Theater der Zeit

Stück

Gespräch mit Marianna Salzmann

von Dorte Lena Eilers und Sasha Marianna Salzmann

Erschienen in: Theater der Zeit: Robert Wilson: Göttliche Monster (03/2014)

Assoziationen: Dramatik

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Die Autorin Marianna Salzmann über ihr Stück „Hurenkinder Schusterjungen“ und den Luxus, nihilistisch sein zu können, während es an den Rändern Europas brennt, im Gespräch mit Dorte Lena Eilers

Marianna Salzmann, Sie haben „Hurenkinder Schusterjungen“ geschrieben, nachdem Sie im vergangenen Jahr in Istanbul waren, als dort im Mai die Proteste gegen Tayyip Erdogan und seine Regierung losbrachen. Wie haben Sie als Außenstehende die Demonstrationen erlebt?

Ich habe acht Monate in Istanbul gelebt und mich in die Stadt verliebt. Ich wollte alles wissen, wollte alles verstehen. Das ist bei einer Stadt wie Istanbul nicht einfach. Ich habe mich viel mit Gentrifizierung befasst, war mit Aktivistinnen und Aktivisten, Gewerkschaftlerinnen und Gewerkschaftlern unterwegs. Mir schien alles, die Kultur, die Art zu leben, sehr nah. Obwohl ich zum ersten Mal in Istanbul war, hatte ich das Gefühl, vieles schon zu kennen. Aus Deutschland eben. Ich habe das theoretisch gewusst, dass Deutschland und die Türkei geschichtlich zusammengehören. Ich wusste um die Folgen der Neosklaverei der ersten Gastarbeitergeneration, ich wusste um das enge Verhältnis zwischen dem Sultan und Wilhelm II. Und um die deutsche Beteiligung am armenischen Genozid. Aber das waren alles Informationen aus Geschichtsbüchern. Als ich vor Ort war, wurde Geschichte zu Menschen. Zu konkreten Erlebnissen. Es gab an jedem Ort, in jedem Raum, in dem ich war, jemanden, der/die Deutsch sprach und/oder Verwandte in Deutschland hatte.

Es gibt in der Türkei ein wahnsinnig positives Bild von Deutschland. Alle haben mich dazu beglückwünscht, aus Deutschland zu kommen. Gleichzeitig liefen während meines Aufenthalts die NSU-Prozesse. Ich war in dieser völlig absurden Situation, den Leuten von der mittlerweile tödlichen Marginalisierung im Mekka Deutschland zu erzählen. Nur die jüdische Community, die wollte von mir gleich wissen, warum Deutsche nicht als Reaktion auf den NSU auf öffentliche Plätze gehen und ihre Pässe zerreißen. Das habe ich mich auch gefragt. Was sollte ich ihnen sagen? Istanbul ist so vielfältig, so voller Widersprüche und gleichzeitig voller Zusammenhalt. Als ich während meiner Recherchen hörte, dass der Taksim-Platz umgebaut werden soll, habe ich gefragt, warum niemand rebelliert. Und dann wurde ich eines Besseren belehrt …

… und haben sich gleich in die Massen gestürzt, obwohl die Situation ziemlich schnell gewalttätig wurde.

Ja, so etwas hatte ich vorher noch nicht erlebt. Ich kenne Demo-Situationen, aber das war Ausnahmezustand. Es begann ganz friedlich. Ein Freund von mir wohnt direkt hinter dem Taksim. Er meinte: „Hey, der LGBT (Abkürzung für Lesbian, Gay, Bisexual, Trans, Anm. d. Red.) tanzt gerade im Gezi-Park, du stehst doch auf dieses Zeug! Sie tanzen gegen den Umbau des Parks, setzen sich auf die Abrissbirnen und so.“ Und ich nur: „Super! Morgen gehen wir hin und tanzen mit.“ Ja, und am nächsten Morgen war schon Tränengas in der Wohnung. Vor unserem Balkon eine Flut von Menschen. Sie müssen sich vorstellen: Die öffentlichen Medien berichten nicht, das heißt, alles läuft über Twitter, Facebook, Telefonate, man erhält SMS wie: „Geh nicht über Dolmabahçe“, „Bringst du Zitronen mit?“ Wir haben Nachrichten bekommen, dass Ankara anfängt zu brennen, dass Izmir brennt, wir hatten das Gefühl, das ganze Land steht jetzt auf. Da war klar: Das ist ein historischer Moment unter deinem Fenster. Und natürlich sind wir raus auf die Straße.

Ich habe noch nie erlebt, dass sich derart unterschiedliche Bevölkerungsgruppen in den Armen liegen. Dass Luxushotels, die ich gehasst habe, ihre Türen öffnen für Steineschmeißer/-innen. Dass alte Männer Jungs mit Anonymous-Masken verarzten, Kemalisten Kurden schützen und umgekehrt. Über dem Taksim-Platz waren TKP- neben LGBT-Flaggen zu sehen, und alle sangen „Bella Ciao“, darauf konnte man sich einigen (lacht). Nachdem wir am ersten Tag die Polizei zurücktreiben konnten, war es ein Volksfest. Bis die Nachricht kam, dass es den ersten Toten gab. Das Schreiben darüber war mir auch deshalb so wichtig, weil ich all diese Momente, die Dynamik, den Rausch festhalten wollte. Zum Beispiel die alte Frau, von der ich im Stück schreibe, die für die Demonstranten Plätzchen gebacken hat und dann umgerannt wurde. Menschen, die verschleppt wurden, von Männern in weißen Hemden, bei denen du irgendwann weißt, das sind Polizisten in Zivil.

Trotz dieser intensiven Erlebnisse lassen Sie die Proteste im Stück eher am Rande stattfinden, in den Erzählungen dreier WG-Bewohner, die selbst kaum das Haus verlassen. Kritiker haben Ihnen vorgeworfen, das sei alles zu unspezifisch, zu peripher – und damit zu unpolitisch. Warum haben Sie sich für diese Perspektive entschieden?

Weil ich es anmaßend finde, sich ein Thema anzueignen, was nicht meins ist, und exotisierend darüber zu berichten, aus meinem sicheren Deutschland heraus. Ich habe ja nicht über Istanbul geschrieben. „Hurenkinder Schusterjungen“ ist das Konstrukt Europa. Darüber fühle ich mich berechtigt zu schreiben. Über den Luxus, nihilistisch sein zu können, vor sich hin zu vegetieren, sich aus der globalen Verantwortung zu winden in dem süchtig machenden Individualismus, während es an den Rändern Europas brennt.

Ich habe mich viel mit meinen eigenen Privilegien befasst, als ich in Istanbul war. Wie ich als deutsche Staatsbürgerin davon profitiere, dass die Türkei ausverkauft wird. Wenn man sich umschaut, sind die Geldgeber nämlich: Metro, Saturn, Bauhaus. Und drüber hinaus: die Visafrage! Ich kann mit meinem Perso ins Land und aus ihm raus, wann ich will, und Menschen, die in Deutschland geboren und aufgewachsen sind, dort Familie haben, gehen durch erniedrigende Prozeduren, um dann abgelehnt zu werden. Diese Hierarchie, die vorherrscht, ist doch kein Selbstläufer. Genauso braucht Europa die Türkei. Genauso braucht Europa alle Revolten, die außerhalb seiner Grenzen passieren. Fehlt noch, dass ich als deutsche Staatsbürgerin darüber berichte, wie schlimm es drüben ist, und damit gleichzeitig Europa aufwerte.

Und zu dem, was mich innerhalb der Festung interessiert hat: dieser christliche Boden, auf dem wir die Mutter-Vater-Kind-Normative nachspielen. Ich wollte nach „Muttersprache Mameloschn“ über Väter schreiben, weil ich eine Generation von vaterlosen Kindern beobachte, die ganz anders vaterlos sind als die Nachkriegsgeneration. Die Väter sind ja eigentlich alle da, nur keine Signifikate mehr. Ich finde es schön, dass es im Deutschen heißt: Gottvater. Oder Vater Staat. Was bedeutet es also im nächsten Schritt, wenn wir Gott töten – schaffen wir die Autorität wirklich ab? Wollen wir das? Oder suchen wir eigentlich immer noch nach einem Vater, der uns sagt, wo lang?

Mich erinnert die Konstellation der drei WG-Bewohner Ali, Buchs und Tschech, ihr Rückzug in die Wohnung, ihre immer auch sexuellen Spielchen an Bernardo Bertoluccis Film „Die Träumer“, der während der Pariser Studentenrevolte 1968 spielt. War der Film eine Referenz für Sie?

Nicht bewusst. Ich sehe den Film kritisch. Ein schöner Film, aber ich empfand ihn als kontrarevolutionär.

Bertolucci selbst hat den Film als ein Monument der 68er Bewegung gesehen hat, auch und gerade in seinen Bezügen zum Kino. In Interviews sagte er, die Zeit der Studentenrevolte sei die größte Zeit seines Lebens gewesen. Empfinden Sie eine ähnliche Euphorie, wenn Sie sich die Proteste rund um den Globus anschauen?

Ja, keine Frage. Die Euphorie um die Proteste in Istanbul wirkt noch ein Jahr später in mir nach. Aber Bertolucci hat über einen Protest gesprochen, der auch in seinem Land stattfand. Und solange der Widerstand nicht hier in Deutschland passiert, kann ich darüber schlecht sprechen. Natürlich, auch hier brennt es ein bisschen, aber noch kann man sich daran wärmen und sagen, toll, dass unsere Jugend aufsteht. Wir riskieren nicht viel hierzulande, weil wir unsere Vormachtstellung nicht aufs Spiel setzen wollen. Das deutsche Selbstbewusstsein verschreckt mich von Jahr zu Jahr immer mehr. Oder sagen wir, das deutsche Selbstverständnis.

Ein Beispiel: Ich bin in Deutschland aufgewachsen, und dieses Aufwachsen war durchgehend begleitet von Zusammenstößen mit Neonazis. Angefangen vom Asylbewerberheim, dann auf dem Schulhof, auf Demos, auf dem Dorf … Und weil ich wie alle anderen auch lieber glaube, was gesellschaftlicher Konsens ist, dachte ich, na ja, ich habe Pech gehabt, aber sonst gibt es nicht wirklich Neonazis in diesem Land.

Später habe ich in Dresden zum Fall von Marwa El-Sherbini recherchiert. Ich wollte mit Deniz Utlu darüber schreiben. Und da geriet ich in einen Recherchestrudel. Ich war in der Sächsischen Schweiz, ich war in den No-go-Areas. Da kriegt man schon ganz schnell das Gefühl, wir müssen sofort handeln, sonst sind wir wieder in den 30ern des letzten Jahrhunderts. Aber es war schwierig, eine Förderung zu bekommen. Wenn wir uns mit Kulturschaffenden darüber austauschten, gab es Bemerkungen darüber, dass natürlich ein Deniz Utlu und eine Marianna Salzmann über Neonazis schreiben wollen. Aber es sei doch kein Problem der Mehrheitsgesellschaft. Warum nicht? Warum hat die Mehrheit kein Problem damit? Ich glaube nicht, dass sich so viel in dem Bewusstsein hierzulande verändert hat seit den NSU-Prozessen. Wir schimpfen gerne auf Ungarn, schlagen die Hände über dem Kopf zusammen wegen Le Pen, kreischen gegen Putin. Heute habe ich im Radio gehört, dass es vergünstigte Bahntickets nach Sotschi geben soll, die Deutsche Bahn macht’s möglich. Warum packen wir das Problem nicht von hier aus an?

Es gibt eine berühmte Studie des Bielefelder Pädagogikprofessors Wilhelm Heitmeyer, „Deutsche Zustände“ lautet der Titel. Unter diesem Oberbegriff wurde über zehn Jahre der Zusammenhang zwischen sozialen und ökonomischen Verhältnissen sowie der Entwicklung von Vorurteilen gegenüber gesellschaftlichen Minderheiten in Deutschland untersucht. Sind solche soziologischen, analytischen Zusammenhänge für Ihr Schreiben interessant?

Ich bin kein großer Fan davon, menschliches Verhalten über ein „wenn-dann“ oder „weil-deswegen“ zu analysieren. Mit meiner Biografie hätte ich jetzt auch jemand anderes sein können. Theoretische Kausalketten sind oft eine Falle. Ich kenne viele perspektivlose Jugendliche, die nicht den rechten Arm nach oben austrecken – um es vereinfacht zu sagen. Ich weiß auch nicht, ob diese Analysen so produktiv sind. Mich als Autorin interessiert das Anarchische in der Psychologie von Menschen, nicht das Berechenbare. Und als politischer Mensch will ich die strukturellen Missverhältnisse verhandeln. Ich finde es ekelhaft, wenn solche Verbrechen wie das Wegschauen bei den NSU Morden personifiziert werden, mit Details ausgeschmückt und damit die Täter auch noch heroisiert werden. Mich interessiert es einen Scheißdreck, ob die Frau Katzen mag oder ob ihre Oma nett ist. Ich will das nicht in meinem Kopf haben. Und ich verstehe auch nicht, wie die Presse dem Ganzen so viel Fokus geben kann. Das Verantwortungsloseste, was man tun kann, ist einen exotischen Mythos darum zu erschaffen. Das Mona Lisa-Lächeln, das sie Beate Tschäpe da angedichtet haben, diese ikonenhaften Bilder um die Mörder herum, das tut mir weh. Was wissen wir über die Opfer? Eben nur das – arme Opfer, Blumenverkäufer, hatten Kinder, na ja. Was für ein Bild soll eigentlich vermittelt werden bei diesen Prozessen? Das verwirrt mich.

Ich glaube, dass das Theater ein sicherer Raum sein kann. Das habe ich am Ballhaus Naunynstraße erfahren. Es gibt viele von uns, die, die sich bewusst der neuen deutschen Realität stellen wollen, nicht zuletzt in der Verantwortung als Künstler und Künstlerinnen. Das ist ein wichtiges Gefühl. Es gab für mich einen magischen Moment bei der Eröffnung des Maxim Gorki Theaters während des Herbstsalons, in der Arbeit von Yael Ronen mit Nils Bormann: „The never ending apologize“, wo sich Nils Bormann, als Deutscher, bei allen entschuldigt. Eine Komödie. Die Zuschauer trafen sich vor dem Theater. Da stand Nils im weißen Hemd, bis oben zugeknöpft, und fragte: „Gibt es Juden unter Ihnen?“ Da hab ich mich gemeldet. Und er: „Es tut mir so leid.“ Und dann: „Schwule auch?“ Dann ist er alle Minderheiten durchgegangen. Wir konnten nicht mehr, wir alle haben uns totgelacht. Zum Schluss sollten sich die sogenannten Täter und Opfer gegenüber aufstellen. Wir, die ganzen Minderheiten also, sollten auf die eine Seite und die allen Normativen entsprechende Weißen Deutschen auf die andere. Davon gab es so drei, der Rest waren wir. Wir standen uns gegenüber und haben gegrinst. Ich glaube, Selbstermächtigung geht nicht ohne Humor. Ohne Selbstironie sowieso nicht.

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