Theater der Zeit

Stück

Der Mann, der zu wenig wusste

Michel Decar über sein Stück „Nachts im Ozean“ im Gespräch mit Jens Fischer

von Michel Decar und Jens Fischer

Erschienen in: Theater der Zeit: Vorwärts immer, rückwärts nimmer – Schwerpunkt Klassismus (02/2021)

Assoziationen: Dramatik Anhaltisches Theater Dessau

Anzeige

Anzeige

Michel Decar, in Ihrem Stück „Nachts im Ozean“ dreht sich alles um den Autor Moskowitz, der zur Uraufführung eines seiner Stücke nach Montevideo reist und sich in der Stadt verliert. Während Sex, Liebe und Tod das dramatische Grundrauschen bilden, versuchen Sie wie in all Ihren Dramen möglichst schnell der Realität zu entfliehen, bauen Brüche in die Narration und feiern das Aufblühen im Surrealen. Bereits mehrmals spielten Sie in Ihren Stücken auch Situationen in immer neuen Variationen durch. Aber so weit wie jetzt gingen Sie noch nie: Sie erzählen die Geschichte aus drei Perspektiven, aus der Sicht der Protagonisten Moskowitz, Nightingale und Cáceres, und reihen diese Wahrnehmungswelten als sprachlich elegant gewobene Erinnerungsmonologe aneinander. Konnten Sie sich nicht entscheiden, welche Version Sie erzählen wollen?

Ganz im Gegenteil, als ich vor drei Jahren das Stück geschrieben habe, hatte ich von Anfang an diese Konstruktion im Kopf, die ich die Kurosawa-Dramaturgie nenne.

Der japanische Filmregisseur Akira Kurosawa zeigt in „Rashomon“ die Vergewaltigung einer Frau und den Tod ihres Mannes in sich widersprechenden Erzählungen der Opfer und Tatverdächtigen. Es geht dabei um die Suche nach Wahrheit. Was ist wirklich passiert, wer ist der Bösewicht? Suchen Sie im Spiel mit dieser Erzählform auch nach der Wahrheit Ihrer Geschichte, oder wollen Sie durch die Dreiteilung gerade die Unmöglichkeit von Wahrheit darstellen?

Schon eher Zweites. Denn ein absoluter Wahrheitsanspruch ist für mich eine schwierige Sache.

In Hollywood-Filmen und Krimis, die unterschiedliche Varianten eines Ereignisses zeigen, kommt am Ende fast immer die „wahre“ Wahrheit heraus.

In der Realität aber kommt nie heraus, was wahr ist. Es gibt immer nur differierende Interpretationen von Wirklichkeit. Deswegen ist im Fall meines Stücks die Gesamtheit der drei Teile, die parallel nebeneinander bestehen können, die Wahrheit.

Ist das ein grundsätzlicher Ansatz Ihres Schreibens, diese Verweigerung von Gewissheiten, von Sinnzusammenhängen, von Logik, von Eindeutigkeiten? Diese Offenheit für verschiedene Interpretationen?

Wenn Sie das so sagen. Ja, vielleicht.

Sie spielen auch gern mit Genres?

Absolut, ich liebe Genres! Das deutsche ­Theater ist ja extrem genrefeindlich, wenn ich das so sagen darf. Aber ich habe total Lust, mich da komplett reinzustürzen, immer etwas Neues auszuprobieren, zum Beispiel mal ­einen waschechten Mystery-Thriller.

Im zweiten Teil des Stücks.

Ja, vor allem im zweiten Teil. Der erste Teil geht ja los als klassisches Künstlerdrama, ­bevor es ins Mysteriöse abkippt. Und den letzten Teil kann man auch als Satire auf den Kulturbetrieb lesen.

Er wirkt wie eine Abrechnung mit dem Theater. Alles dreht sich um einen sehr zwielichtigen ­Intendanten.

Ja, genau, ein uruguayischer Theaterdirektor, der seinen Laden wie ein Mafiaboss führt. Das soll ja hin und wieder auch in Deutschland vorkommen.

Gibt es ein konkretes Vorbild für die Figur?

Nicht nur eines. Und wenn man in die Zeitung schaut, wurde die Frage von Macht und Machtmissbrauch in den vergangenen Monaten ja ausführlich diskutiert. Auf jeden Fall denke ich, dass es in Zukunft für die Entscheidungsträger im Theater sehr viel schwieriger wird, feudalistisch durchzuregieren. Trotzdem bleibt die Verflechtung von Kultur, Wirtschaft, Politik und Medien ein Riesen­problem.

Aus einer solchen Erfahrung heraus und mit ­dieser Wahrnehmung derzeitiger sozialer ­Problemlagen hätten Sie doch auch kraftvoll ­geradeaus mit einer klaren Position ein Stück entwickeln können.

Ich halte es nach wie vor für richtig, den ­Umweg über die Fiktion und den dramaturgischen Irrgarten gewählt zu haben. Eindeutige Botschaften und die Spiegelonlineisierung des Theaters liegen mir einfach nicht so sehr, tagesaktuelle Zeitungsschlagzeilen als Kern eines Dramas sind mir suspekt.

Sie schreiben als Autor in „Nachts im Ozean“ über einen Autor, und der sieht in der Uraufführung auch noch so aus wie Sie. Schreiben Sie über sich?

Das war in erster Linie ein Scherz der Ausstatterin, und ich habe zuerst auch nicht groß darüber nachgedacht. Doch dann war ich durchaus geschockt, als ich eine Woche vor der Premiere den Schauspieler zum ersten Mal in Kostüm und Maske gesehen habe. Das hat auch meine Sicht auf seinen Monolog verändert, das war plötzlich eine ungewollte Spiegelung meines eigenen Wesens, hat mir gezeigt, dass ich ein total schwieriger Künstler bin.

Ihre vorherigen Stücke waren auch krachend komisch, rasant ironisch und das im Gestus überschwänglicher Lakonie. All das fehlt nun. Ist Ihnen der Spaß an dieser Art der Fiktion verloren gegangen?

Ich habe mir bei „Nachts im Ozean“ alle Pointen verboten, wollte mit großer Ernsthaftigkeit und Nüchternheit schreiben. Es ist mir nicht ganz gelungen, ein paar Lacher waren schon noch dabei. Weniger gab es in meinen Stücken aber noch nie. Allerdings hätte man in der Pandemiezeit auch nichts Komödiantisches spielen können, wenn da auf achthundert Plätzen im Theater nur hundert Leute sitzen.

Uraufgeführt wurde das Stück am Anhaltischen Theater Dessau nicht öffentlich, nur wenige Theatermitarbeiter und einige geladene Journalisten durften in einer sogenannten Leerpremiere dabei sein.

Ich finde den Begriff Geisterpremiere schöner. Sie fand zwar angeblich statt, aber irgendwie hat keiner sie gesehen. Das passt auch exzellent zur Geisteratmosphäre des Stücks. Niemand ist sich sicher, was er eigentlich erlebt hat und ob es überhaupt passiert ist.

Konsequent wäre es, die Produktion nach der Pandemie gar nicht wieder aufzunehmen, dann bleibt sie ein Mysterium.

Eine zweite Aufführung in Dessau auf der ­großen Bühne wird es auch nicht geben, denn die feuerrechtliche Genehmigung für die Bühnenkonstruktion ist inzwischen abgelaufen. Es ist schon ein Wahnsinn.

Der Text kam zuerst als Hörspiel heraus, war er überhaupt als Theaterstück gedacht?

Ehrlich gesagt unterscheide ich da mittlerweile gar nicht mehr. Ich habe jetzt so viele Jahre parallel fürs Theater und Radio gearbeitet, dass ich meinen Texten von vornherein gar kein Medium zuordnen möchte, sondern erst Verbündete für die Umsetzung suche, ­sobald ich mit dem Schreiben fertig bin. Und in den vergangenen Jahren war das Radio da meistens schneller, was auch daran liegt, dass ich eine sehr vertrauensvolle Arbeits­beziehung mit der Redaktion von Deutschlandfunk Kultur habe und dort im März mein achtes Hörspiel in acht Jahren inszenieren werde. Eine solch kontinuierliche, langjährige Zusammenarbeit an einem Theater fehlt mir leider.

Sie waren mit Inszenierungen Ihrer Stücke auch häufig unzufrieden, sodass Sie „Nachts im ­Ozean“ unbedingt selbst inszenieren wollten. Was viele Theater, die Interesse an dem Text hatten, abgelehnt haben.

Gerade die bisherigen Uraufführungen meiner Stücke entsprachen sehr oft nicht meinen Vorstellungen, was die inhaltliche Fokus­sierung, ästhetische Setzung und den Umgang mit dem Humor betrifft. Meistens stehen die Regisseure für eine Spielzeit schon zwei ­Jahre vorher fest und bekommen dann die Stücke vorgesetzt, ohne sie vielleicht unbedingt zu wollen.

Dann kommen Uraufführungen schon mal uninspiriert daher. Oder Regieführende interessieren sich nur für ihre wuchtigen Bilderwelten, nicht für den Text. Oder sie streichen die Vorlage auf eine biedere Interpretation zurecht. Neugierig vorbeischauende Theatermacher, Presse, Publikum und Autor sind dann verstimmt. Für Sie aber ergeben sich auch finanzielle Folgen.

Wenn die Uraufführung schlecht ist, hat das gleich zwei Nachteile. Zum einen wird das Stück dann eher nicht woanders nachgespielt, woran ich verdienen würde, und die Uraufführung selbst steht am Haus oft nur wenige Male auf dem Spielplan, sodass ich dort als Autor auch weniger Geld bekomme.

Selbst Regie führen, also Autorentheater machen – wie profitiert das Stück davon?

Wie die Inszenierung aussehen soll, hatte ich schon beim Schreiben im Kopf und fand es toll, das endlich mal genau so umsetzen zu können. Wenn Autoren ihre eigenen Stücke inszenieren, schreiben Kritiker oft, dass sich die Regie nicht am Text reibe, ihn nicht aufbreche, keine widersprüchlichen Bilder finde und so weiter. Das verstehe ich nicht. Ich meine die Texte doch so, wie ich sie schreibe und will sie dann auch so auf der Bühne sehen und mich nicht noch mal dran reiben.

Aber lernt man den Text im Probenprozess noch einmal neu kennen?

Ja, das schon. Im Probenprozess wird schnell klar, was alles funktioniert und was nicht. Seien es Sätze oder auch inhaltliche Sachen. Eigentlich ist es das Beste, um einen Text besser zu machen, dass man ihn probt. Ich habe daraufhin bestimmt ein Drittel des Textes gestrichen oder verändert.

Regieführen hat Spaß gemacht?

Total, aber ich hatte auch vergessen, wie anstrengend es ist. Als Autor ist man in seinem gewöhnlichen Arbeitsalltag ja komplett unterspannt, und wenn man dann einen gigan­tischen Theaterdampfer wie in Dessau betritt und nicht nur die Probe leiten, sondern auch das Zusammenspiel der verschiedenen Abteilungen moderieren muss, gelingt das nur, wenn man seinen Energiehaushalt permanent hochfährt. Aber ja, schön ist es trotzdem gewesen, und ich habe auch Lust, das weiterhin zu machen, wenn sich die Gelegenheit bietet.

Sie schreiben aber auch Romane, in der ­Verlagsankündigung Ihres neuen Werks „Die ­Kobra von Kreuzberg“ steht: Decar beschwöre „eine Welt, in der Diebstahl die einzige Möglichkeit geworden ist, zu bekommen, was einem zusteht“. Sind Sie doch ein politisch aufmüpfiger Literat, der zur Revolution aufruft?

Nein, das ist ein Werbespruch, den ich mir ausgedacht habe, damit auch Berliner Intellektuelle den Roman kaufen. Meine Intention beim Schreiben war nicht dieses Robin-Hood-Prinzip …

… man nimmt von den Reichen und gibt es den Armen …

… oder behält es selbst – aber ich sympathisiere mit diesem Gedanken. //

teilen:

Assoziationen

Neuerscheinungen im Verlag

Cover Recherchen 167
Cover Rampe vol.2
Cover B. K. Tragelehn
Charly Hübner Buch backstage
Cover XYZ Jahrbuch 2023
Recherchen 162 "WAR SCHÖN. KANN WEG …"
"Scène 23"
"Zwischen Zwingli und Zukunft"
Recherchen 165 "#CoronaTheater"
"Die Passion hinter dem Spiel"
Arbeitsbuch 31 "Circus in flux"
"Passion Play Oberammergau 2022"
Recherchen 163 "Der Faden der Ariadne und das Netz von Mahagonny  im Spiegel von Mythos und Religion"

Anzeige