Stück Labor – Neue Schweizer Dramatik
Die einzige Verbindung nach draußen
Anna Papst über ihr Stück „Freigänger“ im Gespräch mit Elisabeth Maier
von Anna Papst und Elisabeth Maier
Erschienen in: Theater der Zeit: Work, Bitch – Die Regisseurin Pınar Karabulut (03/2019)
Assoziationen: Dramatik Schweiz Bühnen Bern
Anna Papst, in Ihrer Theaterreportage „Freigänger“, die auf Interviews mit Strafgefangenen und Fachleuten im Strafvollzug basiert, kommen sehr persönliche Themen von Menschen zur Sprache, die in extremen Situationen leben. Das Stück sucht nach Motiven, die erklären könnten, warum diese Menschen zu Verbrechern wurden. Wie ist es Ihnen gelungen, mit den Gesprächspartnern eine Vertrauensbasis aufzubauen?
Angefangen habe ich über die Institutionen. Ich habe sowohl den Direktor der Strafanstalt Lenzburg als auch den Direktor des offenen Strafvollzugs in Witzwil angeschrieben und ihnen mein Projekt vorgestellt. Beide waren sehr offen. Es war aber auch klar, dass wir niemanden von den Strafgefangenen zwingen würden mitzumachen. Dann habe ich einen ganz altmodischen Aushang gemacht. Klar war, dass alle Interviews anonymisiert werden. Und es gab auch keine Entlohnung. Das ist ein wichtiger Bestandteil meiner Arbeit. Als Gegengabe habe ich den Teilnehmern aber Telefonkarten geschenkt. Im Strafvollzug ist das ja die einzige Verbindung nach draußen. Ich war sehr überrascht, wie viele Interessenten sich gemeldet haben. Sie kamen zu mir in ein Büro, das ich während meiner Recherchen bekommen habe. Da hatten wir Zeit, um ins Gespräch zu kommen. Das Redebedürfnis war groß. In Witzwil leben viele Freigänger, die kurz vor der Entlassung stehen. Mit ihnen habe ich mich wieder getroffen, nachdem sie in Freiheit waren.
Sie haben sich für einen dokumentarischen Ansatz entschieden. Aber anders als etwa bei Rimini Protokoll stehen Ihre Gesprächspartner nicht persönlich auf der Bühne. In der Uraufführung am Konzert Theater Bern, die Sie selbst inszeniert haben, erzählen drei Schauspielerinnen deren Geschichten. Warum haben Sie sich für diese Form entschieden?
Bei mir stehen Schauspieler auf der Bühne, weil die Menschen, um die es geht, ihre Geschichten nicht selbst erzählen können oder wollen. Viele der Interviewpartner sind ja noch im Gefängnis. Aber auch bei meinem letzten Projekt, in dem es um den unerfüllten Kinderwunsch ging, waren sich die Beteiligten zwar einig, dass es wichtig ist, über das Thema zu sprechen. Nur wollten sie das eben nicht live vor Publikum tun. Meine Reportagen für das Theater erzählen Geschichten von Leuten, die selbst nicht anwesend sein können oder möchten. Spielerinnen und Spieler sprechen für sie. Mir geht es dabei auch um die künstlerische Qualität. Im Anschluss an „Freigänger“ bieten wir Publikumsgespräche an. Ein forensischer Psychiater und ein ehemaliger Strafgefangener haben sich in die Öffentlichkeit getraut – ihre Berichte kommen auch im Stück vor. Wenn man ihre Sprache jedoch mit dem Kunsttext vergleicht, den eine Schauspielerin spricht, liegt da ein großer Unterschied. Meine Setzung ist eine andere. Die Art, wie Profis mit der Sprache umgehen, ist für Laien nicht möglich. Schauspieler haben die Gabe, den Text so zu sprechen, dass ihnen das Publikum an den Lippen hängt. Ich setze auf Verfremdungstechnik. Man sieht die Person nicht, die spricht, sondern einen Stellvertreter. Das Publikum bekommt Positionen präsentiert und darf sich selbst entscheiden.
War „Freigänger“ eine Stückentwicklung?
Ich habe die Proben mit einer Textfassung begonnen. Gerade bei Reportagen für das Theater ist diese aber zu Beginn nie fertig. Erst hält man alles für relevant, doch dann fliegt noch mal mindestens ein Viertel des Textes raus. Manches liest sich gut, was auf der Bühne einfach nicht funktioniert. Vor Probenbeginn hatten wir auch eine andere Aufteilung und Montage.
Im Gegensatz zu den meisten anderen Autoren im Stück Labor haben Sie den Text selbst inszeniert. War es für Sie keine Option, die Uraufführung in andere Hände zu geben?
Anfangs war es schon denkbar. Dann war mir aber schnell klar, dass es nicht geht. Die Menschen haben mir vertraut und ihre Geschichten erzählt. Das kann ich nicht an jemand anderen übergeben. Andere Kollegen haben die Leute nicht getroffen. Karikatur, Überzeichnung und Betonung sind legitime Inszenierungsmittel, würden den Betroffenen aus meiner Sicht aber nicht gerecht. In der Uraufführung wollte ich daher selbst die Akzente setzen. Ich würde mich aber über weitere Aufführungen freuen, die neue Perspektiven öffnen. Grundsätzlich halte ich es für gut, wenn im Stück Labor erfahrene Regieteams die neue Dramatik in Szene setzen. Den Trend, neue Stücke nur noch dem Regienachwuchs anzuvertrauen, halte ich für falsch. //