Theater der Zeit

Auftritt

Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz: Hinter dem Skandal

„A Year without Summer“ von Florentina Holzinger – Regie, Choreographie Florentina Holzinger, Musikalische Leitung Born In Flamez, Stefan Schneider, Komposition Born In Flamez, Josephinex Ashley Hansis, Stefan Schneider, Bühne Nikola Knežević, Kostüme Christiane Hilmer, Licht Kevin Sock, Videodesign Zoe Bassi, Max Heesen

von Sophie-Margarete Schuster

Assoziationen: Berlin Theaterkritiken Florentina Holzinger Volksbühne Berlin

Die beklemmenden Räumlichkeiten eines ewigen Lebens und die Zärtlichkeit darin: „A Year without Summer“ von Florentina Holzinger an der Volksbühne Berlin.
Die beklemmenden Räumlichkeiten eines ewigen Lebens und die Zärtlichkeit darin: „A Year without Summer“ von Florentina Holzinger an der Volksbühne Berlin.Foto: Nicole Marianna Wytyczak

Anzeige

Anzeige

In der Mitte der Berliner Volksbühne thront der Torso einer nackten Frau. Literweise Luft strömt in ihn hinein, damit der Stoff – die Haut der gigantischen Aufblaspuppe – Form annimmt. Die Performerinnen von Florentina Holzingers „A Year without Summer“ haben sich vor den gespreizten Beinen der Puppe versammelt, um einer Geburt beizuwohnen. Doch was hier zur Welt kommt, findet seinen Weg nicht durch den Genitalbereich der Aufblaspuppe. Sondern durch eine bereits geschlossene Wunde an Holzingers Oberschenkel. Gemeinsam entfernen die Frauen die Nähte; behutsam öffnen sie die Wunde und drücken den Schnitt auseinander. Zum Vorschein kommt ein gläserner Embryo. Diese Szene ist – wie man es von Holzingers Arbeiten kennt – extrem. Aber sie ist auch noch etwas anderes: Sie ist eine Übersetzung der zweifachen Geburt des antiken Gottes Dionysos in die radikale Bühnensprache Holzingers. Aus der Mythologie ist die Geschichte bekannt, dass sich Dionysos‘ Vater Zeus dazu entschlossen habe, sein ungeborenes Kind, nachdem die Mutter in einem Brand verstirbt, in seinen eigenen Oberschenkel einzunähen, um es dort heranwachsen zu lassen. „A Year without Summer“ adaptiert diese Idee einer zweifachen Geburt und potenziert sie ins Unendliche. In die beklemmenden Räumlichkeiten eines ewigen Lebens. In die Frage „What is life without death?“ Oder anders: In die krankhafte Sehnsucht, den Tod zu übertrumpfen, ihn zu verdrängen und zu besiegen. So entscheidet sich „A Year without Summer“ dafür in den Abgrund dieser Welt hinabzusteigen.

Doch bevor Holzinger und ihr Team die göttliche Oberschenkel-Geburt vollziehen können, wird das Publikum zunächst im Jahr 1816 verortet. Dem Jahr ohne Sommer. Nach einem Vulkanausbruch in Indonesien ist der Himmel mit Asche bedeckt. Eine apokalyptische Düsternis hat die Welt ergriffen, dem Tageslicht entrückt wandeln die Menschen orientierungslos durch die Finsternis. Der Saal der Berliner Volksbühne schwimmt in einem rötlich-gelben Licht. Bühnennebel zieht durch die Reihen. Was folgt, ist eine Art dionysischer Rausch – die noch folgende Geburt des Ektase-Gottes vorwegnehmend: Er beginnt ganz leise. Zärtlich. Die Performerinnen betreten nach und nach die Bühne, tanzen als schemenhafte Gestalten vorsichtig umher. Sie beginnen, einander zu entkleiden, begegnen sich körperlich. Ihre sexuellen Handlungen sind der Bühne dabei keineswegs schonungslos ausgeliefert. Es geht nicht um eine Ästhetik des Schocks. Und es geht auch nicht um einen Skandal oder eine Provokation. Die Performance interessiert sich für den Raum dahinter. Für das, was es dort zu entdecken gibt.

So werden die ekstatischen Begegnungen der Körper nach einer Weile von einem hellen Scheinwerferlicht abgelöst. Die weißen Strahlen bündeln die wabernden Fäden des Bühnennebels zu einem strudelförmigen Portal. Wohin kann es uns führen? Welche Welt betreten wir hier? Anhand des gläsernen Embryos, den die Performerinnen wenige Minuten nach der Portalöffnung aus dem Oberschenkel Holzingers entnehmen, wird es laut verkündet: „It’s a musical!“, rufen sie, als die Geburt vollbracht ist. Inspiriert von Mary Shelleys „Frankenstein“ lädt die Inszenierung zu einem singenden Ausflug in die dunklen Abgründe der Medizingeschichte ein. Zwischen plüschigen Federfächern und einem zur Pole Dance-Stange umfunktionierten Infusionsständer wächst das frisch gebackene Musical zügig zu einem Akt des Empowerments. Den Auftakt macht Annina Machaz, die als ein unter der Bettdecke onanierender Sigmund Freud auf die Bühne gerollt wird. Und kaum hat sich der alte Sigmund eine ordentliche Nase Kokain einverleibt, kann es auch schon losgehen: Eine ‚fachkundig-misogyne‘ Anatomie-Stunde steht an, denn die Sache ist ja schließlich eindeutig: klarer Fall von Penisneid, was sonst? Annina Machaz‘ ausgelassene Parodie kehrt die Figur des Wissenschaftlers mit wenigen Handgriffen in die eines Clowns. So springt das Musical von einem zum anderen – macht Witze, ist laut, derb und unerschrocken. Zugegeben: Hin und wieder droht die Inszenierung dabei auseinander zu fallen. Aber da ist etwas, das alles zusammenhält.

Es ist die Zärtlichkeit, mit der die Spielerinnen sich jedes Mal aufs Neue begegnen. Aus dem Altersunterschied – die ältesten stehen mit über 80 Jahren auf der Bühne – entsteht eine Zärtlichkeit, mit der es die Inszenierung schafft, die enormen Geschwindigkeiten der Szenen immer wieder souverän zu entschleunigen. Exemplarisch zeigt sich das besonders in der letzten Szene des Abends: Die jungen Performerinnen beginnen, die alten zu pflegen – reichen ihnen Essen an, legen ihnen Windeln um. Doch als klar wird, dass eine der Windeln voll ist, eskaliert die Situation. Die Szene kippt in eine Arie des simultanen Kotzens und Scheißens. Immer mehr braune Flüssigkeit ergießt sich auf dem Bühnenboden. Immer mehr und mehr. Wohin kann das führen? Anders als erwartet verharrt das Ganze nicht in einem katastrophischen Ausnahmezustand, sondern mündet in ein Bild der Stille. Die vollgekoteten Frauen lehnen sich aneinander; leise rieselt Bühnenschnee auf sie nieder. Es ist ein unerwartetes Bild der Ruhe.

Erschienen am 23.5.2025

teilen:

Assoziationen

Neuerscheinungen im Verlag

Cover Offen! internationals figurentheater
Die „bunte Esse“, ein Wahrzeichen von Chemnitz