Theater der Zeit

Protagonisten

Des Kaisers neue Kleider

Frank Castorf über seine Romanadaption von Victor Hugos „Les Misérables“ am Berliner Ensemble und den Abschied von der Volksbühne im Gespräch mit Peter Laudenbach

von Frank Castorf und Peter Laudenbach

Erschienen in: Theater der Zeit: Theater ist kein Wettrennen – Barbara Frey am Schauspielhaus Zürich (01/2018)

Assoziationen: Akteure Berliner Ensemble

Frank Castorf, mit Victor Hugos Roman „Les Misérables“ bleiben Sie am Berliner Ensemble Ihrer Liebe zu dicken Romanen aus dem 19. Jahrhundert treu. 1862, im Erscheinungsjahr des Romans, notieren die Brüder Goncourt in ihrem Tagebuch, es sei „amüsant“, dass Hugo 200 000 Francs, ein enormes Vermögen, damit verdiene, „dass man das Elend der unteren Volksschichten bemitleidet“. Ist das zynisch oder einfach gut beobachtet, oder ist es beides?
Man kann offenbar viel Geld damit verdienen, das Elend zu beschreiben und journalistisch oder in Hollywood zu verwerten. Aber deshalb nicht über die Armut zu schreiben würde auch niemandem helfen. Die Brüder Goncourt waren Bluthunde der Reaktion, man erinnere sich an ihre berühmten Sätze über die Pariser Kommune, jeden der Aufständischen müsste man einzeln durch die Straßen zu Tode schleifen. Sie waren absolut reaktionär, trotzdem waren sie in der Lage, die Attraktivität großer Literatur, ihre Widersprüche, die sich im Einzelnen widerspiegeln, sehr genau zu beschreiben. Fast zur gleichen Zeit wie Hugo verfasst Balzac seine bissigen Gesellschaftsromane, von denen Marx sagt, Balzac sei vielleicht Royalist, aber niemand beschreibe den Zustand der französischen Gesellschaft besser als er. Er schreibt so viel wie kein anderer, um all die Seide, die Schulden und die Liebe zu bezahlen....

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