Stück
Nachts im Ozean
von Michel Decar
Erschienen in: Theater der Zeit: Vorwärts immer, rückwärts nimmer – Schwerpunkt Klassismus (02/2021)
Assoziationen: Dramatik Anhaltisches Theater Dessau
FIGUREN
MOSKOWITZ
NIGHTINGALE
CÁCERES
TEIL I
DAS TRAURIGE HALLENBAD
1.
MOSKOWITZ
Alles begann mit einem Anruf aus Montevideo. Nestor Cáceres, Direktor des Teatro Nacional, ein gleichermaßen intelligenter wie grimmiger Mann, war am Apparat und bat mich, ein Theaterstück über den Untergang der Admiral Graf Spee im Río de la Plata zu schreiben. Ehe ich ablehnen konnte, präzisierte Cáceres bereits seine Vorstellungen. Das Stück solle zeitgenössisch werden, aber nicht zu modern, zugänglich, aber nicht bieder, offen, aber nicht zu experimentell, als Abgabedatum würde er den 31.03. festsetzen, und als Vorschuss könne er mir auf der Stelle 20.000 USD überweisen. Nach einigem Zögern willigte ich – zu meiner eigenen Überraschung – noch am Telefon ein. Immerhin konnte ich das Geld gut gebrauchen. Vorletztes Jahr war meine Tochter Thérèse geboren worden, und ich hatte keine anderen Projekte, die sich unmittelbar aufdrängten. In den nächsten Wochen arbeitete ich also eine Handlung aus, die der Historie und Cáceres Vorstellungen gerecht werden sollte. Ich entwickelte eine Synthese aus Schicksal und Dramaturgie, setzte pointierte Dialoge in die Szenen, fand ein überraschendes Ende und schickte bereits einige Tage vor der vereinbarten Frist die erste Fassung von Nachts im Ozean an das Nacional. Kurz nach Ostern bekam ich wieder einen Anruf. Cáceres hatte ein paar wenige Anmerkungen, vor allem stilistischer Natur, und abgesehen davon, dass er den Titel für irreführend hielt, schien er sehr zufrieden und gratulierte mir zu meinem Werk. Des Weiteren, sagte Cáceres in einem plötzlich abwertenden Tonfall, sei es ihm gelungen, neben dem Goethe-Institut auch den Industriemaschinenhersteller TecnoCiéntifica als Sponsor zu gewinnen, der es möglich machte, mir ein anständiges Hotelzimmer plus Flugticket nach Montevideo zu spendieren. Ein paar Tage später traf auch die zweite Rate des Honorars ein, und nachdem ich noch ein paar letzte Änderungen am dritten Akt vorgenommen hatte, wandte ich mich anderen Arbeiten zu und vergaß Nestor Cáceres und das Teatro Nacional wieder. Ich unternahm eine Sibirien-Reise mit Su-Zeong, arbeitete an meinem autobiografischen Romanprojekt und verbrachte ein paar Monate damit, den zunehmend feindseligen Text in die von mir gewünschte Richtung zu lenken, bevor ich für immer die Kontrolle darüber verlieren würde.
Kurze Pause.
Mitte November bekam ich dann eine Mail von Cáceres’ Assistentin Sofía Vallejos, die mich über den Stand der Proben informierte und nach meinen Daten für die Flugbuchung fragte. Und weil Su-Zeongs Eltern diesmal keine Zeit hatten, um auf Thérèse aufzupassen, und weil es zwischen Su-Zeong und mir in letzter Zeit ehrlich gesagt auch etwas schwierig gewesen war, flog ich am 11. Dezember alleine mit Air France über Paris nach Montevideo. Sofía Vallejos – ich vermutete eine ältere Dame um die 60, denn sie begann ihre Mails stets mit den Worten Distinguido Señor – hatte mir geraten, am Flughafen ein Taxi der Firma Carrasco zu nehmen, was ich dann ganz gegen meine Art auch tat, obwohl ich mir noch kurz vor dem Abflug verschiedene Busverbindungen in die Innenstadt herausgeschrieben hatte. Das Hotel Miraflores lag mitten im Centro, und als ich vor dem Schlafengehen noch einen Spaziergang über den hell erleuchteten Plaza Independencia unternahm und die warme, weiche Luft auf meiner Haut spürte, schoss es mir durch den Kopf, welcher Glücksfall dieser Auftrag doch gewesen war. Und als ich später Su-Zeong noch etwas auf die Mailbox sprach, sagte ich genau das, ich sagte: Was für ein Glücksfall das hier doch ist, was für ein absoluter Glücksfall.
2.
MOSKOWITZ
Am nächsten Morgen stand ich spät auf und bummelte im Barrio Sur umher, wo ich mir in einem Café ein kleines Frühstück bestellte. Ich lud mir die Karte der angrenzenden Viertel im Wi-Fi herunter, um Google Maps auch offline benutzen zu können, und scrollte jetzt ein bisschen hin und her, als ich sah, dass die Avenida 18 de Julio ganz in der Nähe lag. Ich zahlte und beschloss, auf meinem Rückweg noch auf einen Abstecher im Teatro Nacional vorbeizuschauen. Auch wenn die Premiere erst in sieben oder acht Stunden beginnen würde, wollte ich mir schon jetzt einen Flyer oder Programmzettel mitnehmen und ein Foto davon an Su-Zeong schicken. Doch als ich die Avenida 18 de Julio entlanglief und vor der Nummer 1790 stehenblieb, musste ich feststellen, dass unter der von mir notierten Adresse kein Theater existierte. Ich ging zweimal um den Block und fragte eine Passantin, ob das hier nicht die Adresse des Teatro Nacional sei, doch sie schaute mich an, als ob sie gerade zum ersten Mal davon hörte.
NIGHTINGALE
Oh, das tut mir leid, da kann ich Ihnen nicht weiterhelfen.
MOSKOWITZ
Dann glich ich auf meinem Handy das Bild von Google Maps mit dem Bild der Realität ab. Alles stimmte bis ins kleinste Detail, nur das Teatro Nacional war eben nicht da, wo es sein sollte. Anstatt sofort Cáceres’ Büro anzurufen und weil ich in solchen Dingen geizig bin, lief ich zurück ins Hotel, wo ich kostenloses Wi-Fi hatte, checkte meine Mails und suchte die Telefonnummer heraus, die mir Sofía Vallejos vor einigen Tagen geschickt hatte. Ich wählte die Nummer vom Hoteltelefon aus, doch keiner meldete sich. Dann ging ich auf die Homepage des Teatro Nacional, um dort noch eine andere Nummer zu finden, doch alles, worauf ich stieß, war die Information, dass die Seite vorübergehend außer Betrieb sei.
Ich lud Google Maps erneut und zoomte auf die Avenida 18 de Julio 1790. Tatsächlich war dort das Teatro Nacional verzeichnet. Ich überlegte, Su-Zeong anzurufen, aber da es in Antwerpen schon Abend war und sie morgen früh arbeiten musste, würde sie sicher nicht rangehen. Dann suchte ich die Nummer des Goethe-Instituts heraus, doch als ich die letzten Ziffern in das Telefon tippte, kam ich mir so lächerlich vor, dass ich sofort wieder auflegte. Ich musste kurz lachen bevor ich mich aufs Bett warf und mir unendlich schlecht wurde. Ich schloss die Augen und überlegte, ob ich in meinem Mailverkehr mit Sofía Vallejos irgendein Detail vergessen oder übersehen hatte, und gerade als ich dazu neigte, die ganze Sache als dummes Missverständnis zu betrachten, klingelte das Telefon. Der Portier eröffnete mir, dass um Punkt 19 Uhr ein Wagen vor dem Hotel auf mich warten würde. Von wem der Wagen sei, sagte er nicht. Dann legte er auf. Sehr gut, dachte ich, das ist eine Geste der Höflichkeit und des Respekts. Und es gibt keinen Grund, der Sache zu misstrauen.
Kurze Pause. Ein Windzug.
Ich stand auf der anderen Straßenseite, als der Wagen eintraf. Es war ein schwarzer Mercedes CL mit dunklen Scheiben, den ich eine Weile beobachtete. Niemand stieg aus, niemand stieg ein, und auch einen Fahrer konnte ich nicht erkennen. Dann, plötzlich, es war bereits Viertel nach sieben, setzte sich der Wagen wieder in Bewegung und fuhr davon. Ich weiß nicht, wie lange ich noch dastand – zwanzig Minuten, dreißig Minuten – und es nicht schaffte, meine Füße zu bewegen. Dann ging ich langsam, immer noch die Straße beobachtend, in die entgegengesetzte Richtung, die der Wagen genommen hatte, runter zum Plaza Independencia und ließ mich von der Menge verschlucken. Erst kurz nach Mitternacht wagte ich mich ins Hotel zurück.
3.
MOSKOWITZ
Ein paar Stunden später wurde ich aus dem Schlaf gerissen, aber nicht vom Klingeln des Weckers, wie ich zuerst annahm, sondern von einem Anruf mit unbekannter Nummer. Ich nahm ab, und am anderen Ende der Leitung war Cáceres, der sich schwer beleidigt zeigte, dass ich nicht zur Premiere erschienen war. Ich versuchte ihm zu erklären, dass mich plötzliche Kopfschmerzen ans Bett gefesselt hätten, und während ich die Vorhänge meines Hotelzimmers zur Seite schob, um die Straße nach dem schwarzen Mercedes CL abzusuchen, versuchte ich in Cáceres Stimme zu erkennen, ob seine Enttäuschung aufrichtig oder Teil von etwas anderem war, das ich nicht zu entschlüsseln vermochte. Schließlich verabredeten wir uns für 14 Uhr zum Mittagessen, aber nicht im Tres Cruces, wie er vorgeschlagen hatte, sondern im Restaurant des Hotel Miraflores, darauf hatte ich nachdrücklich bestanden, genau wie er darauf bestanden hatte, für mich einen Termin bei seinem Hausarzt zu vereinbaren, der sich meiner Kopfschmerzen annehmen sollte.
Kurze Pause. Das Geräusch von Wellen in der Ferne.
Obwohl ich zwanzig Minuten zu früh kam, war Cáceres schon da. Ich erkannte ihn nicht auf den ersten Blick, zu sehr unterschied sich sein Äußeres von den zwei oder drei Fotos, die ich im Internet von ihm gefunden hatte. Er war groß, hager und trug eine Art dünne Kastenbrille, wie sie momentan bei den uruguayischen und argentinischen Intellektuellen Mode war. Seine Stimme klang jetzt feiner, beinahe zeremoniell, und nachdem wir uns gesetzt hatten und er mich fragte, wie es meinem Kopf ginge, war ich mir für einen Moment nicht sicher, ob seine Stimme die Stimme war, mit der ich noch vor ein paar Stunden am Telefon gesprochen hatte.
Wie geht es dem Kopf?, fragte Cáceres oder der Mann, der sich für Cáceres ausgab. Schlecht, sagte ich, sehr schlecht. Gut, sagte er, dann sollten wir Champagner trinken! Ich Champagner, Sie Mineralwasser, das wird uns helfen, den Tag zu überleben. Und dann bestellte er Dutzende Vor- und Nachspeisen, von denen wir höchstens die Hälfte aßen, und ließ immer weitere Getränke kommen, während er von der in seinen Augen gelungenen, ja, überaus gelungenen Premiere berichtete, sodass ich nicht anders konnte, als ihm zu versprechen, mir am Abend die zweite Vorstellung anzuschauen. Aber bitte schicken Sie keinen Wagen, sagte ich und fügte kleinlaut an, ich würde gerne zu Fuß gehen, der Luft und der Kopfschmerzen wegen. Cáceres schaute mich verwundert an, als würde er mich fragen wollen: Welcher Wagen? Oder: Welche Luft? Aber er ging nicht weiter darauf ein, und ich bat ihn, mir noch einmal Straße und Hausnummer des Teatro Nacional auf einen Zettel zu schreiben. Dann verabschiedete ich mich schnell auf mein Zimmer. Im Aufzug betrachtete ich immer wieder abwechselnd die Adresse, die mir der Direktor aufgeschrieben hatte, es war die Avenida 18 de Julio 1790, und die Adresse, die ich mir vor meinem Abflug notiert hatte, ebenfalls die Avenida 18 de Julio 1790, und tippte sie in den verschiedensten Schreibweisen bei Google Maps und OpenStreetMap ein, das ich mir inzwischen zusätzlich heruntergeladen hatte, nur um jedes Mal denselben Treffer zu erhalten. Señor, sagte ich zu einem Portier, den ich auf dem Gang meines Stockwerks entdeckte, können Sie mir sagen, wo diese Adresse ist? Natürlich, gar kein Problem, Mister Moskowitz, antwortete dieser auf Englisch, obwohl ich ihn in fast akzentfreiem Spanisch gefragt hatte, das ist ja gleich um die Ecke beim Plaza de los Treinta y tres orientales, das lässt sich kaum verfehlen. Ausgezeichnet, sagte ich, Sie haben mir da sehr geholfen, drehte meinen Schlüssel im Schloss herum, ehe ich mich noch mal zu ihm umwandte und fragte: Haben Sie vielleicht Lust, mich heute Abend ins Theater zu begleiten?, obwohl ich natürlich wusste, dass er das Angebot ablehnen würde, ja, ablehnen musste, und um ehrlich zu sein, wusste ich auch gar nicht, warum ich ihn überhaupt gefragt hatte, sodass ich mich sofort für die Frage entschuldigte und schnell die Tür hinter mir schloss. Ich warf mich auf das Bett, wählte Su-Zeongs Nummer, und nachdem sie dreimal nicht abgenommen hatte, sprach ich ihr eine Nachricht auf die Mailbox, sagte, dass ich die Premiere wegen einer völligen Dummheit verpasst hätte, dass mir Google Maps und der Jetlag einen fürchterlichen Streich gespielt hätten und dass ich mich gleich auf den Weg machen würde, um die zweite Vorstellung zu sehen. Außerdem, und das betonte ich besonders, würde ich an sie denken und mich freuen, wenn sie mich bald zurückrufen würde.
4.
MOSKOWITZ Nachdem ich etwas geschlafen hatte, verließ ich das Hotel um halb sechs und lief die Calle San Jóse entlang, einem Stadtplan folgend, den ich mir im Hotel mitgenommen hatte. Ich steuerte das Cordón an, diesmal jedoch von Westen, passierte den Jockey Club und den Palacio Uriarte de Heber, kam an Shops und Kiosken vorbei und kaufte in einem heruntergekommenen Antiquitätenladen ein goldenes Kaninchen für meine Tochter. Dann lief ich weiter, studierte immer wieder den Stadtplan, die Geometrie, die Straffheit der Straßen, als ich auf einem Werbeplakat ein kleines Mädchen entdeckte, das genau wie Thérèse aussah. Gerade als ich ein Foto machen wollte, um es Su-Zeong zu schicken, wusste ich, dass ich nicht nur sie, sondern auch meine Tochter für immer verloren hatte, dass sie mit ihren 22 Monaten bereits unendlich weit weg war, dass ich keine Gefühle und Gedanken hatte, die ich mit ihr teilen konnte. Und das alles machte mich so unendlich traurig, dass ich mich auf eine Bank setzte und dort eine halbe Stunde geradeaus starrte und sicher noch länger geblieben wäre, hätte ich mich nicht gezwungen weiterzugehen, um das Theater noch pünktlich zu erreichen. Immer wieder glich ich den Stadtplan mit den Straßenschildern ab, immer wieder flatterten Schwärme grüner Papageien über meinen Kopf, je tiefer ich ins Herz des Tres Cruces vorstieß. Doch als ich von der Avenida Gral Rondeau in die Avenida 18 de Julio einbog und mich der Nummer 1790 – diesmal von der anderen Seite – näherte, wusste ich bereits, was mich erwarten würde. Ich erkannte die Häuser und Fassaden, von einem Teatro Nacional nicht die geringste Spur.
Ein Teatro Nacional existierte hier nicht, hatte wahrscheinlich nie existiert, jedenfalls nicht in der 1790, wo nichts weiter als ein Wohnhaus stand und mich durch seine Gegenwart verspottete. Ich drehte mich um und schaute, ob ich von jemandem verfolgt wurde, ohne auch nur im Ansatz zu wissen, wer das sein sollte, musterte die Fenster auf der gegenüberliegenden Straßenseite, als würde dort ein Publikum sitzen und jeden Augenblick anfangen zu lachen, begann zu laufen, erst langsam, dann immer schneller, entfernte mich Meter für Meter vom nicht existierenden Teatro Nacional und sprang in einen Bus, der gerade vor mir hielt. Ein oder zwei Stunden saß ich dort und starrte aus dem Fenster, dahinter die immer dunkler werdende Stadt. Als wir die Endhaltestelle erreichten, stieg ich aus und nahm einen anderen Bus, der mich zurück ins Zentrum brachte, bis wir wieder die Endhaltestelle erreichten und ich in den nächsten Bus stieg. So verfuhr ich mich immer tiefer im Labyrinth der Stadt, ohne auch nur einen Gedanken im Kopf zu haben, so wie jemand, der schläft oder vorgibt zu schlafen, um sich vor etwas Schrecklicherem zu retten.
Kurze Pause. Das Flackern einer Neonröhre.
Es war kurz nach Mitternacht, als ich mich dem Hotel näherte, diesmal jedoch nicht von vorne, sondern von einer Seitenstraße. Ich ging die Rückseite des Gebäudes entlang, als ich den Portier entdeckte, mit dem ich noch am Nachmittag gesprochen hatte. Er stand an der offenen Tür des Kücheneingangs und drückte gerade seine Zigarette aus, als ich vorsichtig aus dem Schatten der Seitenstraße hervorkam. Wie war das Theaterstück?, fragte er ruhig und fast mit einer Spur von Mitleid. Gut, sehr gut, sagte ich, es hat mir wirklich gut gefallen. Das freut mich, sagte er und hielt mir die Tür auf, die hinter mir sofort ins Schloss schnappte. Wir folgten einem verwinkelten Gang, an dessen Decke Heizungsrohre entlangliefen, ehe wir die Lobby erreichten. Die Wände waren mit dunklen Hölzern verkleidet, schwere kokosfarbene Vorhänge und Teppiche in gedeckten Farben dämpften die Stimmen der Gäste, die sich leise auf den Sesseln und Sofas unterhielten, als mir zwei Damen in Bademänteln auffielen, die auf einer Marmortreppe an uns vorbeihuschten, um in ein weiteres Stockwerk nach unten zu gelangen. Der Portier, dem aufgefallen war, dass ich angehalten und mich umgedreht hatte, fragte, diesmal jedoch auf Spanisch, ob ich schon im Hallenbad des Hotels gewesen sei, zweifellos eines der schönsten und ältesten Bäder des Kontinents. Nein, sagte ich, ganz im Gegenteil, ich wusste ja gar nichts von einem Hallenbad, drehte mich um und stieg wie in Trance in die Tiefe hinab. Blind folgte ich dem chlorhaltigen Geruch und fand mich nach einigen Metern im warmen Dampf der Umkleidekabinen wieder.
Wie fanden Sie das Stück?, fragte mich eine Stimme aus dem Nebel. Es war Cáceres, der seine Kastenbrille ab- und eine enge, goldene Badehose angelegt hatte. Bevor ich etwas antworten konnte, drehte er sich, der gerade noch sein Bild in einem der großen Spiegel betrachtet hatte, zu mir und schaute mich mit seinen tiefbraunen Augen direkt an. Erst jetzt erkannte ich im Blick des Direktors, dass sein Ziel nicht meine Demütigung, sondern meine vollständige Vernichtung war, und ohne mich dagegen wehren zu können, folgte ich ihm ins Innere des Hallenbades.
5.
MOSKOWITZ
Mit einem weiten, angeberischen Hechtsprung sprang Cáceres ins Becken und schwamm einige Meter unter Wasser. Ich betrachtete die Decke, die mit Stuck verzierten Säulen, die kleinen Balkone an der gegenüberliegenden Galerie, die in ein dunkles Licht getaucht war. Außer dem Direktor befand sich nur eine weitere Person im Wasser, und als ich zu ihr hinüberschaute, bemerkte ich, dass auch sie mich beobachtete. Wie fanden Sie das Stück, Señor Moskowitz?, fragte sie mich mit einer bestechend klaren Stimme.
Gut, sagte ich, sogar sehr gut. Ich fand es supergut. Cáceres, der inzwischen wieder aufgetaucht war, schwamm in ein paar wenigen, athletischen Zügen zu ihr hinüber und schaute mich herausfordernd an.
Darf ich Ihnen Sofía Vallejos vorstellen?
Wollen Sie nicht eine Runde mit uns schwimmen, sagte sie, nachdem ich nicht geantwortet hatte, das Wasser ist so herrlich heute.
Nein, nein, rief ich, nein, danke, wobei ich es endlich schaffte, mich zu bewegen, und langsam rückwärts lief, ich bin schon sehr müde, wahnsinnig müde, und außerdem habe ich ja gar keine Badehose dabei, bitte entschuldigen Sie mich jetzt, und rannte durch die Umkleidekabinen zurück in die Lobby, durchquerte die Eingangshalle, dachte, nicht den Aufzug, nimm nicht den Aufzug, rannte das Treppenhaus nach oben und sperrte mit zittrigen Händen meine Zimmertür auf. Sofort begann ich zu packen und warf meine Hemden und Bücher aufs Bett, ging ins Badezimmer und sammelte die Cremes und Tuben ein, lief noch mal durchs ganze Zimmer, kontrollierte, ob ich ein Ladegerät oder etwas anderes vergessen hatte, und war gerade dabei, meinen Koffer zu schließen, als ich aus den Augenwinkeln das Geschenk sah, das auf der Kommode stand und mich furchtbar erschreckte. Ich musste es die ganze Zeit übersehen haben. Wie in Zeitlupe ging ich darauf zu und löste zögerlich die rote Schleife. Ich wickelte das Papier auseinander und fand eine goldene Badehose. Ohne es zu wollen, ohne eine Chance, dagegen anzukämpfen, zog ich wie automatisch meine Hose und mein Hemd und meine Socken aus. Ich dachte noch immer daran, meinen Koffer fertig zu packen, Su-Zeong anzurufen und ein Taxi zu bestellen, um sofort zum Flughafen zu fahren, aber ich tat es nicht, denn was ich tat, war, die goldene, enganliegende Badehose anzuziehen. Langsam betrachtete ich mein Bild im Spiegel, drehte mich immer wieder von links nach rechts, von rechts nach links und musste feststellen, dass mir die Badehose wie angegossen passte. Mit einem Handtuch über der Schulter sah ich mich über die Hotelflure laufen, mit dem Fahrstuhl hinabfahren, dem Chlorgeruch folgen, bis ich endlich die Umkleidekabinen erreichte. Erst jetzt merkte ich, dass mir Tränen in den Augen standen.
Kurze Pause.
Mit einem weiten, angeberischen Hechtsprung sprang ich ins Becken, tauchte ein paar Meter und schwamm zu Sofía Vallejos hinüber. Ich hatte keine Angst mehr, keine Zukunft. Ich war angekommen. Um mich herum fühlte ich den Marmor, das Wasser, das Licht. Und Sofía Vallejos, die meinen Flug nach Montevideo gebucht hatte, die jedes Detail von mir kannte, mein Geburtsdatum, meine Reisepassnummer, meine Liebe und meine Trauer. Ich hatte ihr alles geschrieben, und sie hatte mich hergeholt. All das dachte ich, als ich in eleganten, athletischen Zügen zu ihr hinüberschwamm, Schwimmzüge, wie ich sie noch nie in meinem Leben gemacht hatte.
Ich habe mir gewünscht, dass du zurückkommst, sagte sie und glitt näher an mich heran. Ich sagte nichts, konnte nichts sagen und blickte sie nur lange an. Warum bist du so traurig?, fragte sie leise und strich mir durch das nasse Haar. Das Stück wird der Erfolg des Jahres. Heute Abend kamen die ersten Kritiken, allesamt Hymnen. Die Vorstellungen werden für Monate ausverkauft sein.
Ihre Augen stachen in meine Augen, ihr Mund öffnete und schloss sich, wir atmeten, wir existierten. Genau das dachte ich: Wir atmen, wir existieren. Und ich wusste, was zu tun war. Wusste, dass ich nichts anderes machen musste, als ein jahrtausendealtes Wissen anzuwenden. Und auch sie wusste es. Wir glitten aufeinander zu wie Geister oder Maschinen. Und indem wir uns immer enger umschlangen, sanken wir auf den Boden des Hallenbades, ganz so, als würden wir uns vornehmen, unrettbar zu ertrinken.
TEIL II
DAS GOLDENE KANINCHEN
1.
NIGHTINGALE
Wir flogen mit AF 180 von Paris nach Montevideo. Ich saß in Reihe 41, Moskowitz in Reihe 28, weil das Goethe-Institut zu geizig gewesen war, Business oder wenigstens Premium Economy zu buchen. Moskowitz trug seine übliche schwarze Cordhose, seinen schwarzen Rollkragenpullover und seine Hornbrille. Ich trug eine schwarze Hose, schwarze Schuhe, eine schwarze Bluse und Kontaktlinsen, die ich von Rosenquist bekommen hatte. Mit ein paar Minuten Verspätung warf die Boeing ihre Triebwerke an, und kurz nach 14 Uhr waren wir in der Luft. Als ich meine Tasche aus dem Gepäckfach holte, sah ich, dass Moskowitz bereits angefangen hatte, den chinesischen Spielfilm Bounty Hunter zu schauen, was ich dann auch tat. In Bounty Hunter ging es um zwei Männer, die in irgendeine Sache hineinschlittern, von der sich schwer sagen lässt, was sie überhaupt darstellt. Dann gab es Essen. Ich hatte mich für Hühnchen entschieden, Moskowitz für das vegetarische Menü. Moskowitz entschied sich meistens für das vegetarische Menü, wie ich von Al Thani wusste. Kurz darauf schlief er ein, und ich war mir sicher, dass er eine Schlaftablette genommen hatte. Auch ich beschloss jetzt, ein paar Minuten zu schlafen, und als ich die Augen zumachte, sah ich Al Thanis Gesicht vor mir: Al Thani in seinem grauen Anzug, Al Thani, der in der Menge verschwand, immer wieder Al Thani. Ich überlegte, ob auch er es gewesen war, der mir Flug und Sitzplatz gebucht hatte, denn Al Thani war dafür bekannt, dass er jede Buchung gegenchecken wollte, jede Buchung gegenchecken musste. Es war der alte Al Thani-Spleen, niemandem zu vertrauen, am allerwenigsten natürlich Rosenquist, aber wer hätte schon Grund gehabt, Rosenquist zu vertrauen? Ja, Al Thani hatte mir den Sitzplatz gebucht, ganz sicher, die 41A oder die 41C, einen von beiden Sitzen buchte er immer, das war seine persönliche Chiffre. Al Thani, dessen größte Stärke und größte Schwäche es war, niemandem zu vertrauen, zu kontrollsüchtig, um auch nur die kleinste Entscheidung an seine Assistenten zu delegieren, das große Gespenst Al Thani, wie er mit seinen schmalen grauen Hemden in der Berner Zentrale stand, am Hafen von Jaffa, im Dragonara auf Malta.
Kurze Pause. Das Feuern schwerer Schiffsgeschütze in der Ferne.
Als ich wieder aufwachte, flogen wir bereits über Land, und Moskowitz schlief noch immer. Das Flugzeug kippte zur Seite, und man sah Hunderte Wohnblocks, die Vororte der Vororte. Dazwischen Maisfelder, Sojaplantagen, Garnelenfarmen, alles Dinge, die grau oder braun waren. Aber vom Flugzeug aus gesehen, sind die meisten Dinge grau oder braun, selten grün, selten blau. Ich dachte daran, mir einen Handstaubsauger zu kaufen, wenn ich zurück in Europa war. All das, der Blick aus dem Fenster, die Blicke der Stewards, aber vor allem das Summen der Klimaanlage weckten in mir das Bedürfnis nach einem Handstaubsauger. Die Landung war ruppig.
2. NIGHTINGALE
Nach der Passkontrolle schaltete Moskowitz wieder sein Handy an, und ich begann mich zu entspannen. Das machte alles einfacher. Wir hatten Anfang des Jahres die Mail eines israelischen Titanhändlers abgefangen und waren so auf Moskowitz’ Spur gekommen. Dieser Titanhändler, der Viktor Havelmann hieß und den wir schon länger im Visier hatten, verschob große Mengen Rohstoffe in Russland und Osteuropa, vor allem Titan, aber auch Platin und Silicium, Boden-Luft-Raketen, Immobilienbonds, Raubkunst, und benutzte Kulturveranstaltungen des Goethe-Instituts als Tarnung, um diese Deals abzuwickeln. Anfang des Jahres hatte er Moskowitz zu einer Lesung nach Nowosibirsk eingeladen, wobei er in seiner Mail nicht wie sonst Mit vielen Grüßen, Viktor Havelmann schrieb, sondern Ich grüße Sie aufs Herzlichste, Ihr V. Havelmann, was uns irgendwie verdächtig vorkam und was wir als Chiffre für ein Angebot an Moskowitz werteten. Auch der darauf folgende Mailwechsel bestätigte diese Annahme. Nie schrieb Havelmann dieselbe Schlussformel, und immer schrieb Moskowitz Ich verbleibe herzlich, Ihr P.T. Moskowitz, was wir jeweils als Absagen an Havelmann deuteten. Wir wussten nicht genau, um was es ging, aber wir vermuteten es: ein Gegenstand, der Raum und Zeit verbindet, ein Objekt der Totalität.
Kurze Pause.
Al Thani hatte das Gefühl, dass es in Montevideo das Angebot eines neuen Käufers geben würde. Vielleicht würde Moskowitz eine gewöhnliche Nachricht erhalten, vielleicht nur ein Symbol sehen oder ein vereinbartes Muster erkennen. Vielleicht war das System, in dem Moskowitz mit seinen Partnern kommunizierte, jedoch noch komplexer, mutmaßte Rosenquist. Oder eben unterkomplexer, warf ich ein, auf jeden Fall so, dass wir es nicht als solches identifizieren konnten, obwohl wir in seinem Handy waren, in seinen Konten, in allen Netzwerken. Auch Al Thani wurde nach und nach Verfechter meiner Unterkomplexitätstheorie und schlug sich die Nächte um die Ohren, um Moskowitz’ Accounts noch einmal zu durchforsten. Vermutlich wird es sich in einer Kleinigkeit offenbaren, sagte mir Al Thani, vielleicht wird es ein Wort sein, das er ausspricht in Gegenwart eines Bettlers, vielleicht eine bestimmte Münze, die er dem Kellner beim Bezahlen auf den Tisch legt, vielleicht ein Vogelschwarm am Himmel. Ich hatte Al Thani in letzter Zeit wieder häufiger beten gesehen, jedenfalls öfter als zuvor. Als würde er Gott darum bitten, selbst die Vögel am Himmel zu kontrollieren, selbst Gott zu werden, Gott zu sein, obwohl er das schon war. Die Tage in der Berner Zentrale wurden länger und Al Thanis Laune schlechter, je geduldiger Moskowitz damit wartete, Kontakt aufzunehmen, als hätte er die Unendlichkeit auf seiner Seite.
Kurze Pause. Man hört das Flattern eines Schwarms Papageien.
Während Moskowitz also schon mit einem Taxi ins Zentrum fuhr, drückte ich mich noch eine halbe Stunde am Flughafen herum, trank eine Dose Tropico und versuchte mich an die Temperatur und die Luftfeuchtigkeit zu gewöhnen. Ich ging auf und ab und checkte auf meinem Handy Moskowitz’ Handy. Die Ortung zeigte, dass er sich noch auf der Autobahn befand. Vielleicht war Stau oder der Fahrer war einen Umweg gefahren, dachte ich, was mich nicht wundern würde, denn in Montevideo verfahren sich selbst die Taxifahrer – nicht aus Raffgier, wie überall sonst, sondern weil auch sie den Weg nicht kennen, weil niemand den Weg kennt, weil es keinen Weg gibt. Irgendwann erreichte Moskowitz dann das Hotel, das ihm das Teatro Nacional gebucht hatte, und auch ich winkte mir jetzt ein Taxi heran und nannte dem Fahrer die Adresse. Gegen Mitternacht traf ich ein und zahlte an der Rezeption für zwei Nächte in bar. Ich füllte die Formulare mit der linken Hand aus und gab an, ich sei im Auftrag der UN unterwegs, und auf irgendeine Art stimmte das ja auch.
Wenn das so sei, würde man mich selbstverständlich in ein besseres Zimmer upgraden, sagte der Portier und verschwand in einem Nebenraum, um mir kurz darauf ein Geschenk mit blauer Schleife zu überreichen: Badeöle in den Sorten Rosmarin, Lavendel und japanische Minze. Ich fuhr mit dem Fahrstuhl in den fünften Stock und spürte, dass Al Thanis Blick auf mir lag, genau in diesem Augenblick, in dem ich auf meinem Handy Moskowitz’ Handy beobachtete. Der große Schatten Al Thani hatte sich also auch auf mir niedergelassen, meinen Kleidern, den Dingen, die ich berührte, meinen Gedanken.
3.
NIGHTINGALE
Am Morgen ging Moskowitz zum Frühstücken in ein Café und bestellte dort Unmengen an Croissants, Alfajores und Karamellgebäck. Auch ich ging in einen Imbiss um die Ecke und beobachtete auf meinem Display Moskowitz’ Aktivitäten. Er wählte sich ins Wi-Fi ein und las ein paar Artikel auf der Website von La Gazzetta dello Sport, checkte aber nicht seine Mails, was mir merkwürdig vorkam, weil er noch am Tag zuvor zwanzig Mal danach geschaut hatte. Dann googelte er den Begriff Mondgeographie und klickte sich durch die Wikipedia-Seiten der verschiedenen Mondkrater, bevor er bei den Mondmeeren landete, Mare Nectaris, das Nektarmeer, Mare Moskwa, das Moskauer Meer, und Oceanus Procellarum, der Ozean der Stürme. Schließlich stieß er auf den Eintrag des Großen Bombardements, das vor vier Milliarden Jahren die Oberfläche von Mond und Erde definiert hatte, und notierte sich die Worte: Leben und Tod.
Am Nachmittag schlenderte Moskowitz durch das Cordón und erreichte irgendwann das Viertel Tres Cruces, wobei man im Tres Cruces nicht wirklich schlendern kann, nicht mal spazieren gehen, im Prinzip kann man nichts anderes tun, als dem Tres Cruces permanent auszuweichen, den Autos, Rollern, Frauen und Männern, den Katzen, den Häusern, allen muss man permanent ausweichen, und eine zielgerichtete Bewegung ist völlig unmöglich, so als würde man von einer geheimen Schwerkraft gezogen. Ich folgte Moskowitz mal in Sichtweite, mal mit langer Leine im Abstand von siebzig, achtzig Metern. Immer wieder öffnete er Google Maps und navigierte sich Richtung Süden, als würde er auf etwas zusteuern, als hätte er ein geheimes Ziel. Dann, als wir die Avenida 18 de Julio erreicht hatten, drehte sich Moskowitz plötzlich um und lief direkt auf mich zu. Ich erschrak, hatte aber keine Chance auszuweichen oder umzukehren und ging langsam weiter. Moskowitz’ Augen waren weit aufgerissen, als er die Karte auf seinem Display größer zoomte und mich fragte, ob das hier die Adresse des Nacional sei. Jetzt, da er so nah neben mir stand und ich seinen Schweiß riechen konnte, fiel mir auf, wie wenig er den Bildern glich, die mir Al Thani geschickt hatte. Ich lächelte, sagte, dass ich es leider nicht wisse, und ging weiter.
Kurze Pause. Das Hämmern einer Schiffsturbine.
Zurück im Hotel ging Moskowitz ins Internet und checkte seine Mails, gab aber zuerst ein falsches Passwort ein, was ihm zuvor noch nie passiert war. Irgendwas stimmt hier nicht, dachte ich, denn auch die Art, wie er das falsche Passwort eingab, hatte etwas Künstliches, Gespieltes. Ja, genau das war es, dachte ich, Moskowitz spielte Moskowitz, aus irgendeinem Grund war er es nicht. Exakt so schrieb ich es dann auch Al Thani, schickte die Nachricht jedoch nicht ab, nachdem ich sie noch mal gelesen hatte. Ich wusste, wie Al Thani auf solche Analysen reagierte, und ich wusste auch, dass es im Bereich des Möglichen lag, dass Al Thani die Nachricht bereits gelesen hatte, obwohl ich sie nicht abgeschickt hatte. Ich stellte mir vor, wie er gerade in der Berner Zentrale stand und in diesem Moment Moskowitz’ Display beobachtete, genau wie er meines beobachtete und aus beidem seine Schlüsse zog. Ich löschte die Nachricht und schrieb eine neue, in der ich sachlich vom Zusammentreffen mit Moskowitz berichtete, ohne meine Bewertung der Situation hinzuzufügen.
4.
NIGHTINGALE
Erst am nächsten Tag kam Al Thanis Antwort. Er schickte ein Delfin-Emoticon. Ein Delfin-Emoticon bedeutete Sofortiger Abbruch. Aber diesmal dachte ich nicht daran. Ich wusste, dass ich nah dran war. Und ich würde Al Thani beweisen, dass auch ich gnadenlos sein konnte, wenn es darauf ankam. Moskowitz hatte die Premiere sausen lassen und stattdessen die ganze Nacht in einer Bar gesessen und Fernet Cola getrunken, ohne jedoch mit jemandem Kontakt aufzunehmen, vielleicht weil er meine Anwesenheit spürte, vielleicht weil er erst die Lage austesten wollte. Mittags traf er sich dann mit Cáceres, dem Direktor des Nacional, im Restaurant des Miraflores. Ich hörte das Gespräch über das Mikrofon von Moskowitz’ Handy mit, während ich in der Badewanne lag und mir Bilder von Cáceres im Internet anschaute. Auf fast allen Fotos trug er dieselben schwarzen Ohrringe und eine Kastenbrille im Stil der argentinischen und chilenischen Intellektuellen. Danach tippte ich auch Moskowitz’ Namen ein und verglich die Fotos auf der Website seines Verlags mit den Fotos aus unserer Kartei, aber je länger ich die Bilder miteinander verglich, bekam ich das Gefühl, Moskowitz hätte zwei Gesichter. Ein offenes, der Kamera zugewandtes, und ein zweites, verborgenes, sodass ich kurz so weit ging, mir einzubilden, die beiden Moskowitze auf den Fotos wären nicht ein und dieselbe Person.
Kurz darauf schlief ich ein, und als ich wieder aufwachte, war das Lavendelwasser in der Wanne eiskalt. Ich hatte von Bern geträumt, von Rosenquist und Al Thani, aber dort war noch jemand anders gewesen, eine Frau, deren Gesicht ich nicht kannte. Diese Frau war das Zentrum des Traums, alle Dinge und Menschen bewegten sich um sie herum, waren ihr verfallen. Und neben einer großen Begierde spürte ich auch eine tiefe, grenzenlose Angst in mir aufsteigen, sodass ich schrie, als ich erwachte.
Kurze Pause.
Ich sprang aus der Wanne und kontrollierte auf meinem Handy Moskowitz’ Handy, sah aber, dass auch er wieder in seinem Zimmer war und offenbar schlief. Al Thani hatte mir in der Zwischenzeit ein weiteres Delfin-Emoticon geschickt, das ich wie das erste ignorierte. Der restliche Nachmittag blieb ereignislos. Erst gegen 17 Uhr verließ Moskowitz oder der Mann, der sich für Moskowitz ausgab, sein Hotelzimmer und zog wieder schlingernd durch das Tres Cruces, wie ein Schlafwandler in ellipsenhaften Bögen, diesmal jedoch genauer und auf merkwürdige Art schärfer als am Tag zuvor, als hätte er doch ein Ziel, auf das er zusteuerte. Und tatsächlich: Plötzlich blieb er stehen und betrat einen kleinen Antiquitätenladen am Rand des Plaza Liber Seregni. Durch das Schaufenster konnte ich sehen, wie er mit dem Verkäufer sprach und ein goldenes Kaninchen in seine Tasche gleiten ließ. Es war das Zeichen, auf das wir so lange gewartet hatten, die Kontaktaufnahme, die Al Thani vorausgesagt hatte. Moskowitz verließ das Geschäft und lief weiter Richtung Süden, vorbei an der Avenida Uruguay, und setzte sich auf eine Bank, als ob er auf jemanden warten würde. Ich ließ das Kaninchen keine Sekunde aus den Augen, doch auf einmal stürzte Moskowitz davon, rannte die Straße entlang und sprang in einen Linienbus, der vor ihm zum Stehen gekommen war. Ich winkte nach einem Taxi und folgte dem Bus bis in die nördlichen Vororte. Dort stieg er aus und fuhr mit einem anderen Bus zurück ins Zentrum, wo er wieder umstieg. Ich wies den Fahrer an, dem Bus dichter zu folgen, als ich mit einem Mal merkte, dass auch ich verfolgt wurde. Ein paar Meter hinter uns fuhr ein schwarzer Mercedes CL, der mir schon vorher auf der Camino Corrales aufgefallen war. Ich beobachtete den Wagen weiter durch den Seitenspiegel, während der Taxifahrer damit kämpfte, den Bus nicht zu verlieren. An der nächsten Kreuzung warf ich mein Handy aus dem Fenster und rief dem Fahrer zu, er solle auf die Bremse steigen. Der Mercedes zog scharf an uns vorbei und bog nach links ab, wir fuhren nach rechts, und nach einer Schleife fanden wir den Bus auf der Avenida wieder. Ein paar Minuten später stieg Moskowitz aus und lief zu Fuß zum Hotel. Wir folgten mit einigem Abstand, und ich drückte dem Fahrer ein paar Scheine in die Hand, damit er eine Stunde vor dem Hintereingang auf mich wartete. Bis dahin, dachte ich, hätte ich mir hoffentlich einen Plan überlegt.
5. NIGHTINGALE
Gerade als ich die Lobby des Miraflores betrat, sah ich Moskowitz die Treppe hochlaufen. Ich ließ mich in einen der Sessel fallen und überlegte, wie ich weiter vorgehen sollte. Ich fühlte mich unendlich verloren, und gleichzeitig spürte ich, dass es noch nicht zu spät war, die richtige Entscheidung zu treffen. Ich versuchte mich an die Notfallnummer der Zweigstelle in Buenos Aires zu erinnern, mit der ich sicher Hilfe anfordern konnte. Nur Al Thani würde natürlich toben, dachte ich, und er würde sich in allem bestätigt fühlen, würde vor Rosenquist zugeben müssen, dass es ein Fehler gewesen war, ausgerechnet mich nach Montevideo zu schicken. Aber genau in diesem Augenblick lief Moskowitz in einem kokosfarbenen Bademantel wieder an mir vorbei und nahm die Marmortreppe hinab zum Hallenbad. Ohne eine Sekunde zu zögern, stand ich auf und sprang in den Aufzug, den Moskowitz gerade verlassen hatte. Ich fuhr in den vierten Stock, lief über die langen, teppichgedämpften Gänge und knackte die Verriegelung von Moskowitz’ Tür. Vor mir auf dem Bett stand ein offener Koffer, und ganz oben auf den hastig hineingeworfenen Hemden und Hosen lag das goldene Kaninchen und funkelte mich an. In diesem Moment wusste ich, dass es eine Falle war. Ich stand still und lauschte.
Kurze Pause. Das Geräusch, das entsteht, wenn sich niemand bewegt.
Die Vorhänge bewegten sich leise im Wind, dahinter das offene Fenster und die hell erleuchtete Plaza. Ich schnappte mir das Kaninchen und ging, so ruhig ich konnte, zurück über die samtenen Teppiche. Gerade als ich wieder zu den Aufzügen kam, öffnete sich vor mir die Tür mit einem Pling, als hätte sie gewusst, dass ich komme. Ich drehte mich um und ging zum Treppenhaus, zuerst langsam und gefasst, aber dann, ohne dass ich es wollte, beschleunigten sich meine Schritte, als wäre ich nicht mehr diejenige, die die Kontrolle über meine Füße hatte. Ich rannte, stürzte mich durchs Treppenhaus und spürte das Gewicht des goldenen Kaninchens in meiner Tasche, spürte, wie es mich einem Magneten gleich aus dem Hotel zog, wie es schwerer und schwerer wurde. Ich riss die Tür des Hintereingangs auf, sprang in das Taxi und rief: Zum internationalen Flughafen, schnell! Der Wagen rollte auf die Avenida, während ich, immer noch heftig atmend, das Kaninchen aus der Tasche nahm und es von allen Seiten untersuchte. Erst nach ein paar Minuten schaute ich wieder aus dem Fenster, und während sich das Taxi immer weiter vom Zentrum entfernte, während die Lichter schwächer und die Dunkelheit größer und allumfassender wurde, merkte ich, dass wir in die falsche Richtung fuhren. Ich rief: He, Señor! Zum Flughafen! Haben Sie nicht verstanden?
CÁCERES
Der Flughafen ist geschlossen, Miss Nightingale. Es wird besser sein, ich fahre Sie nach Juanicó.
NIGHTINGALE
Da blickte ich in den Rückspiegel, um das Gesicht des Fahrers zu erkennen, und in genau diesem Moment blickte auch er mich an, mit seinen schweren, schwarzen Augen. Und ich sah, dass es Cáceres war, der Direktor Cáceres vom Teatro Nacional. Ich schaute ihm in die Augen und wusste jetzt, dass ich es war, ich selbst war das goldene Kaninchen. Ich war nicht in die Falle gegangen, ich war die Falle. Und ich wusste, dass Al Thani hineintappen würde, jedenfalls wenn er dasselbe fühlte wie ich. Ich hörte das Klicken der Zentralverriegelung und merkte, wie sich der Anschnallgurt um meine Brust schnürte, merkte, wie er sich immer enger um meinen Körper schlang und mich in die Sitzbank drückte. Ich spürte, wie ich durch die kalte, stechende Luft der Klimaanlage das Bewusstsein verlor, wie die Angst aus meinem Körper wich. Und ich spürte, wie der Wagen an Fahrt aufnahm und wie die abgefeuerte Kugel einer Waffe in die Finsternis schoss.
TEIL III
DAS HAUS IN JUANICÓ
1.
CÁCERES
Das Telefon klingelte bereits zum zwanzigsten Mal, als ich am späten Nachmittag abnahm. Señora Moskowitz, sagte ich, wir sind natürlich alle untröstlich hier. Was, nein, natürlich! Sie haben meinen hundertprozentigen Beistand, mein Mitgefühl. Und sollten Sie herkommen wollen, um den Halunken wieder einzufangen, dann wohnen Sie selbstverständlich bei mir. Doch ich fürchte, ein solches Unterfangen wäre vergeblich, Señora! Ihr Mann ist ein stolzer Adler, den bringt so schnell nichts zurück. Sie hätten mal sehen sollen, wie der sich aufgeführt hat, wie er tagelang, einem bengalischen Tiger gleich, um meine Assistentin herumgesprungen ist, der Herr Schriftsteller. Sie hätten sehen sollen, was für ein irres Feuer in seinen Augen brannte, als ich ihn im Schwimmbad des Miraflores traf. Wie ein Wahnsinniger hatte er sich in Montur geworfen und wollte die Sofía Vallejos mit Hechtsprüngen und einer exzentrischen Bademode beeindrucken. Ich traue es mich kaum auszusprechen, aber er trug eine goldene, eng anliegende Shorts. Auch ich bin gewiss kein Waisenknabe, aber was der Herr Moskowitz hier in den letzten Tagen veranstaltet hat, sprengte einfach alles. Als Erstes hat er ja die Premiere sausen lassen und sich stattdessen in fragwürdigen Spelunken herumgetrieben. Da stand ich natürlich dumm da und musste das erst mal unseren Sponsoren von TecnoCiéntifica auf der Premierenfeier erklären. Auch der italienische Botschafter war gekommen und fragte immerzu: Wo ist er denn? Ja, wo ist er denn? Und ich sagte immer nur: Ich weiß es auch nicht, Dottore, ich weiß es doch auch nicht! Und auch der nächste Tag geriet zu einer einzigen Peinlichkeit, sagte ich zu Su-Zeong Moskowitz am Telefon. Mittags habe ich Ihren Mann, den Herr Moskowitz, ja endlich im Hotel angetroffen, immer noch betrunken, wie er war. Meine Assistentin berichtete mir da schon, dass er sie nachts mit Anrufen bombardiert hatte, es waren wohl Dutzende Nachrichten, die sie auf ihrer Mailbox hatte. Und ja, die Sofía Vallejos ist eine interessante Frau, sie ist die Zudringlichkeit der Herren gewohnt, doch diese die ganze Nacht andauernde Belagerung sprengte erneut alle Grenzen. Abends dann, im Hallenbad des Hotel Miraflores, folgte der Höhepunkt der Komödie, von dem ich Ihnen ja bereits erzählt habe. Am nächsten Morgen waren die beiden dann verschwunden. Sie sind wohl mit dem ersten Bus nach Juanicó im Departamento Canelones gefahren, wie mir mein Buchhalter Arturo Rizzi berichtete. Auch er hatte sich Hoffnungen bei der Sofía Vallejos gemacht, wenn ich das so offen sagen darf. Aber auch das ist ja nun völlig unerheblich. Die Winde in Juanicó sind eisig, die Leute reden nicht, sie dort aufzuspüren wird so gut wie unmöglich sein, und vielleicht, Señora, sagte ich zur Señora Moskowitz, können wir sogar froh sein, dass wir sie los sind. Sollen sie doch glücklich werden in Juanicó! Die beste Flasche sollten wir aufmachen und darauf anstoßen, dass sich die Untreuen aus dem Staub gemacht haben. Sollen sie hundert Jahre alt werden, aber uns sollen sie gestohlen bleiben. Lassen Sie uns auf das Leben trinken, denn das geht weiter, sagte ich zur Señora Moskowitz und knallte den Hörer auf.
Kurze Pause.
Schon während meiner letzten Sätze war Rizzi in seinem weißen Anzug in der Tür erschienen, und ich winkte ihn herein und gab ihm zu verstehen, er solle sich auf die Couch setzen. Ich rollte mit meinem neuen Stuhl, den das Goethe-Institut bezahlt hatte, zum Fenster und spähte durch die Jalousien. Die Sonne begann bereits unterzugehen, und die Kathedrale warf ihre Schatten auf die Mündung des Río de la Plata. Und?, fragte Rizzi. Und, sagte ich, ich glaube ihr kein einziges Wort. Die Señora Moskowitz spielt die beleidigte Gans, und die Rolle spielt sie wirklich ausgezeichnet, aber sie lügt, wenn sie den Mund aufmacht, denn sie hat ihre ganz eigene Agenda. Du wirst schon sehen, die werden wir so schnell nicht los. Aber jetzt zu deiner Bilanz, sagte ich, zeig her, und Rizzi reichte mir seinen großen Aktenordner, den ich schnell überflog. Gut, sagte ich,aber wo stehen hier die richtigen Zahlen? Die richtigen Zahlen habe ich hier drin, nur hier, sagte Rizzi und zeigte auf seinen Kopf. Bravo, sagte ich und küsste ihn auf die Stirn, da sollen sie auch bleiben, Rizzi. Pass bloß auf, dass ihn dir keiner einschlägt, deinen Schädel.
2.
CÁCERES
Ich verließ mein Büro im Tres Cruces um zwanzig Uhr und reihte mich in den Feierabendverkehr auf der Acevedo Díaz ein. Dichte Schwärme grüner Papageien überflogen das Viertel und warfen zuckende Schatten auf den Asphalt und die Fassaden der Häuser. Die Luft war kühl und klar. Ich betrachtete das goldene Kaninchen, das ich mir auf das Armaturenbrett geklemmt hatte, und legte den dritten Gang ein. In einer Stunde würde ich den Kurator vom Abu Dhabi Performing Arts Center treffen.
Ich trug meine schwarzen Ohrringe, mein schwarzes Hemd, mein schwarzes Sakko, die schwarze Hose, die schwarzen Schuhe. Mit einem kleinen Kamm strich ich den Schnurrbart glatt und kontrollierte meine Frisur im Spiegel des Aufzugs, der mich in den siebtenStock des Hotel Miraflores brachte. Ich nickte dem Portier zu und ging an die Bar, wo man mir wie immer einen New England Highball mixte. Dann setzte ich mich an einen der äußeren Tische und wartete. Der Raum war halb gefüllt, große kokosfarbene Lampenschirme dämpften die Stimmen der anderen Gäste.
Kurze Pause. Ein Flackern.
Ich sah ihn durch die Spiegelung der Fensterfront hinter mir aus dem Aufzug kommen.
Er trug einen schmalen Anzug, eine schmale graue Krawatte und hatte die Haare kurz geschnitten, was seine sichelförmige, einem Falken ähnliche Nase noch mehr betonte. In der Hand hielt er zwei kleine Würfel, die er unentwegt durch seine Finger gleiten ließ. Auch er hatte mich nun bemerkt, und als er sich bis auf zwei Meter von hinten genähert hatte, sprang ich unvermittelt auf, um zu sehen, wie er darauf reagierte. Wie war der Flug, Exzellenz? Danke, blendend. Oh, sagte ich, wirklich? Nein, sagte er, selbstverständlich nicht, aber lassen Sie uns nicht davon reden.
Inzwischen war der Portier auf mein Zeichen herangeschlichen und beugte sich zu unserem Tisch herab. Der Kurator zischte ihm etwas ins Ohr, der Portier nickte und zog sich rückwärts gehend mit Trippelschritten wieder zurück. Um gleich auf den Punkt zu kommen, sagte ich, ich habe schlechte Nachrichten, die Vorstellung morgen muss leider ausfallen, und auch für das Wochenende sieht es nicht gut aus. Das sind allerdings schlechte Nachrichten, sagte der Kurator, wann steht das Stück wieder auf dem Spielplan? Ich fürchte, das kann ich nicht beantworten, sagte ich. Der Hauptdarsteller hat sich beim Applaus das Kreuzband gerissen, die Darstellerin der Clarissa Corazón hat sich zum wiederholten Mal in eine Entzugsklinik begeben, und die Presse war bei der Premiere auch nicht unbedingt euphorisch, um es freundlich auszudrücken. Ja, um ehrlich zu sein, haben wir die hässlichsten Verrisse kassiert, was es jetzt schwer macht, mehr als ein Dutzend Karten zu verkaufen, und ich frage mich, ob es sich überhaupt lohnt, eine Ersatzbesetzung zu organisieren. Und all das bringt mich in die unglückliche Lage, Ihnen das so kurzfristig mitzuteilen, obwohl Sie den weiten Weg aus Abu Dhabi gereist sind, um das Stück zu sehen. Ich weiß um die Strenge Ihres Terminkalenders, und umso ärgerlicher ist die Sache natürlich. Ich kann mir wirklich nicht erklären, wie meine Assistentin es versäumen konnte, sofort Ihr Büro zu informieren. Das kommt nun mal vor, sagte der Kurator. Aber das sollte es nicht, sagte ich, das ist unentschuldbar. Und selbstverständlich stehe ich für dieses Ärgernis persönlich gerade.
Mein lieber Cáceres, beruhigen Sie sich, sagte er, ich habe entschieden, das Stück so oder so in die Emirate einzuladen. Ich verlasse mich ganz auf Ihr Wort. Wenn Sie mir sagen, das Stück taugt etwas, dann taugt es auch was.
Aber genau das ist es ja, sagte ich, das Stück ist katastrophal!
Katastrophal, wie meinen Sie das?
Nun, wie eine Katastrophe! Die Form, der Inhalt, die Figuren – eine einzige Katastrophe! Wenn Sie mich fragen, dann ist das überhaupt kein Stück, sondern eine Kapitulationserklärung. Der sogenannte Autor erklärt auf jeder Seite seine Kapitulation. Es ist ein Manifest zum künstlerischen Selbstmord!
Aber das klingt doch furchtbar interessant, sagte der Kurator, das klingt nach einem echten Experiment! Gerade deswegen wollen wir dieses Stück ja bei uns in Abu Dhabi sehen!
Davon rate ich Ihnen ab, davon rate ich strikt ab, sagte ich.
Vielleicht haben Sie ja eine Videoaufzeichnung, damit ich mir einen kurzen Eindruck machen kann. Nein, sagte ich, ich fürchte, nein. Selbst die Fotos mussten wir ja aus rechtlichen Gründen wieder von unserer Homepage entfernen. Ich verstehe, sagte er, das ist natürlich ärgerlich, haben Sie dann wenigstens technische Pläne vom Bühnenbild, damit wir abschätzen können, wie sich Transport und Umsetzung realisieren lassen? Das ist mir jetzt unangenehm, sagte ich, aber selbst mit Bühnenbildplänen sieht es denkbar schlecht aus, im Prinzip gibt es nämlich gar kein Bühnenbild, so gesehen ist es ein völlig abstraktes Raumkonzept, abstrakt im Sinne von abwesend. Der Kurator musterte mich von oben bis unten wie ein bösartiger Raubvogel.
Also langsam habe ich das Gefühl, dieses Stück existiert überhaupt nicht, Mister Cáceres! Wie originell, rief ich, das würde ich mir ehrlich gesagt auch wünschen! Ich bekomme ja noch immer Albträume wegen diesem unsäglichen Text. Lassen Sie mich kurz das Ende zitieren: Spät kommt ihr. Nehmt Platz, die Tafel ist gedeckt. Sehen Sie, was ich meine? So spricht doch kein Mensch! Weder in Montevideo, noch sonst wo! Also wenn Sie mich fragen, dann ist das keine Literatur, sondern nichts weiter als ein dekadenter, europäischer Unfug!
Der Kurator schaute mich jetzt spöttisch an. Mehr noch, sein Blick war voller Grimm und versteckter Verachtung. Er war für einen kurzen Moment aus der Rolle gefallen.
3.
CÁCERES
Meine Hand zitterte, als ich einen Schluck von meinem Highball nahm, denn auch ich wusste, dass nun der Moment für mich gekommen war. Sehen Sie die Dame dort vorn?, sagte ich und zeigte auf das andere Ende der Bar. Sehen Sie in ihre Augen, sagte ich zu dem Kurator, der sich nun umdrehte. Ich habe diese Augen das erste Mal vor einigen Monaten gesehen und kann mich seitdem nicht mehr dagegen wehren. Tagelang folgten sie mir, zogen ihre Kreise um mich, in der Herrenabteilung des Kaufhauses, auf der Rennbahn, bei Valentino’s. Doch als ich sie endlich darauf ansprach, als ich zu ihr ging und fragte, Madame, wie lautet Ihr Name?, woher kennen wir uns?, wie kann ich Ihnen helfen?, schaute sie mich überrascht an und spielte Erschrecken. Doch schon am nächsten Morgen traf ich sie wieder im Café. Und wieder tat sie, als würde sie mich nicht kennen, als würde sie mich zum ersten Mal sehen. Ihr Gesicht glich einer Symphonie oder einem mathematischen Satz oder einer Galaxie. Wie heißen Sie?, fragte ich, und sie sagte: Sofía Vallejos. Und wirklich alles machte mich verrückt an ihr, der Blick, ihr Gang, die Handbewegung, mit der sie den Espresso zuckerte.
Schade, dass es erst morgens ist, sagte sie, sonst würden wir jetzt zu dir gehen.
Gut, dann warten wir, bis es Mittag ist, antwortete ich sofort.
Das geht nicht, sagte sie, du bist nicht der Typ für frühe Stunden! Schau dir an, wie deine Hand zittert, wenn du die Tasse hebst.
Ja, wahrscheinlich, sagte ich und zahlte die Rechnung, und als ich zurückkam, war sie verschwunden, aber auf dem Tisch lag ein Kästchen mit schwarzer Schleife, in dem sich zwei Ohrringe befanden.
Später lief ich stundenlang durch die Stadt, so wie es Schlafwandler tun, ohne mit jemandem zu sprechen, ohne jemandem ins Gesicht zu sehen, denn all das interessierte mich nicht mehr. Auch am nächsten Morgen ging ich nicht zur Arbeit, ich ging in den Supermarkt und kaufte mir Farfalle und Pistazien aus Sizilien, die ich mir dann zum Frühstück machte, und dazu trank ich eine halbe Flasche Rotwein. Später bin ich noch mal rausgegangen und habe mir am Kiosk elf oder zwölf Dosen Norteña gekauft, aber den Rest des Tages habe ich nur auf meinem Bett gelegen und nichts gemacht, außer an sie zu denken. Ich habe nur dagelegen und die elf oder zwölf Dosen ausgetrunken und dann noch die Flasche Rotwein, die vom Frühstück übrig war, und habe aus dem Fenster geschaut und dabei zugesehen, wie die Sonne unter- und wieder aufging. An diesem Tag jedoch tat sie es von der falschen Seite, sie ging im Osten unter und im Westen auf. Die Dinge waren außer Kontrolle geraten, und auch ich war es. Und ich wusste, dass sie der Grund für all das war.
Am nächsten Morgen ging ich zurück in das Café, und da stand sie wieder und sah mich an, als müsste sie überlegen, wer ich bin. Und ich sagte: Komm mit mir und bleib für immer, ich schenke dir mein Leben. Und seit diesem Tag leben und arbeiten wir zusammen. Wir atmen zusammen, wir existieren zusammen. Die meisten denken, sie wäre meine Assistentin, dabei ist es genau umgekehrt, denn ich assistiere ihr, bin ihr Schüler auf jedem Gebiet.
Kurze Pause.
Jetzt, da ich all das gesagt hatte, ging es mir besser. Ich blickte Al Thani ruhig und direkt an. Seine Haut sah weich und schön aus, ich hatte Lust, ihn zu berühren. Langsam legte ich meine Hand auf seine und schaute ihm in die Augen. Auch er blickte mich nun an und geriet für eine Sekunde aus dem Takt, ließ für einen Herzschlag seine Maske fallen, und ich sah den Hass, der dahinter lag, die Selbstherrlichkeit, die Angst.
Auch ich habe von ihr geträumt, sagte Al Thani. So lange habe ich von ihr geträumt und wusste doch nicht, wie sie aussieht. Mal sah sie wie die Dunkelheit aus, mal wie ein Ozelot im Sprung, mal war sie mehr Schall als Fleisch. Und dennoch wusste ich immer, dass wir uns treffen würden an einem Ort wie diesem. Schon als ich aus dem Aufzug kam, habe ich gefühlt, dass sie hier ist, von der ich so lange geträumt habe. Und jetzt weiß ich auch, dass du der Mann bist, den sie geschickt hat, mich zu töten.
Ja, sagte ich und griff in meine Jacketttasche.
Ich konnte die Überraschung in Al Thanis Augen sehen. Die Enttäuschung, dass es keine Pistole war, die ich hervorzog, kein Fläschchen mit Säure, keine Rasierklinge, um einen schnellen Schnitt gegen seine Kehle auszuführen, ich holte mein Samsung Galaxy hervor. Und noch bevor sich die Enttäuschung in seinen Augen in Entsetzen verwandeln konnte, drückte ich ab und lud das Foto hoch auf Instagram. Darunter schrieb ich: Tolles Treffen mit Al Thani im Miraflores. Und während ich aufstand und das Samsung vor ihn auf den Tisch legte, verstand er, dass ich ihm alles nehmen würde, sein Gesicht, seine Zukunft, all sein Prestige. Er verstand, dass ich ihn, den großen Geist Al Thani, in eine Maschine gesperrt hatte, so groß wie das Universum selbst. Und er verstand, dass wir ihn nicht umbringen würden in irgendeinem Hinterzimmer, in einer Seitengasse. Unsere Macht war so schrecklich und schön und grenzenlos, dass wir ihn vor aller Augen vernichten würden. Doch zuerst würden wir ihn demütigen, ihn und seine Familie, seine Freunde und jeden, den er kannte, über Tage und Wochen bis ins Letzte demütigen. Ich schaute ihm in die Augen und sah, dass auch er dies erkannt hatte. Dass er wusste, dass ihn nur seine sofortige und vollständige Kapitulation davor bewahren konnte und dass der alleinige Grund seiner Reise nach Montevideo gewesen war, sich im Hotel Miraflores zu erhängen.
4.
CÁCERES
Wir fuhren durch die verlassenen, schwarzen Straßen von Montevideo, die wie Strahlen eines Sterns vom Zentrum wegführten. Die Wohnviertel wurden zu Vororten und die Vororte zu Dörfern. Der Mercedes glitt durch die Nacht, vorbei an den Tankstellen, den Fabrikhallen, den Ausfallstraßen. Insekten, Vögel und Satelliten begleiteten uns, flankierten links und rechts den Wagen, kreisten über unseren Köpfen. Sofía Vallejos legte ihre Hand vom Lenkrad auf meine, und ich spürte die Energie, die sie durchströmte. Um ihren Hals trug sie die fünf Sterne, das Kreuz des Südens.
Kurze Pause. Ein Blitz in großer Entfernung.
Alle Fenster des Hauses waren hell erleuchtet, als wir in Juanicó eintrafen. Aus dem Kamin dampften dünne Rauchschwaden, und auf dem Hof roch es nach gebratenem Fleisch, als ich den Motor abstellte. Langsam drehte ich den Schlüssel im Schloss und öffnete die Tür. Auf dem Tisch in der Halle blitzten Dutzende Tellerchen und Platten, Schüsseln und Schälchen, gefüllt mit den unterschiedlichsten Köstlichkeiten. An den Wänden hingen Gemälde von Seeschlachten und goldene Spiegel, die Nightingale in den letzten Tagen stundenlang poliert hatte. Kristallbecher und lange Messer mit Griffen aus Ebenholz warfen das Licht der Kerzen in jeden Winkel des Raumes, als wären sie uralte Quasare. Die Fußböden waren geschrubbt und die Vorhänge gewaschen, alle Bücher der Bibliothek waren entstaubt, die Werke des Wahnsinns, der Ordnung, des Lebens. Die Kommoden zierten Vasen mit Sträuchern von Rosmarin, Lavendel und japanischer Minze. In der Küche stand Moskowitz und trug nichts außer einer Schürze und schwarzen Socken. Er sah hinreißend aus.
MOSKOWITZ
Ihr kommt spät. Setzt euch, der Tisch ist gedeckt.
CÁCERES
Auf einem Tablett servierte er uns große Stücke, die er vorher mit einer Schere von Schienbein und Rippenbogen getrennt hatte. Aus flachen Schalen tranken wir kaltes Wasser, das Getränk der Götter, wie Moskowitz sagte und immer wieder aus einer großen Karaffe nachschenkte. Wird der Alte kriegen, was er verdient?, fragte er mit der ihm eigenen monotonen Stimme. Oh ja, sagte ich, noch ein paar Stunden wird er versuchen, einen Ausweg zu finden, und auf kleinliche Art seine Ehre retten wollen. Aber irgendwann wird er es einsehen, irgendwann heute Nacht, nach fünf oder sechs schlaflosen Stunden wird Al Thani sich sicher sein, dass es keinen Ausweg gibt, und dann wird er sich aufhängen, so wie wir es geplant haben.
Die Standuhr in der Ecke schlug ein Uhr, zwei Uhr, drei Uhr, und nachdem wir das Fleisch bis zur letzen Faser vertilgt hatten, räumte Moskowitz den Tisch. Sofía ergriff meine Hand und führte mich über die geschwungene Treppe hoch in den ersten Stock. Langsam zog sie meine Kleidung aus, das Hemd, die Hose, schließlich die Unterhose, schlug das Laken auf und legte mich nackt, wie ich war, in die Mitte des Bettes. Sofía, flüsterte ich mit geschlossenen Augen, wie werde ich sterben? Und sie sagte: Vergessen und steinalt, keinen Peso in der Tasche und nur den Himmel über der Frisur. Dann beugte sie sich zu mir herab, gab mir einen Kuss auf die Stirn, löschte das Licht und verließ leise das Zimmer. Es roch nach Zimt und Myrrhe, Stechmücken schwirrten durch die Luft, doch ich hatte keine Angst, ich wusste, sie würden mir nichts tun. Es war die Zeit der Tiere und Gespenster. Zum ersten Mal seit Jahren fühlte ich mich glücklich und frei. Und während ich immer tiefer in die Matratze sank, spürte ich, wie ich das Bewusstsein verlor. Ich würde von sibirischen Diamantenminen träumen, von der Tiefsee, vom Tod.
Copyright © Michel Decar, 2020
Aufführungsrechte: Rowohlt Theater Verlag, Hamburg, 2020