Wen bewerfen wir mit Molotowcocktails?
Der junge Schauspieler, Regisseur und Dramatiker David Gaitán über die Suche nach Protestzielen in Theater und Gesellschaft
von David Gaitán und Ilona Goyeneche
Assoziationen: Nordamerika Sprechtheater Akteure

David Gaitán, Sie sind ausgebildeter Schauspieler, aber auch ein hervorragender Autor und Regisseur. Wie arbeiten Sie in diesem Dreiklang?
Diese Frage wird mir in Interviews oft gestellt, und ich antworte immer, dass ich am liebsten spiele. Die Regie und das Schreiben kamen als Vorwand hinzu, um auf der Bühne stehen zu können, als persönliche Forschungsreise und als Versuch, mich in diesem Bereich akademisch fortzubilden. Trotzdem steht die mexikanische Theaterlandschaft einer Bewegung zwischen diesen drei Bereichen tendenziell abwertend gegenüber. Man wird misstrauisch, wenn ein Schauspieler anfängt zu schreiben oder Regie zu führen. Für die Kombination Autor-Regisseur gilt das nicht. Wenn man am Anfang steht, wird eine vielseitige und chaotische Ausrichtung erst einmal geduldet, aber nach und nach sollte man sich doch entscheiden. Das entspricht auch der hierarchischen Struktur im Theaterbereich und dem mit einer Spezialisierung verbundenen Streben, ganz nach oben zu kommen.
Was ist charakteristisch für Ihre Generation, und inwiefern unterscheidet sie sich von der vorherigen?
Der Hauptunterschied ist: Auf der Bühne, auf der wir unser Theater zeigen können, sind alle Tabus längst gebrochen. Das ist ein großes Privileg, weil wir dadurch über viel Freiraum verfügen. Vergleicht man jedoch die Grenzüberschreitungen der vorherigen Generationen, die noch einen Kampf auszufechten hatten, mit der unseren, dann habe ich das Gefühl, dass Grenzüberschreitungen nicht mehr an der Tagesordnung sind. Wir wissen nicht, auf wen wir die Molotowcocktails werfen sollen. Das große Thema unserer Generation ist die Suche nach Identität. Das hat damit zu tun, dass wir uns in einer Kunstszene bewegen, in der es zwar Dinge geben mag, um die man kämpfen muss, die aber poetisch wenig ausschlaggebend sind. Der Kampf dreht sich eher um interne Angelegenheiten wie Förderanträge oder die Produktion. Und weil wir die Idee der Grenzüberschreitung verloren haben, suchen wir andere szenische Anker, die sich ins postdramatische Theater einordnen. Wir suchen andere szenische Erfahrungen und machen Ausflüge hin zu anderen Theaterformen. Sehr häufig wird zum Beispiel in theaterfremden Räumen inszeniert.
Wenn man nun Mexikos derzeitige Situation in Betracht zieht, die durch das Verschwinden der 43 Studenten aus Ayotzinapa 2014 so deutlich wurde: Kann man dann noch von einer Generation sprechen, die nicht weiß, auf wen sie die Molotowcocktails werfen soll?
Nein, natürlich nicht. Ich wünsche mir – auch wenn dieser Wunsch mir Angst macht –, dass diese politische Lage ein Wendepunkt für das Land ist und nicht nur ein vorübergehendes Ereignis. Auch wenn die mexikanische Theatergemeinde sonst wenig repräsentativ für die Gesellschaft ist, hat sie – vor allem die neue Generation – im Verlauf der Ereignisse seit dem Verschwinden der 43 Studenten dafür gesorgt, dass die Proteste nicht zum Erliegen kommen. Mit diesem Thema und angesichts dieser Regierung und dieses Präsidenten haben wir ein Protestziel gefunden, an das wir glauben. Es erscheint uns notwendig und dringlich, alles dafür zu tun.
Gibt es ein Charakteristikum des mexikanischen Theaters?
Es gibt eine ausgesprochen mexikanische nationale Eigenheit, die meiner Ansicht nach irgendwo zwischen Schwäche und Folklore anzusiedeln ist. Ein Konflikt kann demnach nur vom Melodramatischen her begriffen werden. Es scheint fast, als herrsche eine tiefe Angst davor, einen Konflikt komplex zu gestalten. Bei Figurenzeichnung und Textanalyse neigt man dazu, Dinge zu vereinfachen und letztlich alles einem Werturteil unterzuordnen, das wenig Raum für kritisches Denken lässt.
Woher, glauben Sie, kommt das?
Ein Kernpunkt ist die künstlerische Realität in Mexiko. Ein Beispiel: In Mexiko-Stadt kann man jedes Wochenende ein gutes Theaterstück sehen. Trotzdem ist das Problem dort – und mehr noch in den Bundesstaaten – das fehlende Publikum. Wenn man also als Schauspieler auf der Bühne steht, ist man so dankbar, wenn überhaupt Publikum im Saal ist, dass man sich um diesen Zuschauer kümmert und um jeden Preis für seine Unterhaltung sorgen möchte. Das Ende vom Lied ist, dass wir unseren Schauspielergestus ins Melodramatische driften lassen. Heraus kommt ein Spiel, das die Zuschauer zufriedenstellt und unmittelbar effizient ist.
Sie inszenieren meist Ihre eigenen Texte. Wie war es für Sie, das Stück „Von den Beinen zu kurz“ der Schweizer Autorin Katja Brunner auf die Bühne zu bringen, eine Produktion, die Sie 2015 auch in Deutschland beim Heidelberger Stückemarkt und den Mülheimer Theatertagen zeigen werden?
Gereizt hat mich an diesem Stück, dass es zutiefst chaotisch ist. Ein sehr gewinnendes Chaos in der Komposition wie in der Ausführung des Themas. Mich hat auch gereizt, auf welche Art ein so heikles Thema wie die Beziehung zwischen einem Mädchen und seinem Vater angegangen wird: Von aufreizend provokanter Warte aus verteidigt, rechtfertigt und behauptet das Mädchen die sexuelle und partnerschaftliche Beziehung zu ihrem Vater. Diese Provokation ist einfach und kraftvoll zugleich, die Autorin besitzt die Dreistigkeit, diese Aussagen auf eine Bühne der „Hochkultur“ zu stellen und das Unvertretbare zu vertreten. Ein Großteil der Fragestellung lag darin, wie diese Herausforderung in eine Inszenierung übersetzt werden kann. Wie das Gefühl, das der Text vermittelt, ins Dreidimensionale übertragen? Das hat mich so gereizt wie einen kleinen Jungen ein unbekanntes Spiel. //
Erschienen am 28.3.2015