeiten verteilt über alle drei Tage: Szenenstudium Maske, Handpuppe und Klappmaul. Beide sind so an diesem Wochenende Zeitreisende. Ihr Spiel erzählt in seiner handwerklichen Genauigkeit von einer inzwischen fünfzigjährigen Lehrpraxis, ist mit seiner energetischen Aufladung total im Jetzt und lässt erahnen, wie sich ihr Umgang mit der Puppe weiterentwickeln könnte nach dem Studium.

Szenarien der Zukunft

Die Puppe und die Zukunft. Das ist die Gretchenfrage des dritten Tages. Darum gibt es nur noch ein Viertel Unterhaltung. Das Übrige sind Vorträge und Gesprächsrunden, die sich um die großen Fragen im Umkreis der Existenzfrage, also Puppe und Zukunft, gruppieren: Puppe und Kollaboration. Puppe und Nachhaltigkeit. Puppe und Digitalität. Puppen und Menschen auf einer Bühne. Beim Thema „Puppe und Nachhaltigkeit“ denke ich an ressourcenschonenden Puppenbau – bis ich die ersten Worte von Ingo Mewes höre. Denn das heißt eigentlich: Puppenbauer wendet physikalisches Wissen, das er z. B. beim Marionettenbau braucht, wissenschaftlich an und entwickelt so das Windrad weiter. Mewes holt einen Flugdrachen hervor, der an Seilen hängt, die angeordnet sind wie bei einer Marionette und die wiederum mit einem Generator, der am Boden steht, verbunden sind. Und jetzt bitte vorstellen, dass der Flugdrachen in 600 Meter Höhe schwebt und so durch den Höhenwind viel mehr Strom erzeugt werden kann als durch Windräder. Puppe goes Wissenschaft.

Puppe goes auch Digitalität. Friedrich Kirschner, Leiter des Masterstudienganges „Spiel und Objekt“ legt ein Kärtchen auf den Boden, sagt mit „Krankenkassenkarte“ sein letztes Wort auf Deutsch, macht auf Englisch weiter und beschreibt unsere Abhängigkeit von digitalen Prozessen am Beispiel dieser Karte. Im Studiengang werden spielerisch Szenarien entwickelt, die sich u. a. mit Themen wie Macht und Abhängigkeit auseinandersetzen. Der Zugang über das Objekt schafft eine neue Ebene. So gibt es das klassische Rollenspiel – mit Figuren. Entworfen werden aber zunehmend Szenarien, die in der Zukunft möglicherweise stattfinden könnten, z. B.
die selbstverständliche Interaktion zwischen Mensch und Eidechse. „Eine Welt darstellen, die es noch nicht gibt“, ruft Kirschner ins Publikum, „das ist unsere Aufgabe“.

Zusammenarbeit und Spielflow

„Puppe und Kollaboration“ bringt einen mental wieder sanft zurück in die vier Wände der Hochschule. Bei dieser Gesprächsrunde geht es um die Verbindung oder Nicht-Verbindung zwischen den Studiengängen Regie und Puppenspiel. Naemi Friedmann (Regie im zweiten Studienjahr), Markus Joss (Leiter Studiengang Zeitgenössische Puppenspielkunst), Roscha A. Säidow (Regie-Absolventin) und Britta Geister (lehrt am Studiengang Regie) ergänzen sich produktiv. Es kristallisiert sich heraus: Regie zu führen bei Puppen ist eine ziemlich komplexe Angelegenheit. Aber die Puppe kann Sachen, die der Mensch nicht kann. Das ist der Mehrwert. Der Weg von der Regie zur Puppe führt oft über Umwege. Diese Wege könnten im neuen Hochschulgebäude stark abgekürzt werden, indem man die Zusammenarbeit institutionell im Stundenplan verankert.

„SchauspielerInnen haben Angst vor Puppen. Sie haben Angst, dass die Puppe ihnen die Show stiehlt“, behauptet der Regisseur Moritz Sostmann, der an der HfS Puppenspiel studiert hat. Er selbst sieht die Großpuppe als Erweiterung des eigenen Körpers. Jörg Lehmann ist in beiden Studiengängen unterwegs. In der Gesprächsrunde „Puppen und Menschen auf einer Bühne“ sieht er in dieser Begegnung viel Potential. Er spricht sogar von einem ungehobenen Schatz. Er macht sich aber Gedanken um die unterschiedlichen Geschwindigkeiten von SchauspielerIn und Puppe bzw. den andersartigen Spielflow im Puppenspiel. Hauptfrage: Wie kommt die Puppe in den Spielflow?

Bei Suse Wächter, Puppenbauerin, Puppenspiel-Regisseurin und Puppenspielerin in Personalunion, haben die Puppen den Flow in der DNA. Zum 50. Geburtstag ihres Studiengangs bringt sie einige KollegInnen mit und ihr Stück „Max Reinhardt probt Shakespeares Sommernachtstraum“. Hans-Jochen Menzel spielt Max Reinhardt, er trägt den Abend und stattet diese kongeniale Wächter-Puppe mit einem Schmäh aus, vor dem man sich auf den Boden legen möchte. Suse Wächter schenkt uns einen wunderbar fiktiven Blick in die Vergangenheit und einen langen Moment der Verzauberung in der Gegenwart. Das Gold der Lamettavorhänge glänzt danach in der Abendsonne, eine leere Bierflasche fällt krachend um und der Wind fegt einen Programmzettel durch den Raum. Was war. Was ist. Was wird … – www.hfs-berlin.de

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