Theater der Zeit

Berliner Ensemble: Zwischen Wolken und Gummizellen

„Alias Anastasius” von Matter*Verse – Regie Fritzi Wartenberg, Ausstattung Rosa Wallbrecher, Musik Fabian Kuss

von Sophie-Margarete Schuster

Assoziationen: Theaterkritiken Berlin Berliner Ensemble

Via Jikeli und Max Gindorff in „Alias Anastasius“, in der Regie von Fritzi Wartenberg Foto: Moritz Haase
Via Jikeli und Max Gindorff in „Alias Anastasius“, in der Regie von Fritzi WartenbergFoto: Moritz Haase

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Anastasius Lagrantinus Rosenstengel – das ist der Name, den sich Catharina Margaretha Linck zwischen 1702 und 1704 selbst gab, nachdem sie:er aus einem Waisenhaus in Halle floh, um in Männerkleidern ein neues Leben zu beginnen: Sie:Er versuchte sich zunächst als Prophet in Nürnberg und Köln, nahm dann als Soldat an Feldzügen im Spanischen Erbfolgekrieg teil, desertierte, verhinderte daraufhin die eigene Hinrichtung durch Offenbarung ihres:seines Geschlechts, heiratete Catharina Margaretha Mühlhahn und wurde schließlich 1721 als letzte weiblich gelesene Person wegen Unzucht mit einer anderen Frau enthauptet.

Auf die Frage des Stadtrichters, wie sie:er ihr Handeln vor Gott und den Menschen rechtfertige, soll Anastasius am Ende ihrer:seiner Inquisition geantwortet haben: „Wenn Sie auch schon aus dem Weg geräumet würde, so bliebe doch dergleichen.” – eine kraftvolle und überaus kluge Botschaft, die in ihrer Erkenntnis der eigenen Zeit viele Meilen voraus war. Diese Botschaft ist es auch, wie im Laufe des Abends sehr eindrucksvoll deutlich wird, die sich die Regisseurin Fritzi Wartenberg zum Anlass nimmt, die Geschichte dieser historischen Figur in Zusammenarbeit mit dem Autor:innen-Duo Matter*Verse (Marie Lucienne Verse und Selma Matter) und auf Grundlage der literarisch-historischen Arbeiten der Autorin Angela Steidele ins Theater zu überführen – ein Vorhaben, das gelingt: Mit entschlossener Leichtigkeit erzählt „Alias Anastasius” die Geschichte eines kriminalisierten Menschen, der in dem Versuch, die eigene innere Wahrheit nicht ersticken zu lassen, eine scheinbar festgelegte Welt ins Wanken bringt. Dabei begegnen sich Augenblicke von Einsamkeit und Angst ebenso wie Augenblicke von Mut und Zärtlichkeit.

Das Bühnenbild der Inszenierung (Rosa Wallbrecher) besteht aus einem weißen Plüschteppich, der von kreisförmig aufgestellten Spiegeln und mit dicken Daunendecken überspannten Wänden umstellt ist: Mal erscheint dieser Ort wie eine federweiche Wolke, von der aus Via Jikeli und Max Gindorff das Publikum gekonnt in die Innenwelt eines jungen Menschen begleiten, der in einer vorsichtigen Erkundung seiner:ihrer selbst – der Enge eines streng gläubigen Waisenhauses zum Trotz – ins Träumen kommt; schnell wird jedoch klar: Diese Wolke kann ebenso die Gestalt einer grell weißen Gummizelle annehmen, aus deren Klemme es auszubrechen und deren plüschigen Wände es mit einer angemessenen Portion Wut einzureißen gilt. Die beigen Ganzkörperanzüge, in die Jikeli und Gindorff zu Beginn des Abends gekleidet sind, reihen sich unaufgeregt in diese Assoziation ein und pendeln in ihrer Wirkung zwischen gemütlichen Kinderschlafanzügen und der Bekleidung Inhaftierter einer Anstalt. Die schauspielerische Umsetzung der hier beschriebenen Dichotomie meistern Jikeli und Gindorff mit sichtlicher Freude am Spiel.

Und eines fällt auf: Es wird reichlich gelacht! Und das ist gut so, denn der kluge Humor dieser Inszenierung ist es, der – ohne die Figur zu veralbern oder ins Lächerliche zu ziehen – den Zuschauenden eine Tür offenhält, um das Leben des Anastasius’ plötzlich ganz nah zu spüren. „I am the color / That hasn’t been named yet […] I am here / Always have been / Always will be / Can’t be erased”, singen Gindorff und Jikeli mit einer berührenden Eindeutigkeit, die das historische Material gemeinsam mit der Musik von Fabian Kuss in einem Schwung mitten in den Saal holt. Die Spannung, die sich zwischen dem, was Anastasius lebte, und dem von ihr:ihm vor der Hinrichtung aus dem Leeren – aus einem zu diesem Zeitpunkt sprachlich noch nicht erkundeten Feld – gegriffenen Wort „dergleichen” auftut, regt zum Nachdenken an. „Alias Anastasius” zeichnet eine Kontinuität nach, die der Fluidität sexueller Identitäten genau die Bühne verleiht, die ihr gebührt. Die Inszenierung berührt dabei nicht nur die eigene innere Suche nach Identität, sondern zeigt auf, dass diese Suche niemals von dem Durchbrechen bestehender Machtstrukturen zu trennen ist – so gibt der Theatertext am Ende des Abends klar zu verstehen: „Wo ein Anastasius fehlt, kommen zwei nach.”

Erschienen am 16.3.2023

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