Theater der Zeit

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Unter der neuen Leiterin Kira Kirsch positioniert sich das brut in Wien als Theaterhaus, das in einem intensiven Dialog mit der Stadt steht

von Theresa Luise Gindlstrasser

Erschienen in: Theater der Zeit: Wo ist Wir? – Armin Petras in Stuttgart (03/2016)

Assoziationen: Österreich Akteure brut

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Roh und wild. Frz. brut. Der Wiener Spielstätte, die vormals als dietheater seit 1989 der Ort für die österreichische Performanceszene war, sind die Adjektive also schon in den Namen eingeschrieben. 2007 wurde sie als brut zum international ausgerichteten Koproduktionshaus. Thomas Frank und Haiko Pfost, die beiden Neugründungsintendanten, haben für die große Bühne im Künstlerhaus und die kleine im Konzerthaus nicht nur Performance, Tanz und Theater programmiert. Roh und wild waren auch die Konzerte und Partyformate. Mit Beginn der Spielzeit 2015/16 hat sich im Theater-Wien einiges geändert. Neue Intendanzen am Volkstheater, am Schauspielhaus und auch am brut: Kira Kirsch, zuvor leitende Dramaturgin beim Festival steirischer herbst, ist neue künstlerische Leiterin.

„Wir haben nicht die Tür aufgesperrt und alles ist fix und fertig – wir wollen immer wieder Neues ausprobieren.“ Vieles hat aber bereits eine andere Form bekommen. Der Internetauftritt, das Weniger an Partys, das Mehr an Klarheit, die Übersichtlichkeit der Formate und die Umgestaltung der Bar versprechen eine neue Lesart des Eigennamens. Herb, also sehr trocken, das kennzeichnet den strengen Chic der veränderten Atmosphäre. Der Eröffnungsabend selbst, „We’ve only just begun. Un-mapping the beginning“, war dann aber nochmal als rohes und wildes Ungetüm angelegt. Mehr als 30 Kunstschaffende, solche, die schon vor dem Leitungswechsel dem brut als Koproduktionshaus verbunden waren, und solche, die es wohl jetzt werden sollen, thematisierten in kurzen Beiträgen das Anfangen als solches.

Dem brut wurde das Budget gekürzt, die kleine Spielstätte wurde aufgegeben. Die Reduktion der Partys als populäre Publikumsmagnete erscheint als mutige Absage an die Orientierung an Auslastungszahlen, immerhin war das brut bisher noch mehr als bei Theatergängern beim Partypublikum bekannt. Die notwendige Neupositionierung verortet das brut stärker als Theaterhaus. Vier programmatischen Impulsen hat sich der Ort für „New Art on Stage“ verschrieben: dem prozesshaften Arbeiten, dem Dialog mit der Stadt, der Erkundung temporärer Spielorte und der Kooperation mit anderen Disziplinen. Kirsch sieht „große Möglichkeiten der Weiterentwicklung und einen Erfahrungsschatz, auf den zurückgegriffen werden kann“.

Ein Dialog mit der Stadt wird beispielsweise bei den von Künstlern konzipierten Stadtspaziergängen angestrebt, die an das Performanceprogramm des brut angebunden sind. Auch die Reihe „Zu Gast im brut“ fällt in diese Kategorie: Hier lädt das Grazer Theater im Bahnhof jeweils drei unterschiedliche Persönlichkeiten der Stadt zum ausgedehnten Interview. Viel intensiver als diese Formate war allerdings das als Eröffnungsproduktion eingeladene „Autoballett“ vom Theaterkollektiv mercimax aus der Schweiz. Dialog wird da zur Handgreiflichkeit. Oder zumindest zum sehr deutlichen Erlebnis, dass eine Stadt nicht nur mit Architektur und auch nicht nur mit Menschen zu tun hat. Und dass diese Autos, auf die hin ganz viel Städtearchitektur gedacht wird, es jederzeit mit so einem Menschenkörper aufnehmen können.

Wien, das ist zwar die Stadt mit den Fiakern, das ist aber auch eine wachsende Stadt, in der Fahrradwege, Parkplätze und Maßnahmen zur Verkehrsberuhigung ein andauerndes Politikum darstellen. Für das „Autoballett“ boten sich Stadtbewohner als Fahrende und ihre Autos als Gefährte für das Publikum an. Mit dabei waren ein alter Leichenwagen, ein Elektroauto, eine Corvette und vieles mehr. Während der Autofahrt durch Wien wurden die Beziehungen der jeweils Fahrenden zum Auto als Transportmittel erzählt. Dann, angekommen auf einem Schotterplatz nahe der Autobahn, vollführten die Pkws das im Titel versprochene Ballett. Wenn es bis dahin um einen hoffnungsfrohen Finalakt für diese Art von Individualtransport gegangen war, so wurde die Erzählung um die Verletzlichkeit von Körpern in der Stadt erweitert. Eine Performerin nahm zwischen den Autos in deren Tanz eine Position ein, wurde von diesen umkreist und getrieben und erzählte währenddessen von einem Autounfall.

Auf direktem Weg ging es dann wieder zurück zum brut. Zentral, am Karlsplatz gelegen, führen viele Wege dorthin. Alle diese Wege kennt Kira Kirsch zwar noch nicht, aber „den von der Wohnung zum brut sehr gut“. Als ehemalige Dramaturgin beim steirischen herbst bringt sie sachte mehr Steiermark in die Stadt. Davon zeugt zum Beispiel die Reihe mit dem Grazer Theater im Bahnhof. Und vielleicht auch die Produktion „Finsternis“, jedenfalls hatten die Beteiligten des Kollektivs Freundliche Mitte schon zuvor mit Kirsch und auch dem steirischen herbst zusammengearbeitet. Freundliche Mitte, das sind Philine Rinnert, Gerhild Steinbuch und Sebastian Straub. Sie kennzeichnen sich selbst als zuständig für nur jeweils einen Bereich: Raum, Text und Spiel. Für „Finsternis“ wurde der Musiker Christoph Bernewitz dazugeladen. Gemeinsam dehnen sie Joseph Conrads Romanhandlung in Richtung Weltraum aus. In vier Ecken des Bühnenraums sitzen sie an Tischen und agieren nach strengen Regeln. Wer etwa sprechen will, macht zuerst die Schreibtisch-Glühbirne an. Die verschiedenen Erzählstränge ergeben am Ende ein Bild, in dem sich eine Begeisterung an Exotik mit Bemerkungen über die Aktualität von Kolonialisierungsstrategien paart.

Insgesamt bleibt die Programmierung sowohl der Performances als auch der Konzerte am brut weiterhin sowohl international als auch lokal verankert und mit großer Aufmerksamkeit für die Wiener Szene. Etablierte Festivals wie Freischwimmer oder auch imagetanz, ein schon zu Zeiten von dietheater entstandenes Festival für junge Performancekunst, werden beibehalten.

Die Performance „2 become 1“ von Ann Liv Young und Marino Formenti ist wahrscheinlich als paradigmatisch für die vier gewollten Impulse anzusehen. Die Performancekünstlerin und der Pianist luden hierbei einen ganzen Monat lang fast jeden Tag Publikum zu sich in zwei nebeneinanderliegende, leerstehende Ladenlokale im zweiten Wiener Gemeindebezirk ein. Am Ende wurde zu Reflexionszwecken eine Revue auf der Bühne im brut selbst veranstaltet. Ähnlich wie beim „Autoballett“ begab sich die jeweilige Publikumsperson auf eigene Faust, und hier ganz allein, in eine Begegnung. Anders aber als bei der Eröffnungsproduktion kam es bei „2 become 1“ nie zu einer Auflösung der Interaktion in die Sicherheit des Theaterkontextes. Diese Sicherheit fehlte auf gloriose Weise, weil nämlich dem Prozess und der neugierigen Erkundung von Möglichkeiten einer Begegnung zwischen Publikum und Kunstschaffenden der Vorzug gegeben wurde.

Ann Liv Young trat da als die Welt kurz und klein therapierende Sherry auf. Die jeweilige Publikumsperson wurde zur „Sherapy“ geladen, wobei man ihr in kürzester Zeit an die Privatsphäre rückte. Ob eine solche gewaltsame Herstellung von Intimität auf viel Gegenrede stieß, lässt sich nur vermuten. Fest steht aber, dass Young nach Ablauf des Monats als sie selbst, als Ann Liv Young, auf der Bühne im brut stand. Marino Formenti war demgegenüber von Anfang an auf der Authentizitätsspur unterwegs. Mit seinem Klavierspiel wird er wohl so einiges Publikum weichgespielt haben. Aber das ist natürlich alles schwer zu sagen. Die Faszination an „2 become 1“ liegt in der Hermetik des Formats. Alle, die dort waren, erzählen sich jetzt die Geschichten. „… und hat sie dich auch so …? … Nein, er? Und dann sind wir … Nein, ganz anders …“

Am Eröffnungsabend wurde brut-gemäß eine Flasche Champagner zerschlagen. Ein neues Format heißt „bring your own booze“, und der Titel ist ernst gemeint. Bei selbstmitgebrachten Getränken, wahrscheinlich eher selten Champagner, wird in der Küche des brut ein öffentlicher Stammtisch veranstaltet. Das hat weitaus weniger Hermetik und trägt zur Entmystifizierung des jetzt in sein zweites Lebensalter eingetretenen Ortes bei. Die romantische Verbindung von Diskurs, Theater und Party, die auch bisher im brut zu Hause war, soll noch lange nicht vorbei sein. „Es muss sich was entwickeln“, sagt Kirsch. //

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