Theater der Zeit

Auftritt

Theater Chur: Tod dem König, Tod der Form

„Kilroy is not here anymore" – Musik David Sontòn Caflisch, Text Jürg Federspiel, Martina Mutzner, Annika Tudeer, Musikalische Leitung Francesc Prat, Ko-Regie Annika Tudeer, Martina Mutzner, Kostüme Tua Helve, Outsite Eye Timo Fredriksson, Tua Helve

von Anna Bertram

Assoziationen: Musiktheater Schweiz Theaterkritiken Theater Chur

Alles anwesend und abwesend zugleich: „Kilroy is not here anymore“ am Theater Chur. Foto Yanik Bürkli
Alles anwesend und abwesend zugleich: „Kilroy is not here anymore“ am Theater ChurFoto: Yanik Bürkli

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Und, kennen Sie Kilroy? Nein? Ich auch nicht. Zunächst also eine Recherche, damit wir wissen, wer Kilroy war, bevor er in „Kilroy is not here anymore“ nicht mehr ist. Kilroy ist ein popkulturelles Phantom, entstanden aus einem Graffiti, das mit der US-Armee während des Zweiten Weltkriegs um die Welt reiste. Ein Mysterium, das als Slogan „Kilroy was here“, immer wieder auf Wänden in Toiletten und Kasernen und auf Mauern in der Öffentlichkeit auftauchte. Auch in der Nachkriegszeit erschien Kilroy immer wieder an verschiedenen Orten der Welt. Theorien über den Ursprung gibt es mehrere. Die wohl gängigste ist, dass ein Hafenarbeiter in Massachusetts mit diesem Slogan seine gemachte Arbeit für die Kontrollen markierte: Kilroy war hier, die Arbeit ist schon gemacht. Der Slogan verselbstständigte sich also vermutlich. Wurde zum Zeichen gleichzeitiger Anwesenheit und Abwesenheit, zu einer Projektion und Imagination. So viel zu Kilroy. Irgendwann verschwand er von den Wänden, aus der Popkultur, aus Erzählungen. Er lebt heute – wenn überhaupt – als Erinnerung weiter.

Während die Erzählung über Kilroy also ein Mythos ist wie die Figur selbst, schrieb in den späten 80ern der Schweizer Autor Jürg Federspiel ein Auftragswerk über Kilroy. Dieser wird darin eine greifbare Person, ein Mann, der in der New Yorker Subway lebt und reist. Ein Kilroy, der Arbeiter:innen in ihrem Alltagsdunst beobachtet und sie fiktionalisiert. Es entstand ein fragmentarischer Text über zehn Figuren, später kam es zu einer Vertonung von David Sontòn Caflisch, die 2005 in Chur uraufgeführt wurde. Nun, knapp zwanzig Jahre später, eröffnet das Theater Chur die letzte Spielzeit unter der laufenden Intendanz von Roman Weishaupt mit „Kilroy is not here anymore“. Vom Hafenarbeiter zum Phantom auf Wänden zum reisenden U-Bahn-Chronisten zum – ja, was? Anstelle eines Kilroys ist ein Ensemble aus 14 Streicher:innen, Bläser:innen und Percussionspieler:innen auf der Bühne anwesend. Dazu eine Performerin, Annika Tudeer, die zugleich Regisseurin der Inszenierung ist. Und der Dirigent Francesc Prat. Kein Gesang, kein Chor. Eine Oper ohne Oper, wie sich der Abend selbst nennt. Experimentelles Musiktheater par excellence.

Ob nun Oper oder keine: Konzert und Performance überlagern sich an diesem Abend in Chur. Die Musiker:innen des Ensembles treten einzeln und nacheinander auf die Bühne und besetzen die breitflächig verteilten Stühle. Die Instrumente warten bereits auf sie. Mal ein suchender, mal ein sicherer Blick, dann beginnt die Ouvertüre. Bereits durch diese Setzung löst der Raum der Musik sich in die fiktive Welt von Kilroy auf: Die Musiker:innen sind auch die Anwesenden in der U-Bahn, sie spielen mit. Und so entwickelt sich eine Melange aus Musik und Fiktion, bedingt durch die Gleichzeitigkeit von musikalischen und performativen Kompositionen. Der Text wird von Annika Tudeer über das Geschehen hinweg vorgetragen. Nicht gesungen, nicht gespielt, sondern eher erzählend an das Publikum gerichtet. Die Figuren aus dem Libretto, sie bleiben abstrakt, sie sind allem als gesprochene Textfetzen und Klänge präsent. Mal schwer, mal düster, dann wieder heiter und vergnüglich.

Die Musik selbst, sie wird im Laufe des Abends ihre klare Form verlieren und zu einem atmosphärischen Klangteppich verlaufen. Zunächst noch fassbar strukturiert und als Ensemble erkennbar, gewinnen die einzelnen Instrumente mehr und mehr an Autonomie. Immer stärker werden ihre einzelnen Stimmen und Körper hörbar, trennen sich voneinander. Und auch die Musiker:innen bilden die musikalische Entwicklung im Bühnenraum mit ab. Sie starren ins Leere, sie geben vor, einzuschlafen. Sie fangen an, sich auf der Bühne zu bewegen, bilden neue Konstellationen, die plötzlich an eine Jazzkombo oder andere experimentelle Formationen erinnern. Die Form zerfällt mit der Struktur. Allein die eingeblendeten Namen der Figuren auf der Leinwand hinter dem Ensemble bleiben zunächst eine Konstante – doch auch sie lösen sich nach kurzer Zeit immer wieder auf. Clifton Cooper, Caroline Ellenthal, John Cornelius, …

Der Abend folgt einem klaren Konzept: Das, was die Struktur zusammenhält, wird heruntergebrochen und reduziert. Die Regisseurin selbst ist anwesend und reißt die Ganzheit der Form auf. Sie verlässt die Bühne und verschwindet, kommt wieder. Der Dirigent tut es ihr gleich, tippt irgendwann auf dem Handy, anstatt zu dirigieren. Das Ensemble trägt nicht wie gewohnt uniforme Kleidung, sondern jede Person hat ein individuelles Kostüm an, hier bunte Farben, dort ein Kleid. Die Instrumente wiederum brechen mit dem, was wir als Ensemblemusik kennen. Die Kategorien des Abends sind nicht mehr die, die sie waren, die Funktionen lösen sich auf. Irgendwann prallen Pingpong Bälle aus den Taschen der Musiker:innen auf die Saiten des Klaviers, es gibt keine Norm mehr. Kilroy als kill the roy: Tod dem König, Tod der Form.

Trotz aller konzeptioneller Klarheit ist es gerade die Bedeutung des Abends, die sich verwässert. Die Auseinandersetzung mit Kilroy bleibt Formalität, all die angerissenen Bilder und geöffneten Klangräume verharren in der Formsuche. Die materielle Auseinandersetzung mit den „Verlierer*innen der kapitalistischen Wohlstandsgesellschaft“, wie das Programmheft formuliert – sie findet nicht statt. Dabei gibt es so viele Fragen. Wer war Kilroy nun? Wie sah der Alltag von Arbeiter:innen in den New Yorker 80ern tatsächlich aus, wie zeigt er sich heute? Was haben zeitgenössische Oper und Theater damit zu tun? All die Antworten bleiben Assoziation, ein Gefühl aus Klang und Bild. Wie Kilroy selbst. Und die Kritik kann deswegen nicht formal sein, sondern politisch: Anstatt sich in den Mythos eines Narrativs um Kilroy einzureihen, wäre es nicht möglich gewesen, eine tatsächliche Position zu beziehen? „Kilroy is not here anymore“ behält damit am Ende paradoxerweise sogar Recht: Kilroy ist nicht mehr da. Es gibt keinen politischen oder gesellschaftlichen Diskurs, keine entscheidende Haltung, keine Kritik. Nur die Form im Hier und Jetzt bleibt. Und da sind wir wieder im Zwischenraum. Vielleicht in der New Yorker Subway selbst. Alles ist anwesend und abwesend zugleich, Kilroy bleibt ein Mythos. What a contemporary evening.

Erschienen am 4.10.2023

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