Essay
Im Schatten der Platz an der Sonne
70 Jahre Wandel am Maxim Gorki Theater Berlin
Erschienen in: Theater der Zeit: Der Untergang des russischen Theaters (10/2022)
Assoziationen: Berlin Theatergeschichte Maxim Gorki Theater

Das Fahrrad im Intendantenzimmer? Wie unheilig ist das denn? Am Maxim Gorki Theater, so Armin Petras, Intendant von 2006 bis 2013, sei er wegen dieser privaten Marotte auf keinerlei Naserümpfen gestoßen. Als er dann Schauspielchef in Stuttgart wurde, nahm er sein Rad erneut mit hinauf ins Direktorendomizil, plötzlich eine unausgesprochene, aber spürbare Entrüstung: Das gehört sich nicht – dort, wo auch Repräsentation zur Pflicht zählt.
Das Fahrrad im Intendantenzimmer. Lieber familiär als feierlich. Lieber wesensgemäß als standesgemäß. Ein banales Detail als Charakteristikum: Das kleine Berliner Theater hinter der Neuen Wache ist ein Gebäude, das man gewissermaßen duzt. Man schaut hin, nicht auf. Berliner Ensemble und Deutsches Theater und Staatsoper treten da ganz anders in Erscheinung, schon treten wir leiser heran. Freilich prunkt auch das Gorki Theater ein wenig, Schinkels ehemalige Singakademie, es steht jedoch versetzt, hinterm Kastanienwäldchen. Ein Zweite-Reihe-Schicksal. Daran könnte man zugrunde gehen. Daran kann man wachsen. Im Schatten der anderen. Der wahre Platz an der Sonne.
Begonnen hatte alles 1952. Das „Junge Ensemble“ – bisher im Weimarer Schloss Belvedere zu Hause – wurde in Berlin sesshaft. Maxim Vallentin, aus sowjetischem Exil zurückgekehrt, sah sich als Botschafter: des neuen Lebens, des Friedens, der aus dem Osten kam. Seine Inszenierung des „Nachtasyls“ von Gorki wird 409 Aufführungen erleben.
Vallentin holte Horst Schönemann und Hans Dieter Mäde ans Haus. Auf den Spielplan kamen „Lohndrücker“ /„Korrektur“ von Inge und Heiner Müller sowie „Nacktes Gras“ von Alfred Matusche. 1968 übernahm Schauspieler Albert Hetterle die Intendanz. Helmut Baierl, Jürgen Groß, Peter Hacks, Claus Hammel, Rainer Kerndl, Ulrich Plenzdorf, Rudi Strahl wurden als Autoren gewonnen, Wolfram Krempel, Rolf Winkelgrund, Karl Gebauer als Regisseure. Das „Gorki“ lebte über die Jahrzehnte im landläufig werdenden Takt: Es wurde abgesetzt (Strahls „Flüsterparty“ und „Der Georgsberg“ von Kerndl), anderes durchgesetzt. Und vieles mit List und Lust fortgesetzt.
Zu DDR-Zeiten kam Kunstwirkung hier gleichsam aus den Seitenstraßen des Lebens, wo nichts nach großer Welt aussieht. Das Theater bot einen griffigen Realismus des Direkten; aus Narben über Lebenswunden wuchs auch ein gesunder Witz. Allmacht des Alltags, Verve des Volksstücks. Der Mensch als jenes liebenswerte Wesen, das immer wieder auf den Trug hereinfällt, Leben sei ein leicht lebbarer Stoff. Schönste, bitterste der Illusionen. Aber der Humanismus des Profanen ist letztlich das wahre Evangelium; das Theater war in diesem Sinn ein Haus der stillen Sensationen. Indem es geforderte Staatstreue in geerdete Menschentreue übersetzte.
Die besten Produktionen der Ära Hetterle offenbarten formal uneitle Erzählweisen und eine souveräne Bescheidenheit; da war ein geschmeidiger Wille, gegenüber dem Publikum einen Avantgardismus der Annäherung, der Übereinstimmung zu betreiben. Freilich – da nichts ohne sein Gegenteil wahr ist – hatte dies bisweilen auch eine unbekümmerte Gemütlichkeit im Schlepptau.
In den Achtzigern gab es auch dies in Berlin: Vielfalt durch Vergleich. Alexander Lang inszenierte am Deutschen Theater den „Sommernachtstraum“, Thomas Langhoff das Stück zeitgleich am Gorki-Theater. 2002 konnte der große, inzwischen künstlerisch ortlos gewordene Lang noch einmal als Regisseur in Berlin brillieren – am „Gorki“. Er brachte Tradition ganz neu auf die Bühne: „Nachtasyl“. Eine starke Komödienreise ins Herz der Finsternis, eine Reise ins finstere Herz der Komödie.
Angesichts der Konstanz, ja Courage, mit der das Theater seine farbigst unspektakuläre Eigenheit lebte, gehörte es zu den theatergeschichtlichen Wundersekunden, dass ausgerechnet das „Gorki“ im politisch eruptiven Herbst 1989 zu einem politischen Auslöser avancierte. Thomas Langhoff hatte in Hauptmann und Tschechow das moderne Eingebundensein ins Scheitern zu einem kritikblitzenden DDR-Spiegel glanzgeputzt, und als Volker Braun die „Drei Schwestern“ adaptierte („Die Übergangsgesellschaft“), erwuchs diese Inszenierung 1988 zum rüttelnden Gleichnis auf das ostdeutsche Staats- und Utopienverhängnis. Das berührendste Zeichen: Intendant Hetterle spielte einen alten Spanienkämpfer – da rieb sich Einverständnis mit einem kämpferisch gelebten Leben an bohrenden, existenziellen Fragen. Theater als Schmerzgrenzen-Berührung – kurz vor jenem 1989, das tatsächlich den Niedergang besiegelte, den Übergang einleitete.
Das Gorki-Theater kennt alle Spielarten der Bewertungskultur: Es wurde gefördert, gepriesen, geduldet. Und gemobbt. Denn ausgerechnet im Jubiläumsjahr 1992 hatte sich der Berliner Senat gegen Hetterles Vertragsverlängerung gesperrt: ein SED-Mann! Eine Solidaritätswelle erhob sich. Auch konnte sich die Bühne vor den Ausradierungsversuchen der Rotstiftfuchtler retten. Bernd Wilms (Intendant ab 1994) brachte Beruhigung, er setzte auf publikumswirksame Erneuerung, dies gelang mit Harald Juhnke und später Katharina Thalbach als „Hauptmann von Köpenick“, es funktionierte auch bestens mit Ben Becker als Franz Biberkopf in „Berlin Alexanderplatz“. Unter Leitung von Volker Hesse, der 2001 vom Neumarkt Theater Zürich kam, erfuhr die spielende Truppe Verjüngung, die Zahl der Ur- und Erstaufführungen (eingeleitet mit Theresia Walsers „Die Heldin von Potsdam“) stieg enorm.
Eines neuen Tags ein neuer Slogan: „Wir sind das Stadttheater von Berlin“. Schluss mit der Suche nach der Klientel. „Wir wollen alle!“ Von 2006 bis 2013 übernahm Armin Petras. Spurensuche in deutscher Geschichte, in brandenburgischem Sand. Deutsches Erbe: klingt wie Scherbe. Schleef, Kleist, Büchner. Petras hatte Berlins Wesen in die Kunstausübung übernommen: das Theater wie die Stadt – eine Baustelle. Bewegung, Werkstatt, permanenter Trubel. Sieben Jahre Petras – über 200 (!) Inszenierungen, auf, hinter, vor, neben der Hauptbühne. Hyperaktives Großraumdenken bis ins kleinste Gelass. Als sei Theater ein Kaufhaus – fürs Unverkäufliche.
„Für die auf See“ von Boris Lawrenjow – das war 1952 die erste Inszenierung am Haus. Sowjetischer Patriotismus als Programm. Klang dennoch vielversprechend: Das gesetzte Segel; der Wind, der hineinfährt. Wie Nietzsche: „Auf die Schiffe, ihr Philosophen!“ Aber nein, Gorki: Auf Linie, Genossen! Doch auch dieser proletarische Großautor ließ an mehr denken als nur an Parteilichkeit. Das Maxim Gorki Theater blieb dem kritischen Geist seines Säulenheiligen treu, mit wechselndem Erfolg, mit wechselnder Energie. Fahrt und Flaut, Weltvermessung bis zum Land unter. Die lockenden Horizonte blieben.
Das Gorki-Theater derzeit: Es ist seit 2013 die Stunde der Shermin Langhoff. Wie unter einem Brennglas zeigt sich der Kern der Gegenwart. Und auch betriebsstrukturell ließe sich am „Gorki“ alles aufführen, was rundum die Gemüter bewegt: Was bedeutet Leitung in Zeiten neuer, demokratiedisziplinierter Wachsamkeit? In welch aufgewirbeltem Verhältnis stehen Individualität und Kollektivität? Wie aufgeladen vollzieht sich die Seelenöffnung in künstlerischen Prozessen? Die #MeToo-Flagge weht heftig in stillsten Räumen.
Theatralisch überzeugt Konzentration, wie sie in dieser Konsequenz einmalig ist in Berlin: multikultureller Fokus, Öffnung hin zur freien Szene, digitale Erkundungen, intellektuelle Interventionen und Performances im öffentlichen Raum, das gesteigert Grelle und Selbstbewusste verschiedenster Lebensformen als weit strahlendes Signal. Getragen von einem Ensemble bezwingender migrantischer, andersstämmiger Kraft. Regiegewinne wie etwa Yael Ronen und Ersan Mondtag. Theater als Plädoyer für Außenseiter. Die bittere Sozialbewegung: Wir kommen, aber immer zu kurz! Also: Schrei und Gegenwehr. Als Beispiel steht der Titel „Und sicher ist mir die Welt verschwunden“, so heißt das vierte und letzte Stück einer Saga von Sibylle Berg, eine Auftragsarbeit für das Gorki-Theater. Ein radikal ehrliches, hartes Epos über das Weibliche unter patriarchalen Bedrängnissen (Regie: Sebastian Nübling).
Sieben Jahrzehnte, sechs Intendanten. Mag Erinnerung noch so kühl und einordnungsfleißig nach Tendenz fragen, als wahre Antwort zählt nur das Erlebnis, der lebendige Splitter. Und mag Theater Konzept sein, vor allem ist es: Körper. Schau-Spiel. Jeder Rück- und Hinblick muss ungerecht bleiben, wenn er die Komödiantengilde, das sinnliche Bild außen vor lässt. Wenigstens ein einziger Moment sei skizziert! Ich denke – eine akute Assoziation! – an „Iphigenie auf Tauris“, 2002 von Thomas Langhoff inszeniert. Der gegerbte Klaus Manchen als König Thoas: Herrschaftspolitik mit Senkblei im Herzen. Aber am Ende, wenn er Iphigenie ziehen lässt, springt er über weit mehr Schatten, als die harte Sonne seines Reichs erschaffen kann. Er gibt der Scheidenden die Hand. Und Sekunden danach schaut er diese Hand an, als gehöre sie gar nicht zu seinem Körper. Schaut lange. Stiftete diese Hand soeben Frieden? Oder ist die dem Feind gereichte Hand eine Verräterin? Blick ins Publikum. Vorhang. Ende. Oder Anfang? Unvergesslich, dieses Unentschieden. Nur was zerrt, das zählt. So erzählt sich hinterm Kastanienwäldchen: Welt. //