Theater der Zeit

Lars Eidinger

von Thomas Ostermeier

Erschienen in: backstage: EIDINGER (03/2011)

Assoziationen: Akteure Sprechtheater Lars Eidinger Schaubühne am Lehniner Platz

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Lars Eidinger ist Berliner. Wenn es so etwas gibt wie eine Berliner Schnauze, dann hat er sie zur Perfektion gebracht. Was verbirgt sich hinter diesem eigenartigen Berliner Phänomen, jeden herzlich und nassforsch in die Schranken zu weisen? Jedem etwas komplett Absurdes und Unvorstellbares mit einem so trockenen Humor vorzutragen, dass man es für wahr hält? Vielleicht zeigt sich hierin die Berliner Geschichte, besonders die des 20. Jahrhunderts, in deren Verlauf die Einwohner dieser Stadt mit so vielen verschiedenen Ideologien und Wahrheiten konfrontiert waren, dass am Schluss niemand mehr wusste, was man jetzt für wahr oder falsch halten sollte. So entstand bei einem Berliner wahrscheinlich die grundsätzliche Skepsis gegenüber Menschen, die ein allzu selbstgewisses Auftreten haben. Die Erkenntnis, dass nichts sicher ist und nichts so bleibt, wie es ist, verbirgt sich hinter einer Maske der Ironie. So auch bei Eidinger. Lediglich von seinem Bruder Jens übertroffen, kenne ich keinen anderen Menschen, der so trocken und phantasievoll witzige Querverbindungen und aberwitzige Wortspiele zu bringen weiß. Lars macht die Arbeit und die Freundschaft mit ihm zu einem permanenten Spiel mit Haltungen und Identitäten und so auf verzwickte Art und Weise sehr unterhaltsam. Möglicherweise war es seine radikalste Finte, als er in den Anfängen unseres Mitbestimmungsversuchs an der Schaubühne vorschlug, die Ensembleversammlungen zur „ironiefreien Zone“ zu erklären. Falls uns das nicht gänzlich gelinge, schlug er vor, möge man, wenn man etwas ironisch meine, doch den rechten Arm heben, damit die anderen sofort wissen, was los sei und man danach wieder zum Ernst der Lage zurückkehren könne. War das schon Ironie in der zweiten Ableitung oder hat er diesen Vorschlag wirklich ernst gemeint? Oder noch anders ausgedrückt: Hätte er ihn gerne ernst gemeint?

Manchmal denke ich, er hat ihn absolut ernst gemeint und seine Tragödie liegt darin, dass ihm das keiner glaubt. Das Problem des Clowns, der schon fünfundzwanzig Mal zur Unterhaltung des Publikums behauptet hat, sein Hosenboden brenne, und wenn er dann wirklich brennt, glaubt ihm keiner mehr. Mir scheint, Lars blieb mit dieser Geisteshaltung und dieser Herkunft – gestählt in der bestimmt nicht ironiefreien Zone einer Berliner Gesamtschule – gar nichts anderes übrig, als Schauspieler zu werden. Der ideale Beruf für Menschen, die es verstehen, auf hohem Niveau mit Haltungen und Identitäten zu spielen und diese so zu beleben, dass man nicht mehr weiß, was Spiel und was Ernst ist. Seitdem ich mit Lars Eidinger arbeite, habe ich das Gefühl, dass er beständig dabei ist, die Grenzen seines Spiels und seines oft aberwitzigen Humors so weit auszudehnen, bis endlich alle verstehen, wie ernst es ihm ist. Deswegen wird er auf der Bühne bestimmt auch nur selten als Komiker wahrgenommen. Kein Wunder, ist er doch im Privaten so komisch und ein so großartiger Unterhalter, dass er auf der Bühne seine Sehnsucht danach auslebt, ernst genommen zu werden und in dieser ironieverseuchten Welt in den Abgrund des Menschen zu blicken.

Schon meine erste Begegnung mit ihm, als er es mit seinem Charme nach wochenlangen Versuchen endlich geschafft hatte, dass ich mir ein Vorsprechen von ihm ansah – obwohl wir eigentlich alle Stellen besetzt hatten – war von der Aberwitzigkeit seiner Person geprägt: Er setzte sich auf der Probebühne vor mich hin, lutschte genüsslich über mehrere Minuten ein Bonbon „Werthers Echte“ und begann nicht mit dem Text von Franz Moor. Nachdem diese Séance auch noch durch eine anspringende Klimaanlage gestört wurde, fing er nochmal mit derselben stoischen Ruhe von vorne an, ein Bonbon zu lutschen, und ich war wirklich hin- und hergerissen, was ich jetzt davon zu halten hätte. Die Arbeit von Lars an der Schaubühne zeichnet sich durch Selbstbewusstsein und die komplette Abwesenheit von Angst aus, peinlich oder unglaubwürdig rüberzukommen. Das führt so weit, dass er eine im deutschen Ensembletheater seltene Form von Loyalität gegenüber seinem Theater besitzt. Ich erinnere mich noch sehr genau, als er sich in der Anfangszeit, in der wir mit starkem Gegenwind der Kritik zu kämpfen hatten, entrüstet vor das Ensemble einer Krisenproduktion stellte, das gerade die Absetzung des Regisseurs diskutierte, und der Angst seiner Kollegen vor der Kritik mit den Worten entgegentrat: „Ey Leute, ihr glaubt doch nicht wirklich, dass wir jemals wieder gute Kritiken kriegen werden!“ (Hier sollte er sich, zumindest was seine Person anbelangt, glücklicherweise irren.) Es geht ihm nicht in erster Linie darum, zu gefallen oder gute Kritiken zu bekommen, sondern er ist immer auf der Suche danach, was seine Generation zu den Problemen, die in der klassischen und zeitgenössischen Dramatik verhandelt werden, zu sagen hat. Immer wieder fordert er in der Arbeit mit mir ein, zu formulieren, worum es mir in dem Stück eigentlich geht, und fordert mich heraus, die Situationen komplizierter und ungewöhnlicher zu lesen.

Eidinger hat keine Angst oder zumindest scheint es so, als habe er keine. Eine ziemlich seltene Eigenschaft im deutschen Theaterbetrieb, welcher oft von Zaghaftigkeit und der Angst, etwas falsch zu machen, geprägt ist. Ich glaube wirklich, dass er es geschafft hat, die Selbstverständlichkeit, mit der Kinder spielen, und die Sorglosigkeit, mit der sie die Welt um sich herum vergessen, in sein Erwachsenenleben zu retten. Das macht ihn so faszinierend. Ständig ist er bereit, in seinen Vorschlägen noch weiter zu gehen, die Situation noch weiter eskalieren zu lassen, die Grenzen des guten Geschmacks zu überschreiten, und er ist auch dafür zu begeistern, dass man den Schabernack, den er in den Probenpausen treibt, in die Aufführung integriert. So geschehen z. B. beim Sommernachtstraum, als er aus lauter Übermut einer der auf dem Requisitentisch liegenden Masken seinen Penis durch den geöffneten Mund schob, so dass es aussah, als hätte dieses Maskengesicht eine grotesk lange Zunge. Aber bestimmt ist auch der Moment im Menschenfeind von Ivo van Hove, in dem er sich eine Bockwurst anal einführt, davon getrieben, in dieser konsensverseuchten Welt doch noch irgendwo einen Moment von echtem Widerspruch zu erzeugen.

Eidinger ist ein spielendes Kind in einer Welt, in der alles zum Spiel der Ironie und des „Sowohl-als-auch“ verkommen ist, und der doch noch sehnsüchtig hofft, dass aus dem Spiel endlich Ernst wird.

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