Thema
Realitätseffekte
Materialien im imaginären Museum Puppets 4.0 und in einer digitalen Theatrum mundi-Aufführung
Was wird aus der Materialität des Figurentheaters, wenn es zum Digitalisat wird? Zwei Projekte haben sich in jüngster Zeit damit intensiv auseinandergesetzt: Das imaginäre Museum Puppets 4.0 ist ein Angebot vom Deutschen Forum für Figurentheater und Puppenspielkunst (dfp). Die digitale Theatrum mundi-Aufführung wurde in der Puppentheatersammlung der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden (SKD) entwickelt. Beide Projekte untersuchten die Möglichkeiten zur Digitalisierung des Materials historischer Figurentheater – und haben dabei die gegenwärtigen technischen und materiellen Rahmenbedingungen für die Erforschung und Präsentation von Materialität im musealen Kontext neu ausgelotet.
von Mario Kliewer
Erschienen in: double 45: An die Substanz – Material im Figurentheater (04/2022)
Assoziationen: Sachsen Puppen-, Figuren- & Objekttheater Dossier: Digitales Theater Dossier: Material im Figurentheater
Puppets 4.0 ermöglicht über eine VR-Brille den Zugang zu fünf aufeinanderfolgenden digitalen Ausstellungsräumen. In virtuellen Vitrinen und vor unterschiedlichen Kulissen werden Objekte aus der Sammlung von Fritz Wortelmann, dem Gründer der dfp-Vorgängerinstitution „Deutsches Institut für Puppenspiel“, präsentiert. Darunter befinden sich materiell komplexe Figuren, wie die Puppen Lore Lafins, hergestellt aus Papiermaché, Holzmehl, Binderzusatz und vielfältigen Textilien, oder die aus Holz geschnitzten und bemalten Figuren des traditionellen indonesischen Wayang-Theaters, für deren Herstellung zudem Textilien, Leder, Pergament, Fransen und Pailletten benutzt wurden.
Im Mittelpunkt der 3D-Digitalisierung stand die Qualität von Textur und Auflösung der Exponate, betont Mareike Gaubitz. Dabei habe die Vielfalt an Materialien die Scans der Figuren im photogrammetrischen Verfahren aber auch erschwert. Als Beispiele nennt die Leiterin des Dokumentations- und Forschungszentrums des dfp eine indonesische Rangda-Maske und die metallische Rüstung einer Opera dei Pupi-Marionette aus dem sizilianischen Marionettentheater. Unterschiedliche Texturen führten zu verschiedenen Ergebnissen. Besonders diffuse Strukturen wie Fell oder Haar erwiesen sich als kompliziert.
So mussten bei den Haaren der Maske Abstriche im Detailreichtum des 3D-Modells gemacht werden. Glänzende Materialtexturen, wie die Oberfläche der Rüstung, wurden nach dem Scan zum Teil stark nachgearbeitet. Zudem experimentierten die Ausstellungsmacher*innen beim Scannen glänzender Stoffe oder von Metalloberflächen viel mit den Lichteinstellungen. Diese Materialien reflektieren Licht anders als beispielsweise die hölzernen Oberflächen der ausgestellten Puppenköpfe.
Auch eine gewisse technische Flexibilität erhöhte die Qualität der Ergebnisse. So konnte mit dem Handscanner die Textur der Metalloberfläche bei der Rüstung der großen Opera dei Pupi-Marionette deutlich besser erfasst werden. Die Figur erwies sich zudem als zu groß und zu schwer für den Scan im photogrammetrischen Verfahren. Für die Flachfiguren des Schattentheaters, deren Wirkung sich ohnehin eher zweidimensional entfaltet, erzielten die Macher*innen von Puppets 4.0 die besten Ergebnisse für Farbintensität und Detailgenauigkeit mit einem Flachbettscanner.
BEWEGUNG, LICHT UND TEXTUR
Die Dresdner Puppentheatersammlung entwickelte das virtuelle Theatrum mundi für verschiedene Zwecke: zur Erforschung des historischen mechanischen Welttheaters, als digitales Dramaturgietool für die Simulation und das Kuratieren musealer Präsentationen und als partizipative Anwendung, die Nutzer*innen in Ausstellungen und online zu Regisseur*innen macht. Als Vorlage für die Entwicklung der Anwendung dienten Kulissenteile und Figuren des Stücks „AGRA, Residenz der indischen Großmoguln“ aus dem Theatrum mundi von Curt Kressig (1883-1970), perspektivisch sollen aber auch weitere Welttheater-Stücke und andere Theaterformen wie das Schattentheater implementiert werden. An die Digitalisierung und die visuelle Präsentation des Materials stellte diese Nutzungsvielfalt besondere Anforderungen.
Die Figuren und Kulissenteile aus Holz und bemalter Pappe wurden zunächst hochauflösend fotografiert. Auf Basis dieser Aufnahmen entstanden digital twins: 3D-Modelle, die das Original möglichst realistisch abbilden. Wenn die Figuren mit Mechaniken nachempfunden waren, dann wurden zusätzlich die Binnenbewegungen dieser Modelle animiert, ganz im Sinne des titelgebenden Hauptziels des Projekts: „Die Dinge (wieder) in Bewegung bringen“. Denn während die Originalfiguren aus Kressigs Theater heute aus konservatorischen und restauratorischen Gründen oft nicht mehr bewegt werden, ist das bei den digital twins ohne weiteres möglich.
Wie lässt sich die atmosphärische Wirkung des historischen Theatrum mundi heute simulieren? Diese Leitfrage zog bereits im Digitalisierungsprozess verschiedene weitere nach sich. Wie detailliert muss die materielle Textur der Figuren modelliert werden, wie genau die Kulissenteile? Wie sah die Lichtsituation auf den historischen Bühnen aus? Wie reflektierten die Materialoberflächen das Licht? Aber auch: Wo können heute Arbeitsabläufe vereinfacht und optimiert werden, weil beispielsweise das Holz der Wagen, auf denen die Figuren über die Bühne fuhren, ohnehin hinter den Pappkulissen verschwand und somit nicht zur Illusion beitrug. Eine einfache hölzerne Textur, die bei allen Wagen gleich ist, erwies sich hier als die praktikable Variante.
Die 3D-Modelle der Tiere und Menschen, der Giraffe, des Elefanten, der Träger, der Flaneure, der Soldaten und der Schiffe, aber auch die Nachbildungen der Gebäude und Pflanzen in den Kulissen zeichnen sich durch beindruckenden Detailreichtum aus. Wie im Puppets 4.0-Projekt wurde der Fokus auf die Qualität von Textur und Auflösung der Exponate gelegt. Diese umfassen beim Theatrum mundi die historischen Figuren und Kulissenteile. Die Umgebungskulissen bei Puppets 4.0 hingegen sind zwar realen Vorlagen wie den Kulissen von Heinrich Öhmichen oder dem indonesischen Tempel Borobodur prinzipiell nachempfunden, aber fiktiv.
BEEINDRUCKENDE IMMERSIVE ERFAHRUNGEN
Insgesamt ist die digitale Visualisierung der Materialoberflächen im imaginären Museum Puppets 4.0 und im digitalen Theatrum mundi sehr gelungen. Mit Ausnahme weniger Fälle lassen sich die Materialien durchweg gut erkennen. Natürlich ist es (noch) nicht möglich, beispielsweise eine genaue Bestimmung der Holzsorten eines Puppenkopfes oder eines Kulissenteils anhand des Digitalisats vorzunehmen. Für die meisten dürfte das aber schon am Original schwierig werden. Und sicher lässt sich einwenden, manches Computerspiel (mit meistens aber auch ungleich höherem Entwicklungsbudget) erzeuge bereits beeindruckende Realitätseffekte, die visuell sehr nahe an die stoffliche Beschaffenheit materieller Oberflächen herankommen.
Für die Wissensvermittlung und die immersive Erfahrung von Puppets 4.0 brächte das aber wohl nur einen marginalen Mehrwert. So können Nutzer*innen in der Ausstellung erkennen, welcher Teil einer Figur aus Holz, Leder oder Metall besteht. Zusätzlich thematisieren, kontextualisieren und vertiefen Objektbeschreibungen in der Anwendung auch verschiedene Materialaspekte. Puppets 4.0 vermittelt somit die materielle Dimension verschiedener Aspekte des Figurentheaters über die visuelle Wahrnehmung und über vertiefende Fakten.
Auch das digitale Theatrum mundi-Tool besticht durch hohen Detailreichtum, der auf faszinierende Art und Weise zur Rekonstruktion der historischen Atmosphäre beiträgt. Neben der schon erwähnten Möglichkeit, Dinge in Bewegung zu bringen, die aus konservatorischen und restauratorischen Gründen eigentlich ruhen müssen, kommt dabei wie auch bei Puppets 4.0 ein weiterer Punkt zum Tragen: Für einen überzeugenden Realitätseffekt müssen nicht alle Aspekte des Originals digitalisiert werden. Wir können heute vielmehr entscheiden, welche Dimensionen von Materialität wahrgenommen werden sollen und welche nicht.