Theater der Zeit

Report

Digitales ins Theater übersetzen

Der Technical Ballroom in Oldenburg wird als innovatives Format verlängert

von Lina Wölfel

Assoziationen: Dramaturgie Akteure Niedersachsen Dossier: Digitales Theater Kevin Barz Oldenburgisches Staatstheater

Thomas Kramer klärt in „Die Tagesshow" über Deep Fakes auf.
Thomas Kramer klärt in „Die Tagesshow" über Deep Fakes auf.Foto: Stephan Walzl

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„Irgendwie hatte ich gehofft, wir machen mehr mit den Tablets“, murmelt ein älterer Mann hinter mir in der Häppchenschlange „letztes Mal konnte man da mehr machen, oder?“. Es gibt irgendetwas zwischen japanischen Tapas – Avocados und Sprossen auf Klebreiskugeln – und indischer Vorspeisenplatte. Dazu läuft hippe Elektro-Musik, Menschen allen Alters stehen in kleinen Gruppen und unterhalten sich angeregt, es soll gern getrunken, aber ja nicht getanzt werden – schließlich ist Karfreitag.  

In dieser Menge treffe ich mich mit Kevin Barz, dem Künstlerischer Leiter des Technical Ballroom, einem spartenübergreifenden Projekt zum Thema Digitalität am Staatstheater Oldenburg, das ursprünglich auf ein Jahr begrenzt angelegt war, jetzt aber bereits in die zweite Spielzeit verlängert wird. Eine Bierflasche in der Hand kommt er auf mich zu, wir setzen uns in eine zumindest etwas stillere Ecke. Auf der Website bewirbt das Oldenburgische Staatstheater den Technical Ballroom damit, so spannend wie Netflix und so interaktiv wie Gaming zu sein, aber durch und durch Theater. Als ob Theater nicht spannend wäre? Na gut. Es gibt wohl keine:n Kritiker:in, die ohne zu Lügen behaupten kann, im Theater noch nie die Augen – wenn auch nur kurz – geschlossen zu haben. Das soll im Technical Ballroom nicht passieren – zumindest nicht aus Langeweile. Dafür haben Kevin Barz und sein Team sich auf die Suche nach dem Theater einer stetig wachsenden digitalen Generation, der Digital Natives, gemacht und dabei nicht nur ein neues Stammpublikum sondern auch eine Theaterutopie gefunden.  

Das Prinzip des Technical Ballrooms funktioniert wie folgt: Es gibt eine eigene Spielstätte – die Exerzierhalle, eigentlich das Problemkind unter den Oldenburgischen Spielstätten, weil sie ein bisschen außerhalb der Innenstadt liegt. Ursprünglich als Teil einer Kaserne im späten 19. Jhd. gebaut, beherbergt der Backsteinbau seit 2008 zwei Bühnen, vor denen jeweils rund 100 Zuschauer Platz finden. Angegliedert vor allem an die Schauspielsparte, bezieht der Technical Ballroom Gelder und Personal von fast allen Sparten des Theaters in Oldenburg, funktioniert aber abgesehen davon relativ unabhängig – eine Fast-Sparte sozusagen. Fernab der großen Klassiker und gängigen Produktionsbedingungen am Theater, sollen Fragen beantwortet werden, die nicht nur die Digital Natives umtreiben: Wie klug sind Künstliche Intelligenzen wirklich? Was sagen uns die Daten des Klimawandels über unsere Zukunft? Wie real sind Deep Fakes? Wie menschlich sind Roboter? Wie düster ist es eigentlich im Darknet?  

„Wir wollen Aspekte des Digitalen in Theater übersetzen“, sagt Kevin Barz, „wenn mit digitalen Themen am Theater operiert wurde, dann hörte es beim Streaming schnell auf, dabei sind die zentralen Fragestellungen, die seit je her auf der Bühne verhandelt werden, mit Bezug auf das digitale Zeitalter noch dringlicher. Es müssen nur adäquate Formen gefunden werden.“ Der Technical Ballroom funktioniert in Bezug auf das Theater und digitale Formen als Forschungszentrum, als Labor für digitale Theaterformate. In der Exerzierhalle ist dafür ein High-Tech Bühnenbild entstanden, das nicht verändert werden muss und sich dennoch je nach Produktion verändern kann. Eine Kulisse aus LED-Panels in Pixeloptik, die über einen Rechner programmiert und gesteuert werden können. Die sich je nach Projekt in eine Theaterbühne, einen Dancefloor oder ein Multimedia-Museum verwandeln können. Und das innerhalb von wenigen Minuten und Klicks. „Damit heben wir auch die klassischen Produktionsverfahren am Theater auf, weil die Techniker:innen bei uns nicht nur ausführende, sondern viel stärker gestaltende Kräfte sind und gleichberechtigter am Prozess teilnehmen“, sagt Barz und ergänzt: „außerdem ist das Bühnenbild und die Arbeitsweise damit viel nachhaltiger, wir können es durch Podesterie und Requisiten ergänzen, aber es müssen nicht jedes Mal neue Wände tapeziert und bemalt werden, wie es im regulären Betrieb der Fall ist.“  

Zurück zum Premierenabend in Oldenburg. Wie gesagt, das Publikum ist durchmischt. Das Konzept des Technical Ballroom erreicht die einen über das Format, die anderen über die Inhaltsebene. An diesem Abend: Die Tagesshow – ein interaktiver Betrugsversuch an Deutschlands seriösestem Nachrichtenformat. Anhand einer gefälschten Rede Präsident Nixons zur Mondlandung 1969 erklärt Schauspieler Thomas Kramer als Nachrichtenmoderator das Prinzip von Fake News, Deep Fakes und deren politische Nutzbarmachung. Im Hintergrund läuft auf der LED-Wand eine Uhr ab: noch 23 Minuten bis zur Show. Und diese Show wird Lüge durch und durch. Wobei, vielleicht weniger Lüge, als mehr gewünschte Wahrheit. Denn mit unseren Tablets dürfen wir, die Zuschauer:innen, uns unsere eigenen Nachrichten für die Tagesshow wünschen. Nachrichten, die später von Thomas Kramer im Live-Stream auf allen Kanälen des Theaters Oldenburg vorgelesen und ausgestrahlt werden. Gleichzeitig zur tatsächlichen Tagesschau, 20:00 Uhr. Und obendrein, wird eine gefütterte KI, Kramer dabei in den Tagesschau-Moderator Constantin Schreiber verwandeln, oder dies zumindest versuchen. Mittels Deep-Fake, frei nach dem Motto: „Wer hat schon noch Bock, sich mit der Wahrheit auseinanderzusetzen?“ hören wir uns an, dass Elon Musk 96 Prozent seines Vermögens spendet, ein internationaler Seenothafen geplant werden soll und dass Rammstein für Deutschland auf dem ESC singen wird, jubeln, wenn es die von uns gewünschten Nachrichten in die Show schaffen, lachen, wenn der Deep-Fake zwischendurch glitcht, und übernehmen freiwillig und mit größter Freude eine Kompliz:innenschaft der Lüge. Ohne Moralklatsche am Ende, ohne erhobenen Zeigefinger. Welche Erkenntnisse aus dem eigenen Handeln, verbunden mit dem eingangs erworbenen Wissen über Fake News und Co gewonnen werden bleibt jedem und jeder selbst überlassen. Und das ist gut so.  

„Wir wollen mit unserem Angebot eine Generation erreichen, die Theater als Qual kennengelernt hat, die ein gereiftes politisches Bewusstsein besitzt und Interesse an interdisziplinären Themen hat“, erzählt mir Kevin Barz. Und es funktioniert. Erste Evaluationen des Theaters haben ergeben, dass 85-90 Prozent der Besucher:innen wiederkommen. Deshalb wird der Technical Ballroom auch auf eine weitere Spielzeit verlängert: Dann mit weniger Projekten, mehr Zeit und natürlich der Verbindung aus Theater, Interaktion und Digitalität. Ein Rave ist dabei, ein Musik-Projekt zu den Nürnberger Prozessen und – man mag es kaum glauben – ein richtiger Theaterklassiker, als interaktives Theater-Game mit Kontrollern und Schauspieler:innen, die Avataren ihren Körper und ihre Stimme leihen und von den Zuschauer:innen gesteuert werden können.  

Erschienen am 7.6.2023

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