Theater der Zeit

Unort-Projekte

Wunderblock – Deutschland, Deine Speicher – 50 Jahre Super 8

von Philipp Hauß

Erschienen in: Recherchen 127: Darstellende Künste im öffentlichen Raum – Transformationen von Unorten und ästhetische Interventionen (12/2017)

Assoziationen: Freie Szene Dossier: Bühne & Film

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Ziel des Projekts

Fünfzig Jahre nachdem Kodak auf der Photokina-Messe das neue Super-8-Format vorstellte, rollte im Sommer 2014 vier Wochen lang ein Analog-/Digital-Film-Container durch Deutschland. Vom 19. Juli bis 16. August 2014 gastierte das Kunstprojekt Wunderblock – Deutschland, deine Speicher – 50 Jahre Super 8 in den Städten Greifswald, Lüneburg, Kelheim und Lengerich. Im Mittelpunkt des Projekts stand Amateur-Super-8-Material, das, digitalisiert und zu neuen Fiktionen zusammengesetzt, im Rahmen eines „theatralisch-filmischen und musikalischen Familienabends mit Freunden“ aufgeführt wurde. Zwischen zwei Containern – davon einer eine Art Mini-Kino für das gemeinsame Sichten – wurde auf einer Leinwand der neu zusammengesetzte Film gezeigt, Schauspieler schlüpften in die Rollen von Verwandten, Freunden und (verlorenen) Söhnen und Töchtern. Ziel war es, in diesem Seherlebnis eine neue Gemeinschaft zu erzeugen. Alle Bewohner waren eingeladen, ihre Dachböden (Speicher), Keller und Schränke nach Super-8-Filmen zu durchforsten und in das Kunstprojekt einzuspeisen, die gemeinsam gesichtet und von den Veranstaltern kostenfrei digitalisiert wurden.

Unort 1: im Zwischenraum von Gedächtnis und Gegenwart – die Gegenwart des Speichers, hier sowohl medientheoretisch als auch real als Dachboden. Das, was dort lagert, wird aktiviert und verflüssigt. Das read only memory (ROM) des Dachbodens wird zum random access memory (RAM) des Gemeinschaftserlebnisses.

Unort 2: Umwandlung der letzten Medienmüllkippe, die durch die Beschäftigung zum Hort von kulturell wertvollem Material wird. Durch Filmschnitt wird das reine Abbilden überwunden, Fiktionales zieht ins Filmbild ein und Geschichte wird neu geschrieben.

Unort 3: Wunderblock. Fußgängerzone als Kommunikationsraum kaum von Bedeutung, wird zum Ort des Austauschs über Bildmedien und Geschichten. Wunderblock wird zur fiktiven Biografie. Schauspieler als „Verwandte/Freunde“ erzeugen um ihn neue Heimat.

Das Material wurde während der Woche gesammelt und geschnitten. Gemeinsam mit den Schauspielern wurde aus einem heterogenen Textmaterial von Heiner Müller über Claude Levi-Strauss bis zu Michel Houellebecq eine Narration über das jeweilige Material gelegt. Durch Live-Kommentar, Live-Synchronisation und die theatrale Rahmung wurden vier Geschichten erzählt: eine eskalierende Familienfeier in postapokalyptischer Düsternis (Greifswald), eine Reise in das Herz der Finsternis zum bayerischen Potlatch (Kelheim), die Möglichkeit einer Insel der Spießigkeit (Lüneburg) und Szenen einer Ehetherapie (Lengerich). Wiederkehrendes Element war eine Dialogsequenz aus Warum läuft Herr R. Amok? von Rainer Werner Fassbinder, der sowohl historisch (1970) als auch ästhetisch eine große Nähe zu den gesammelten Super-8-Filmen aufweist.

Resonanz, Herausforderungen und Wünsche

Die Resonanz auf den Aufruf, Super-8-Filme in das Projekt einzuspeisen, war in allen vier Städten enorm. Schon bei der ersten Station in Greifswald waren die Einreichungen schnell so zahlreich, dass die Kapazitäten kaum ausreichten. In Lengerich und Kelheim wurden so viele Filme vorbeigebracht, dass in der Projektzeit unmöglich alles gesichtet werden konnte. Hier wurde zum einen gemeinsam mit den Einreichenden eine Auswahl getroffen, zum anderen dafür gesorgt, dass mindestens eine Filmrolle pro Einreichendem digitalisiert mit nach Hause genommen werden konnte. Insgesamt haben in den vier Wochen des Projekts 109 Einzelpersonen oder Familien Filme abgegeben, wobei diese Zahl durch die verfügbaren technischen und zeitlichen Kapazitäten und nicht durch Ausbleiben der Beteiligung begrenzt wurde. Digitalisiert wurden insgesamt 2552,5 Minuten und auf DVDs ausgegeben. Die Zuschauerresonanz bei den theatralischen Aufführungen war sehr unterschiedlich. In Lengerich und Kelheim, trotz unsicherer Wetterlage und einer von der Feuerwehr ausgesprochenen Sturmwarnung, erfüllten die Zahlen die Erwartungen; in Greifswald und Lüneburg blieb die Resonanz unter unseren Wünschen. Die Entscheidung, Wunderblock in Städten jenseits der Kulturhochburgen stattfinden zu lassen, barg natürlich das Risiko, wenig wahrgenommen zu werden. Dazu kam, dass die Mischung aus Partizipation, Digitalisierung und Live-Aktion weder als klassische Theateraufführung noch als Konzert, Festlichkeit oder Stadtfest rezipiert werden konnte, sondern sich beabsichtigter Weise der Einordnung entzog. Die acht Abendveranstaltungen haben insgesamt zwischen 580 und 590 Besucher gesehen, zudem haben 252 Leute Wunderblock – Deutschland deine Speicher – 50 Jahre Super 8 im Internet verfolgt. Die Resonanz in Printmedien, Radio und lokalen Fernsehstationen war sehr gut, insgesamt erschienen circa zwanzig Zeitungsberichte, fünf Fernsehberichte von Lokalsendern und drei Radiointerviews.

Neben Anfragen von Künstlern und Dokumentarfilmern, mit Wunderblock e. V. und dem entstandenen Materialarchiv zusammenzuarbeiten, gibt es Vorbereitungen, als Wunderblock e. V. das Material für einen Film über den Super-8-Amateurfilm zu verwenden. Eine andere Nachhaltigkeit des Projekts ist schwerer messbar, nämlich: welche Spuren das Projekt in den Städten hinterlassen hat, die Gemeinschaften, die am Container durch das gemeinsame Betrachten von eigentlich privatesten Momenten entstanden sind. Jeder Filmer hat von diesem Projekt etwas behalten und es schien, als ob der Wunsch, diese Bilder, die wegen fehlender oder defekter Projektoren seit Jahren nicht sichtbar waren, mit anderen zu teilen, groß war. Das Stadtarchiv Lüneburg hat signalisiert, das Format in ähnlicher Form fortzusetzen.

Uraufführung: 25.7.2014, Greifswald, weitere Premieren in Kelheim am

1.8.2014, in Lüneburg am 8.8.2014 und Lengerich am 15.8.2014

Beteiligte: Künstlerische Leitung und Stab 8 Personen, 8 professionelle

Darsteller, ein professioneller Sänger

Aufführungen: 8

Zuschauer: ca. 590 und ca. 250 im Internetforum

Länge der Aufführungen: zwischen ca. 120 und 150 Min.

Freier Eintritt

Akteure

Die Gruppe, die Wunderblock realisiert hat, ist keine feste Gruppe, sondern setzt sich aus in verschiedenen Institutionsformen arbeitenden Menschen zusammen, die in unregelmäßigen Abständen gemeinsam Projekte realisieren.

Initiator des Projekts war Philipp Hauß. Er ist seit 2002 Ensemblemitglied des Wiener Burgtheaters und hat u. a. mit Andrea Breth, Luc Bondy, Peter Zadek, Alvis Hermanis und Nicolas Stemann zusammengearbeitet, gastierte am Residenztheater, Maxim Gorki Theater Berlin, an der Staatsoper Berlin und bei den Salzburger Festspielen. Er hat als Regisseur bereits vielfältige Erfahrungen mit theatralen Großprojekten gesammelt: 2009 mit der Performance und Installation Afrika2Fishis in der Seidlvilla in München, 2011 folgte gemeinsam mit Henning Nass Moby Dick Revisited #1 am Burgtheater und Moby Dick Revisited #2 an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz Berlin. Darüber hinaus hat Hauß Überleben eines Handlungsreisenden (2011 Wien/München), Das Opfer (2012 Wien), Mamma Medea (2013 St. Pölten) und Radetzkymarsch und Die Rebellion (St. Pölten 2014) inszeniert.

Dramaturg war der Münchner Theater-, Film- und Medienwissenschaftler Thilo Fischer. Neben seinem Diplomstudium arbeitete er mehrere Jahre mit Philipp Hauß bei dessen Inszenierungen zusammen. Seit November 2013 ist er Dramaturgieassistent an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz Berlin.

Das Container-Leinwand-Ensemble entwarf der Berliner Maler und bildende Künstler Martin Schepers. Er erhielt seine künstlerische Ausbildung an den Kunstakademien in Münster und Düsseldorf und hat u. a. in Berlin, Köln, Düsseldorf, Wien, Antwerpen, Los Angeles und New York ausgestellt. Für Das Opfer (2012 Wien), Mamma Medea (2013 St. Pölten), Radetzkymarsch und Die Rebellion (St. Pölten 2014) entwickelte er die Bühnenbilder.

Die Kostüme fertigte die Kostümbildnerin Svenja Gassen. Nach ihrem Modestudium an der Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin arbeitete sie als Kostümbildnerin für Schauspiel, Oper, Tanz und Film. Wichtige Stationen als Kostümbildnerin waren u. a. das Schauspielhaus Zürich, die Ruhrtriennale und das Stary Teatr Krakow und das TR Warszawa.

Kamera, Digitalisierung, Schnitt und Technik: David von der Stein und Maximilian Sänger

Der Sänger Franz von Reden war in allen vier Städten beteiligt; zum Schauspielensemble gehörten je nach Stadt: Tabea Bettin, Susanne Bredehöft, Maximilian Brauer, Alexander Khuon, Dietrich Kuhlbrodt, Daniel Lommatzsch, Falk Rockstroh und Sebastian Weber.

Kontakt:

www.super8wunderblock.de

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