Theater der Zeit

Auftritt

Frankfurt am Main: Popkulturelle Nummernrevue

Schauspiel Frankfurt / Brockenheimer Depot: „Yo Bro“ von Joana und Aljoscha Tischkau. Regie Joana Tischkau, Bühne Carlo Siegfried, Kostüme Nadine Bakota

von Shirin Sojitrawalla

Erschienen in: Theater der Zeit: Publikumskrise (11/2022)

Assoziationen: Theaterkritiken Hessen Schauspiel Frankfurt Bockenheimer Depot

Die diverse Gesellschaft wird zur Familienaufstellung gebeten: „Yo Bro“ in der Regie von Joana Tischkau im Frankfurter Bockenheimer DepotFoto: Maya Röttger Fungi Phuong Tran Minh

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Die Choreografin und Performerin Joana Tischkau beschäftigt sich in ihrer Arbeit mit popkulturell geprägten Körperbildern und Bewegungsabläufen. In „Colonastics“ fordert sie die weiße Mehrheitsgesellschaft zum kolonialen Workout heraus, in „Playblack“ führt sie Größen Schwarzer Unterhaltungskultur vor, in „Being Being Pink Ain’t Easy“ stellt sie einen rosafarben gekleideten Mann zur Schau. In allen Fällen verknüpft sie Alltagskultur mit zeitgenössischen Diskursen rund um Fragen von Rassismus, Repräsentation und kultureller Aneignung. Studiert hat sie in Gießen am Institut für Angewandte Theaterwissenschaft, heute ist sie in Frankfurt am Main und in Berlin beheimatet. Häufiger schon hat sie mit der Theaterregisseurin Anta Helena Recke zusammengearbeitet, etwa am Deutschen Museum für Schwarze Unterhaltung und Black Music, einer Mischung aus temporärer Ausstellung und Archiv. Wer das Glück hatte, dort von Joana Tischkau durch die Räume geführt zu werden, bekam eine ganz eigene Show geliefert, denn diese Frau kann nicht nur ohne Unterlass reden, sondern setzt sich gekonnt lässig in Szene. In Hanna Steinmairs Performance „Rage. A Tennis Western“ wirft sie sich in Bluesmusiker-Posen: sehr komisch, sehr präzise, sehr begabt. Das hat sich mittlerweile herumgesprochen, und so ist es kein Wunder, dass für die diesjährige Koproduktion zwischen dem Künstlerhaus Mousonturm und dem Schauspiel Frankfurt die Wahl auf Joana Tischkau fiel.

Ausgangspunkt des Abends „Yo Bro“ sind die beiden Tischkau-Zwillinge: Joana und ihr Bruder Aljoscha, der im echten Leben als Sozialarbeiter arbeitet. In „Yo Bro“ zer­legen sie gängige Klassifizierungen (Geschwisterliebe, Familienbande, Freunde, Fremde). Die Bühne im Bockenheimer Depot spielt mit Showeffekten: rechts eine Küche wie aus einer Sitcom geschnitten, links eine giftgrüne Treppe, die große Auftritte ermöglicht, davor eine zartrosafarbene Sofalandschaft, auf der sich Chromosomen tummeln. Die Szenen wechseln rasant, Männer- und Frauenklischees werden reproduziert, Verwandtschaftsverhältnisse behauptet und gleichzeitig infrage ­gestellt. Sprechen tun die beiden, wie auch die achtköpfige Laienschar um sie herum, so gut wie kein Wort, sie bewegen nur kunstvoll lippensynchron die Münder zu eingespielten O-Tönen. So hört man, wie Janet Jackson bei der Verleihung des Grammy Legend Award ­ihren Bruder Michael anhimmelt. Ein ikonischer Moment der Pop- und Fernsehgeschichte. Wer ihn nicht kennt, hat hier womöglich nur den halben Spaß. Das gilt auch für die an diesem Abend mehrfach absolvierten Runden im „Familien-Duell“, im Original „Family Feud“, dies- und jenseits des Atlantiks ein bekanntes Showformat, in dem zwei Familien gegeneinander antreten.

Dass man trotzdem bei der Stange bleibt, liegt auch am starken Ensemble auf der ­Bühne, den hinreißend übergeschnappten Kostümen von Nadine Bakota und dem ganz grundsätzlichen Pep der ganzen Chose, die Tischkau wie eine Tortenschlacht zelebriert. Allen voran sie selbst ist einfach umwerfend, etwa als Showmaster, der sich mit breitestem Amerikanisch in Positur wirft. Über den offensichtlichen Spaß hinweg stellt der Abend Fragen nach eindeutigen und weniger ein­deutigen Verwandtschaftsverhältnissen und Zuordnungen. Als Kinder einer weißen Mutter und eines schwarzen Vaters dürften die Tischkau-Zwillinge erfahren haben, was es heißt, äußerlich als nicht zugehörig wahrgenommen zu werden. Familienverhältnisse und Wahlverwandtschaften sollen an diesem Abend auf den Prüfstand: Was ist wahr, was ist falsch? „Yo Bro“ bittet die diverse Gesellschaft quasi zur Familienaufstellung und höhlt in immer neuen Verkleidungen, mit immer neuen Gestalten (von der Kelly Family bis hin zu Alf) alte Gewohnheiten aus und offeriert das Ergebnis als überdrehte Nummernrevue. Die Szenen bleiben meist nur für kurze Zeit stehen, woraus sich ein Effekt ergibt, als klicke man sich durch verschiedene YouTube-Videos. Das ist schmissig inszeniert, hätte aber durchaus mehr Tiefgang vertragen. //

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