Auftritt
Schiffdorf/Gdynia: Im Zug durch die Zeiten
Das letzte Kleinod / Teatr Gdynia Glowna: „Flucht – Ucieczka“ (UA) von Jens-Erwin Siemssen. Regie Jens-Erwin Siemssen
von Andreas Schnell
Erschienen in: Theater der Zeit: Glanz und Elend – Shenja Lacher und das Ensemble-Netzwerk über die Zustände am Stadttheater (10/2016)
Assoziationen: Freie Szene Bremen Das letzte Kleinod
Nein, es hat nicht wenig an deutschsprachigen Theatern zu sehen gegeben zum Thema Flucht. Auch Das letzte Kleinod, ein freies Theater aus Schiffdorf, in der Nähe von Bremerhaven, hat sich damit in den vergangenen Jahren immer wieder beschäftigt. Aber nur selten rückte uns ein Stück so dicht auf die Pelle – geografisch, aber nicht zuletzt auch biografisch. Das schlicht „Flucht“ betitelte Stück erzählt von Fluchten mitten in Europa – kaum eine Familie, in der die Jahrhundertzäsur des Zweiten Weltkriegs nicht ihre Spuren hinterlassen hat.
20 Interviews hat Jens-Erwin Siemssen, Kopf des Letzten Kleinods geführt, mit Menschen, die einst vertrieben wurden, die von Krieg und existenzieller Bedrohung berichten. Sie waren Kinder damals. Sie kommen aus Bremerhaven, Frankfurt an der Oder, Gdynia und Kaliningrad. Indem er die Geschichten aus der europäischen Historie, aus der Vergangenheit unserer Gesellschaft holt, zeigt er, wie sich das Erlebte ähnelt. Und das Bedürfnis, von damals zu erzählen, ist offenbar groß. Siemssen erinnert sich an einen Zeitzeugen, der berichtete, wie seine Mutter vor seinen eigenen Augen vergewaltigt worden war, und während des Interviews in Tränen ausbrach. Bis vor zwei Jahren habe er niemandem davon erzählt. „Es ist ein Ventil“, sagt Siemssen, „und die Zeit ist reif, davon zu erzählen. Diese Generation will ihre Erfahrungen teilen, kann es aber nicht.“
Es ist die den Kleinod-Inszenierungen eigene kunstvolle Unbehauenheit, die diese Erfahrungen so nah an uns heranrücken lässt. Immer wieder sitzt das Publikum in „Flucht“ – eine deutsch-polnische Koproduktion, die per Zug von Polen nach Deutschland tourte – in Eisenbahnwaggons, von draußen hämmert es an die Wände. Ohne erkennbaren Grund, ohne ersichtlichen Zweck. Auf einmal bewegt sich der Zug, ruckweise. Ohnmächtig ist der Zuschauer, unbekannten Kräften ausgesetzt.
Dabei beginnt „Flucht“ eher leicht, verspielt vor Güterwagenkulisse, erzählt von einer mehr oder minder unbeschwerten Kindheit. Bis mit ausgebreiteten Armen und kindlichem „Di-di-di-di“-Maschinengewehr-Sound eine Schauspielerin aus dem sechsköpfigen Ensemble die Szene stürmt – ein Fliegerangriff. Es wird ernst. Und auch wenn wir von den Dingen wissen, die Kriege seit jeher mit sich bringen – Hunger, Todesangst, systematische Vergewaltigungen – bewegen die Erzählungen aus kindlicher Perspektive – mit all ihren Widersprüchen. Von einem Wagen zum nächsten geht es, barsch heißt es immer wieder: „Aussteigen!“, „Einsteigen!“, „Dawai, dawai!“.
Die vom Krieg ins Werk gesetzten Wanderbewegungen, die Entwurzelung und das Sprachgewirr deuten sich auch in den sprachlichen Akzenten an, die zu hören sind: Das Ensemble ist gleichsam Abbild wie Nachhall der Migrationsbewegungen jener Zeiten. Aus Polen, Deutschland, Russland und Kasachstan kommen die Schauspieler, die oft selbst, wenn auch aus weniger dramatischen Gründen, ihre Heimat verlassen haben.
Entstanden ist „Flucht“ in Zusammenarbeit mit dem Teatr Gdynia Główna, mit dem Das letzte Kleinod schon vor sechs Jahren ein Projekt umgesetzt hat. Die polnischen Kollegen arbeiten genauso wie das Schiffdorfer Theater in einem Bahnhof und pflegen, so Siemssen, eine ähnliche Ästhetik. Die Zusammenarbeit, die durch den Fond Szenenwechsel des ITI und die Robert Bosch Stiftung gefördert wurde, sei entsprechend gut verlaufen. Das Ensemble hatte dabei weniger Probleme mit dem Text als dessen Autor. „Wir haben auf Polnisch angefangen zu spielen, das fiel mir sehr schwer. Erst in Frankfurt war plötzlich mein Stück wieder da“, erinnert sich Siemssen an die ersten Aufführungen in Gdynia, Piła und Poznán auf dem Weg Richtung Westen.
Flucht, Exil, Vertreibung – der Themenkomplex ist für Siemssen nicht abgeschlossen, auch wenn sein Fazit recht nüchtern klingt: „Meine Aussage ist: Krieg ist scheiße. Flüchtlinge muss man aufnehmen, mehr steckt da nicht drin“, erklärt er, auf den politischen Gehalt von „Flucht – Ucieczka“ angesprochen. Dennoch geht es weiter. Unter den geplanten Projekten ist eines über Syrien, ein anderes über das Exil des letzten deutschen Kaisers Wilhelms II. Bei deren Umsetzung darf sich Das letzte Kleinod über den Theaterpreis des Bundes freuen, der in diesem Jahr zum ersten Mal vergeben wurde und dem Kleinod immerhin 75 000 Euro bescherte. „Der Preis hat Druck vom Kessel genommen“, sagt Siemssen. //