Akteure
Jeder Tag gehört der Rolle
Ahmad Mesgarha gilt über Dresden hinaus als eine Institution. Auf der Bühne vereint er Lust an der Magie der Szene und Sinn für architektonische Gestaltung
von Michael Bartsch
Erschienen in: Theater der Zeit: Tarife & Theater – Warum wir das Theater brauchen (02/2023)
Assoziationen: Sachsen Akteure Staatsschauspiel Dresden

Es bedurfte nicht des früher üblichen Black Facings, um aus Ahmad Mesgarha einen Fremden, einen Othello zu machen. Sein Name und ein etwas dunklerer Teint waren Stigma genug. Jedenfalls im Jahr 2016, als sich die furchtsamen Deutschen wieder einmal von Überfremdung bedroht fühlten. Zur Premiere im Großen Haus des Staatsschauspiels am 29. Oktober trat Mesgarha mit einem eigenen Prolog aus der Shakespeare-Rolle heraus. „Mein Name soll meine Maske sein. Meine Farbe heißt Ahmad“, rief er energisch und zugleich erklärend. Und zitierte süffisant einen Zeitungskritiker aus der zweiten Hälfte der 1980-er Jahre nach der Premiere eines Kafka-Stückes des Schauspielstudios Dresden: „Er spricht sehr gut Deutsch!“
Der gute Mann wusste nicht, dass Deutsch Mesgarhas Muttersprache ist. Sein Vater entstammt allerdings einer großen Schauspielerfamilie in Teheran, eher heiter-komödiantisch orientiert. „Die Gene haben sich übermittelt“, lacht Ahmad Mesgarha heute. Der Iran war auch schon zu Zeiten von Schah Reza Pahlavi ein Land der Verfolgungen, und so emigrierte sein Vater in die damalige DDR. 1963 wurde ihm und seiner deutschen Frau ein Sohn geboren. Der persische Name Ahmad ließe sich ungefähr mit „der Hochgepriesene“
übersetzen und spielt auf einen von Jesus im Neuen Testament angekündigten nachfolgenden Gesandten an. So fühlte er sich 2016 nicht gerade, sondern jeden Tag fremder, gestand er im Othello-Prolog. „Und je fremder ich mich fühle, umso mehr klammere ich mich an unsere Sprache“, schloss er damals. An unsere!
Genug ist nicht genug
Besucht man ihn heute in seiner Wohnung am Dresden-Loschwitzer Körnerplatz, kaum 200 Meter von der berühmten Elbbrücke „Blaues Wunder“ entfernt, ist überhaupt nichts fremd. Zwei Tage vor Heiligabend steht der raumhohe Christbaum schon geschmückt, „um die Zeit etwas zu strecken, ihn zu genießen“. Denn nur dieser 24. Dezember ist im Kalender als Familientag markiert, am Silvestertag stehen gleich drei Auftritte auf verschiedenen Bühnen an. Der Empfang kann herzlicher kaum sein, und nach wenigen Sätzen ist Mesgarha ungefragt schon bei Bekenntnissen zur Magie der Bühne.
Vor seiner etwa drei Jahre zurückliegenden persönlichen Krise hätte er vielleicht sofort eine geliebte Rotweinflasche geöffnet. „Dreißig Jahre Schauspieler zu sein bedeutet in erster Linie zu lernen, mit Alkohol umzugehen“, schreibt er im Manuskript für ein bevorstehendes Buch.
So aber kommt das Gespräch schnell auf ein Thema, das noch etwas gesünder ist als Rotwein. Die drahtige Figur des nun schon bald Sechzigjährigen lässt den Ausdauersportler per pedes oder auf dem Rennrad erahnen. Diese Selbstüberwindung, ja Quälerei hat mehr mit dem Theater zu tun, als man ahnt. Sieben Marathonstrecken ist Ahmad Mesgarha gelaufen, vier hat er in einem Aufwachzelt beendet. „Die Medaille lag wie ein Baby auf meiner Brust. Ich wusste nicht, wie ich ins Ziel gekommen bin.“ Er sei eigentlich kein besonders mutiger Mensch, „aber meine Tugend ist, dass ich zu weit gehen kann“. Wobei die Lust zur Selbstquälerei nun doch etwas nachlasse.
Das sei „vielleicht auch eine berufliche Macke“, reflektiert er. Denn auch auf der Bühne und in der Wortkunst reizt ihn alles, was über ein Durchschnittsmaß hinausgeht. Drei „Fäuste“ in zwei Tagen 2006 mit seinem Freund und Intendanten Holk Freytag beispielsweise oder viel zu dicke Bücher.
Diese Schilderung von Provokation und Selbstprovokation mag überraschen, denn auf Fotos erscheint Ahmad Mesgarha meist beherrscht, ja geradezu streng. Auch oder gerade in komödiantischen Rollen wirkt er äußerst diszipliniert und nicht als Vollstrecker seiner Leidenschaften. Was hatte ihn dann mit Mitte fünfzig vorübergehend aus der Bahn geworfen? Der Schauspieler mit dem Gefühl für Statik und Balance deutet an, dass manches in seinem Leben nicht mehr stimmte und Änderungswünsche erzeugte. Eine private Trennung zählte zu diesen. Mit Depressionen in der Klinik – solche Ausstiege kann sich ein Präsenzkünstler eigentlich nicht leisten. Bis dahin glich auch der Laufsport einer Sucht, bis zu hundert Kilometer in der Woche. „Mein Körper pendelte zwischen Sport und Alkohol“, gesteht er offen.
Ein Leben ohne Krisen ist keines. „Das Tier kommt wieder hoch, kleidet sich neu ein, erscheint sich selbst wieder neu.“ Oder singt beim Pilgern laut von der „long and winding road“ der Beatles. Mittlerweile habe er das Gefühl, wieder angekommen zu sein, sagt Mesgarha. Sein Garderobennachbar und Herzensfreund Christian Friedel habe in vergleichbarer Lage einen Satz von Robert Wilson zitiert, der auch ihm half: „Jeder Tag gehört der Rolle, auch die Tage, wo du schlecht drauf bist!“ Goethes „Du bleibst doch immer, was du bist“ aus dem „Faust II” kann in Lebenskrisen auch ermunternd interpretiert werden. Friedel als Macbeth und Regisseur und Mesgarha als Duncan stehen übrigens seit dem vorigen Herbst mit großem Erfolg gemeinsam auf der Dresdner Schauspielbühne.
Von der Architektur einer Inszenierung
Vor den Krisen aber stand für den jungen Ahmad Mesgarha ein recht selbstsicherer Einstieg in den Schauspielerberuf. Nicht geradeaus, jedoch erscheint die Schulbildung als Baufacharbeiter mit Abitur als eine logische Vorstufe. Die ererbte Theatralik des Vaters bildete die eine Komponente, das Aufwachsen in einem vom Bau geprägten elterlichen Freundeskreis die andere. „Ich wollte Architekt werden“, blickt er zurück, und noch Jahre später soll ihn Kollegin Regina Jeske bei Proben einmal einen „elenden Architekten“ genannt haben. Mit gestalterischen Exkursen soll er auch schon Kommilitonen der 1985 in Leipzig begonnenen Schauspielausbildung traktiert haben.
Die Affinität zum Bau geht einher mit dem Sinnlich-Haptischen. Gern Holz riechen und berühren! Das Konstruktive setzt sich auf der Bühne fort. Fundament und Balance spielen in einer Inszenierung eine Rolle, für Ahmad gilt es, „die Statik meiner Rollen von unten zu überprüfen“. Er zieht weitere Vergleiche wie den, das Verhältnis zwischen Kleinem und Großem zu bestimmen, zwischen Tragwerk und Ornament. „Als Hendrik Höfgen über den Nationalsozialismus reden und dabei ein Ei essen …“ Diese Anlage korrespondiert mit seinem darstellerischen Talent.
„Ich habe aus Gestaltungslust zum Theater gefunden, mochte immer das Spiel, den Raum und die Farben. Die Aussage blieb lange zweit- und drittrangig.“ Geradezu lustvoll beschreibt er jenen Bühnenzauber, der bis heute anhält, aber auch Maßstab der Qualität und der Erfüllung ist. Es geht um die Wirkung der Person in einem Raum, agierend zwischen Stille und Lärm, zwischen dem Nichts und dem Geheimnis. Gemeinsam mit der Regie auf der Bühne nach Orten suchen, wo die Spannungsfelder am größten sind – als ob man Wasser findet. „Um was es ging? Das war zunächst nicht so wichtig, Hauptsache, es machte Eindruck!“
Mesgarha spricht in der Folge von den „größten Glücksgefühlen, mit einem Gedanken auf der Bühne zu stehen, diesen weiterzugeben und mit ihm Lachen und Tränen zu erzeugen“. Ein Magier also? Und ein bisschen Missionar? Auch ein bisschen an sich selber denken: „Vor allem war das alles eine große Therapie für mich!“
Begabt und offen für alles, aber auffallend Dresden-treu
Überflüssige Standardfrage also, wie er zum Theater gekommen sei. „Man geht hin! Das ist keine Entscheidung, du hast keine andere Wahl!“ Erst recht nicht, wenn sich schon in Kindertagen der Zauber einer zweiten Welt einstellte, als sich der Vorhang hob. Ahmad konnte sich nicht vorstellen, dass dieser Akteur da vorn später als gewöhnlicher Mensch wieder auftauchte, gar auf die Toilette gehen musste. „Der lebte nur für die Rolle, der ist ein Botschafter Gottes!“
Die Leipziger Hochschule für Musik und Theater vermittelte dafür das Handwerk. Deren Dresdner Schauspielstudio bot willkommene Ausprobierbühnen wie das alte Astoria-Kino auf der Leipziger Straße. Mit Uwe Steimle etwa spielte er in Heiner Müllers „Drachenoper”. In Dresden wäre er auch gern geblieben, obschon es „Angebote von allen Theatern gab, die mich gesehen haben“. Weg vom erdrückenden Berlin jedenfalls. Aber am Dresdner Staatsschauspiel stand 1990 in der Zeit der Wende-Umbrüche der Intendantenwechsel von Gerhard Wolfram zu Dieter Görne bevor. Sicherheitshalber wurde in dieser Phase der Neuorientierung niemand eingestellt.
Stattdessen folgte ein nur dreimonatiges Intermezzo am Neuen Theater Halle. Noch von den teils illegalen Aufbauarbeiten knapp zehn Jahre zuvor geprägt, hätte sich das Gesicht von Intendant Peter Sodann „in jugendlicher schöner Offenheit erhellt“, als er von der Berufsausbildung des Bewerbers hörte. „Du kannst mauern?!“ Als dann doch in Dresden der Vertrag winkte, habe er ihn in gewohnt apodiktischer Weise verabschiedet: „Du wirst in Dresden berühmter, aber hier wärst du glücklicher geworden!“
Wer dem Staatsschauspiel Dresden seit nunmehr 32 Jahren die Treue hält, kann indessen nicht so unglücklich geworden sein. Aufsehen erregte er tanzend und singend 1993 in der Titelrolle des Frank ’n’ Furter bei der „Rocky Horror Show”, während des Schauspielhaus-Umbaus im Arena-Zelt. Er habe zehn Jahre gebraucht, um dieser Rolle wieder zu entkommen, scherzte er später. Eine Aufzählung tragender Rollen würde Seiten füllen, darunter auch der „Mephisto“. An Vielseitigkeit dürfte er kaum zu übertreffen sein. In der laufenden Spielzeit lebt Rainald Grebes Münchhausen-Adaption wesentlich von köstlichen Dialogen eines ganz normal verklemmten Liebespaares, die der Erzkomödiant gemeinsam mit Anna-Katharina Muck improvisiert.
Ambitionierte Regisseure wie Volker Lösch mag er gut leiden. „Er ist ein Tyrann, ein Theatertier – aber ich auch!“ Vom narzisstischen Regietheater, das nicht zuerst den Impetus der Spieler selbst spiegelt und führt, hält Mesgarha nichts. Aktuell hat es ihm „Die Familie Schroffenstein“ angetan, der Erstling „seines Freundes“ Kleist, in der Regie von Tom Kühnel. Zuerst wegen der „blinden, aber genauen Pässe“ im Zusammenspiel. Und Verdrängung auf hohem Niveau werde da inhaltlich vorgeführt. Das Zerwürfnis der beiden Familien habe eine politische Dimension, so, wie das Theater am politischsten wirke, wenn es auf die Folgen des Vergessens von Politik hinweise. „Ist Theater nicht immer die Suche nach einer Haltung?“
Eine Handvoll Filmrollen hat Ahmad Mesgarha auch schon übernommen, zuletzt 2021 in einem Dresden-„Tatort“. Seine Vielseitigkeit hat ihn zuletzt häufiger auch auf freie Bühnen geführt, in die Nähe des gehobenen Boulevards. In Rolf Hoppes Hoftheater zum Beispiel mit einem neu komponierten Otto-Reutter-Programm und mit eigenen Texten, die wiederum viel vom Theater handeln. In diese Richtung wird auch ein Buch gehen, das er sich selbst und den Lesern zum bevorstehenden 60. Geburtstag schenken will.
Der Zauber bleibt
Wenn man über solche Theaterweisheiten mit ihm spricht, ist vom Erich-Ponto-Preis des Staatsschauspiels 2004 gar nicht die Rede. Von der Sucht nach Applaus schon eher. „Ein Schauspieler, der von der Bühne kommt, muss gelobt werden, weiter nichts, auch wenn er schlecht war.“ Kritiken liest er und bleibt verletzbar, auch wenn er von ihnen nicht mehr abhängig ist. Das Gefühl „Welch ein Zauber, dass ich in dieses Haus gehe“ hält an. „Gib mir eine Bühne und möglichst Stille um mich herum, und ich bin in meinem Vollbesitz der Lust!“ Schmunzelnd hört man, wenn er vom bevorstehenden Alter spricht, in dem er auch nur werden könne, was er ist, aber noch kultivierter. „Es ist der Spagat, auf den ich mich freue; der Spagat zwischen Rampe und Reue“, heißt es am Schluss eines seiner selbst geschriebenen Couplets.