Auftritt
Bregenzer Festspiele: Hat der Teufel das letzte Wort?
„Der Freischütz“ von Carl Maria von Weber, Libretto von Friedrich Kind nach der gleichnamigen Erzählung von August Apel, Dialogfassung von Jan Dvořák nach einem Konzept von Philipp Stölzl – Musikalische Leitung Enrique Mazzola, Erina Yashima, Inszenierung und Bühne Philipp Stölzl, Kostüme Gesine Völlm
von Georg Rudiger
Assoziationen: Theaterkritiken Musiktheater Dossier: Festivals Philipp Stölzl Bregenzer Festspiele
Ein Pfarrer führt die Prozession an. Der Sarg wird unter liturgischen Gesängen in die Erde versenkt. „Fahr zur Hölle!“, schreit eine Frau. Der Beschuldigte endet am Galgen. „Der Freischütz“ beginnt auf der Bregenzer Seebühne mit einem erfundenen Prolog. Im Sarg liegt Agathe, die von Max beim Probeschuss getötet wurde. Damit bezieht sich Regisseur Philipp Stölzl auf die ursprüngliche Vorlage von Carl Maria von Webers Oper. In der „Freischütz“-Version aus dem „Gespensterbuch“ von August Apel und Friedrich Laun endet die Geschichte um den in Agathe verliebten Jägersburschen Max nämlich tragisch. In Bregenz entpuppt sich der Pfarrer als Teufel/Samiel, der diesen „Freischütz“ in den folgenden zwei Stunden in die Mangel nimmt. Und die Uhr des im Wasser stehenden Kirchturms zurückdreht, damit das Spiel beginnen kann.
Philipp Stölzl, der vor fünf Jahren an gleicher Stelle Verdis „Rigoletto“ so poetisch wie spektakulär inszenierte, hat für seine ironisch gebrochene, verspielte und sich dabei verheddernde „Freischütz“-Version eine Winterlandschaft gebaut mit schiefen Häuschen, Baumgerippen und einer überdimensionalen Mondscheibe. Der Wald steht im Wasser, auf dem Eisschollen treiben. Die Bühne ist durch ein 65 Meter breites Becken verlängert bis zur Zuschauertribüne. Man ist näher am Geschehen als sonst. Aber das heißt noch nicht, dass man auch besser in die Geschichte hineingezogen wird. Der Regisseur hat von Jan Dvořák eine neue Textfassung erstellen lassen, die das angestaubte Libretto von Friedrich Kind aufpeppen soll. Das geschieht mit Sätzen wie Kunos „Glaub mir, Schätzchen, ich kann das“ (schön brummig: Franz Hawlata) oder Agathes Kommentar „Das ist ja ekelhaft“, weil Bauer Kilian (Maximilian Krummen) auf die Bühne kotzt. Vor allem aber hat Dvořák für Samiel viele gereimte Verse geschrieben, mit denen er das Geschehen wie Mephisto in Goethes „Faust“ kommentiert – nur eben ein paar Level drunter. Als Samiel im roten Catsuit (Kostüme Gesine Völlm) klettert Moritz von Treuenfels auf Bäume und in der Wolfsschlucht-Szene auch auf den Kirchturm, er reitet auf einem Pferdeskelett und tanzt mit den Brautjungfern. Vor allem aber greift er immer wieder in die Handlung ein und quatscht selbst in die Arien. Moritz von Treuenfels tut das alles beweglich, textsicher und auch intonationsrein, wenn er mal zur Musik der am Rande der Bühne postierten Kapelle singen muss. Die ständigen Brechungen rauben aber der Geschichte die Spannung und gefährden auch berührende Szenen wie Agathes Arie „Wie nahte mir der Schlummer“, wenn Samiel mit im Bett sitzt. Nikola Hillebrand lässt sich dadurch aber nicht ablenken und sorgt mit ihrem schlackenlosen Sopran für eine ganz lyrische Interpretation. Zur Cavatina „Und ob die Wolke sie verhülle“ erhält sie sogar eine teuflische Cellobegleitung. Katharina Ruckgaber gibt Ännchen als hell timbrierte, selbstbewusste junge Frau. Da sie laut Regie lesbisch ist und Agathe begehrt, die allerdings von Kilian schwanger ist, besingt sie statt des Burschen eine schlanke Maid in ihrer Arie. Ihre Romanze „Einst träumte meiner sel’gen Base“ hat man ganz gestrichen. Was nicht passt, wird passend gemacht. Zu viele Ideen, zu wenig Ausarbeitung!
Die Wiener Symphoniker bieten unter Enrique Mazzola eine transparente Lesart von Webers Partitur. Der Prager Philharmonische Chor sorgt nicht nur beim gekürzten Jägerchor untadelig für Volkes Stimme. In der Wolfsschlucht zittern manche Holzbläsereinsätze. Aber die Steigerungen beim Bleigießen (Hörner!) und die vielen lautmalerischen Effekte werden plastisch umgesetzt. Bei dieser zentralen Szene gibt Stölzl dem Affen Zucker. Nebel, im Wasser kriechende Zombies, Lichteffekte (Florian Schmitt) – alles da. Samiel reitet auf einer feuerspeienden Riesenschlange. Fürs Bleigießen hat Kaspar (mit dunklem, manchmal etwas belegtem Bass: Christof Fischesser) einen beeindruckenden Feuerkreis auf das Wasser gezogen. Auch der als hochsensible Amtsschreiber gezeichnete Max – Mauro Peter singt ihn mit leuchtendem Tenorschmelz und ganz weicher Stimmgebung – kriegt bei so viel Mummenschanz Muffensausen. Aber wenn Stölz ganz wörtlich inszeniert und wirklich Max’ Mutter als lebendige Leiche aus dem Sarg springt oder eine zappelnde Agathe auf dem hydraulischen Bett in den Abendhimmel gefahren wird, dann wirkt der spektakuläre Spuk doch unfreiwillig komisch. Echte komische Momente gibt es auch – zum Beispiel ein Wasserballett von acht glitzernden Badenixen.
Warum das Volk in diesem eigentlichen verlassenen, unbewohnbaren Dorf fröhlich Feste feiert, erschließt sich genauso wenig wie die Tatsache, dass jede und jeder durch das Wasser latscht – mal jemanden ermordend, mal eine Arie singend. Die unwirtliche Winterlandschaft wird nicht mit Leben gefüllt, sondern bleibt Dekoration: was fürs Auge in der letzten Produktion von Intendantin Elisabeth Sobotka. Man muss den Stoff gut kennen, um sich nicht verloren zu fühlen zwischen all den Ebenen, mit denen Stölzl jongliert. Leider hält er nicht alle in der Luft, sondern lässt manches ins Wasser fallen.
Am Ende kommt Samiel auf die Ursprungsgeschichte zurück und bringt, animiert vom Ludwig II.-Double Ottokar (Liviu Holender), Max zum zweiten Mal an den Galgen. Der Teufel spürt aber den Wunsch des Publikums und verspricht ein „richtig nettes, kitschig fettes, wunderschönes Happy End!“ Und so darf der Eremit (mit mächtigem Bass: Andreas Wolf) als wandelnde Monstranz doch noch auftreten. Die Synchronschwimmgruppe hat ihren zweiten Auftritt und planscht lächelnd im See. Die Scheinwerfer tanzen Walzer, die eben noch so bösen Bauern winken. Und Max und Agathe singen ihre letzten Töne. Der dramaturgisch wenig überzeugende, aufgepropft wirkende Schluss von Webers „Freischütz“ wird als solcher von der Regie bloßgestellt. Oder hat der Teufel in Bregenz doch das letzte Wort?
Erschienen am 19.7.2024