Die Arbeit am künstlerischen Text
von Viola Schmidt
Erschienen in: Mit den Ohren sehen – Die Methode des gestischen Sprechens an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch Berlin (04/2019)
Assoziationen: Schauspiel
Ein auf der Bühne gesprochener Fremdtext kann in verschiedenen Spielsituationen verschieden verstanden werden, ohne dass sein Inhalt sich ändert. Das enthebt uns nicht der manchmal mühevollen Arbeit, ihn aus der Perspektive der Dichter zu begreifen. Da wir mit den Dichtern und ihren Figuren in der Regel keinen gemeinsamen Erfahrungshintergrund teilen, müssen wir uns an manch sprachliches Bild heranarbeiten. Dazu gehören nicht nur Metaphern, sondern auch Vergleiche und einzelne Wörter, die sich uns nicht sofort erschließen. Unser Beispieltext, der Botenbericht des Odysseus aus Kleists Stück „Penthesilea“, bietet eine Reihe von Herausforderungen für analytisches und sinnliches Verstehen, das sich erst aus dem Widerspruch zwischen der erzählten Situation und der Situation, in der erzählt wird, erschließt. Der Standpunkt des Erzählers kann in Abhängigkeit von der Erzählsituation verschoben werden. Nicht jeder künstlerische Text lässt diese Verschiebung in gleichem Maße zu. In einen Großteil dramatischer Dichtung ist die Sprechsituation in den Text eingeschrieben. In anderen Texten lässt sie sich mehr oder weniger fantasieren. Nicht jeder Text eignet sich gleichermaßen gut für das gestische Sprechen. Wenig verdichtete Texte, bei denen die reine Information im Vordergrund steht, faktische Texte also, bieten kaum Reibungsmöglichkeiten und regen die Fantasie höchstens durch ihren Inhalt, aber weniger durch ihre Struktur an.