Gespräch
Ich sehe Dich mich sehen – die Poesie gegenseitiger Betrachtung
Alexandra Waierstall im Gespräch mit Matthias Quabbe über das Dehnen von Zeit und Raum, Großzügigkeit als choreografische Praxis, und die Magie der Geometrie
von Alexandra Waierstall und Matthias Quabbe
Erschienen in: And here we meet: Choreography at the edge of time – Alexandra Waierstall (06/2025)
Assoziationen: Tanz

Matthias Quabbe: Zwanzig Jahre Arbeit und eine solche Vielfalt an Projekten mit unterschiedlichem Setup, Konzept, Location, Cast … Gibt es ein bestimmtes Interesse, das sich kontinuierlich abzeichnet? Was inspiriert Dich?
Alexandra Waierstall: Ich liebe den Moment, wenn Menschen in Verbindung treten, und ich bin interessiert an der besonderen Art von Schönheit, die aus dieser Verbindung entstehen kann. Es ist die Schönheit, die darin liegt, einander Raum zu geben und Vertrauen zu entwickeln, was die Grundlage für alles ist. Es geht um die Schönheit des sensitiven Körpers, der wahrnimmt, der empfindet und so einen Raum der Annäherung und Verbundenheit schafft, wo es weder möglich noch notwendig ist, zu wissen, wer wen trägt. Die Schönheit liegt in der Verbindung, in der Verlangsamung, in der subtilen Verlagerung des Gewichts, die einen Beginn markiert, eine Öffnung. Selbst wenn der stehende Körper sein Gewicht nur leicht verschiebt, gibt es diese permanente Bewegung, diese Vorstellung davon, bis zur Essenz der Dinge vorzustoßen. Dadurch entsteht etwas, das einladend ist, das uns gestattet, ein Teil davon zu sein. Ich glaube, diese Neugier und die damit verbundene Begeisterung treiben mich an.
MQ: Es geht also um einen vieldeutigen Zustand des Zusammenseins.
AW: Es ist ein ständiger Modus des Übergangs. Es gibt keinen Stillstand, keine konservative Idee von Stabilität. Es gibt verschiedene Ebenen des Übergangs oder der Übertragung, die auf der Ebene der Zeit, des Raums, des Körpers und der persönlichen Ebene stattfinden, aber nicht auf jeder Ebene gleichzeitig oder synchron. Also arbeite und kommuniziere ich durch und mit diesen verschiedenen Ebenen des Übergangs. Das ist es, was wir Choreografie nennen könnten: die Ermöglichung einer Kommunikation zwischen den Übergängen, die auf vielen verschiedenen Ebenen vollzogen werden.
MQ: Dieser Übergang findet in der Arbeit im Studio statt, aber auch von Projekt zu Projekt. Wir können sehen, wie Kostüme, Objekte, Sound etc. von einem Projekt in das nächste übergehen. Was hat es damit auf sich?
AW: Es ist die gleiche Transformation, die auch mit der Bewegung von einem Körper zum anderen passiert. Alles bewegt sich durch die Projekte. Und es transformiert sich von einem Werk zum nächsten, manchmal nur in Nuancen, aber das ändert alles. Dieses Konzept entspringt der Achtsamkeit und ruft sie zugleich hervor – sie ist wesentlich dafür, wie ich mit Menschen arbeite, was die Projekte atmen und was die Arbeit braucht, um wahrgenommen zu werden. Ich glaube, dass die ganze Welt das gebrauchen könnte.
MQ: Ist es ein Konzept von Nachhaltigkeit?
AW: Ich denke, es ist mehr als das, weil es sich nicht auf die Ökonomie der Produktion bezieht, sondern auf die Ökologie von kontinuierlichem Engagement und Streben, über die Grenzen eines einzelnen Projekts hinaus. Es geht darum, meine Praxis, meine Zusammenarbeit mit anderen, die Verbindung zwischen allen Beteiligten und allem, was dazugehört, als etwas zu verstehen, das tiefer geht als der kurze Zyklus von Probe und Premiere. Das bezieht sich auf die Menschen, mit denen ich arbeite, aber auch auf das choreografische Material und die Elemente, wie die Kostüme, Licht, Sound und Text.
MQ: Und es ist nicht nur ein Arbeitsmodus.
AW: Es ist eine Art, mit und an der Zeit zu arbeiten. Es ist nicht so, dass ich Teile meiner Projekte einfach wiederverwerte. Sie wandern von einem Projekt zum anderen, aber sie bleiben nie dieselben. Sie wandeln sich und verändern zugleich das, was um sie herum geschieht. So formt sich die verrinnende Zeit und wird von den Körpern, den Menschen, dem Material geformt – abgesehen von meinem eigenen Einfluss auf die Projekte. Ich betrachte es als Qualität des Futurismus, die Vorstellung einer (nicht der) Zukunft, wie eine Erinnerung des Selbst. Es kommt in einer winzigen, aber stetigen Dosis daher und bleibt am Werk haften wie ein leichter flüchtiger Duft, anstelle einer offensichtlichen visuellen Ästhetik an der Oberfläche.
MQ: Die Arbeit an der Zeit, an ihrer Wahrnehmung, ihren Eigenschaften und Zuschreibungen ist ein zentraler Aspekt Deiner Arbeit – nicht nur ein Thema, sondern eine choreografische Praktik und eine ästhetische Entscheidung.
AW: Ich arbeite an der Ausdehnung von Zeit und daran, eine Situation zu erschaffen, die immer auf der Kippe zwischen davor und später steht. Dieser kaum fassbare, unheimliche Moment, den wir Jetzt nennen – nie wirklich da, schon fort, sobald wir an ihn denken, und doch die einzige Realität, die wir haben: Hier treffen wir uns, hier sind wir mit der Welt verbunden. Indem wir diesen Moment verlängern und eine bestimmte Öffnung in Richtung der Welt, in der wir leben, schaffen, versuche ich auch gewissermaßen das Leben zu verlängern. Im Moment.
MQ: Wird diese Art von Zeit durch den Raum bestimmt, in dem wir beisammen sind und dadurch, wie wir beisammen sind – in Bewegung, Beobachtung?
AW: Ja, durch das Beobachten, einander Wahrnehmen. Das ist wirklich das Erste, das ich tue. Ich aktiviere die Beobachter:innen in den Tänzer:innen. Sie beobachten sich selbst, sie schauen den anderen bei ihren Bewegungen zu und dann bewegen sie sich, wie sie sich bewegen. Am Anfang muss man sich selbst rausnehmen, um dann zu sich selbst zurückzukommen und den Raum zu schaffen, in dem wir ankommen können.
MQ: Also ist die aktive und bewusste Wahrnehmung Dein Ausgangspunkt für das Choreografieren?
AW: Ich glaube, wenn ich beobachte, erschaffe ich Raum und nichts, was ich sehe, ist voneinander getrennt. Die Körper und die Objekte, die in diesem Raum sind, gehören zusammen. Alles bewegt sich gemeinsam in unserer Wahrnehmung (meiner und der der Tänzer:innen), und wenn ich choreografiere, versuche ich, dieses Spiel der Elemente und unserer Umgebung zu akzentuieren. Wenn ich im Studio bin, entstehen meine Gedanken durch die Präsenz der anderen Person, und die andere Person entsteht durch mich. Ich sehe mich selbst als die andere Person. Das ist ein Akt der Liebe. Das ist die Schönheit einer komplexen Beziehung.
MQ: Es gibt eine große Aufmerksamkeit für und mit den Menschen, die anwesend sind, aber sie geht über das Menschliche hinaus. Du erweiterst diese Aufmerksamkeit – hin zu allem im Raum und auch dem Raum selbst.
AW: Diese Art der Ausdehnung ist eine Frage des Vertrauens und der Fähigkeit sich zu bewegen. Ich habe als Kind in der Tanzklasse meiner Mutter gelernt, mich so zu bewegen. Ich wurde aufgefordert, die Augen zu schließen und mich mit den Geräuschen im Raum zu verbinden. Die Geometrie wurde durch den Vorgang des Zuhörens geschaffen, den Abstand konnte ich erfassen, indem ich mich auf die Geräusche konzentriert und eingelassen habe. Das Studio meiner Mutter war genau an der Green Line, der entmilitarisierten Zone, die Zypern teilt. Ich habe damals die Geräusche von der anderen Seite – die ich niemals betreten konnte – mit denen von dieser Seite verknüpft. Mit meinem Körper konnte ich alle Räume miteinander verbinden und mir selbst eine visuelle Ordnung schaffen. Das habe ich als Kind jahrelang geübt.
MQ: Und Du nimmst diese Praxis mit ins Studio, um den Raum für Deine Arbeit mit den Tänzer:innen zu gestalten.
AW: Wenn ich choreografiere, erweitere ich mein eigenes Verständnis für Zeit und Raum. Ich erweitere die Grenzen meiner Selbstwahrnehmung – wo ich ende und wo die anderen beginnen. Ich erweitere den Raum durch den Raum des Anderen, durch diese Verbindung. Ich glaube, dass durch das Choreografieren eine Erweiterung der Vorstellungskraft, des Raums und der Freiheit stattfindet – was mir sogar ermöglicht hat, eine Arbeitsweise zu entwickeln, um aus der Ferne mit den Tänzer:innen zu arbeiten.
MQ: Wenn Du davon sprichst, Raum zu schaffen, den Raum zu erweitern, dann nehme ich an, dass das andere Menschen vom ersten Moment an miteinschließt. Was sind die Eigenschaften dieses Raums? Was kann man in diesem Raum tun?
AW: Es ist ein umfassender, vielleicht sogar umarmender, Raum. Er befähigt uns dazu, unterschiedliche Arten des Zusammenseins zu lernen. Es gibt viel Kommunikation, Dialog und Reflektion. Aber das entscheidende Instrument, um Raum und Zeit zu öffnen, sie für andere zu erweitern, ist Großzügigkeit – der Raum wird eröffnet, um Perspektiven und Qualitäten des Femininen einzubeziehen. Und das ist für mich das, was in meiner Arbeit die Zukunft trägt. Ich nehme Choreografie als modulare Einheit wahr, als etwas, das noch definiert werden muss – immer und immer wieder. Es geht nicht darum, Botschaften zu formulieren und zu vermitteln, sondern eher darum, Dynamiken zu erforschen: wer wir sind, was wir mit uns tragen, wen wir tragen, und wer uns trägt.
MQ: Eröffnen diese Dynamiken des Tragens auch eine politische Sphäre?
AW: Ich denke, der politische Aspekt besteht darin, eine Arbeit zu schaffen, durch die wir spüren, durch die wir selbst sind, durch die der Augenblick relevant ist, und das ‚Hier treffen wir uns‘, während wir uns mit der Welt verbinden, im Mittelpunkt steht. Es geht um einen Raum der Gelassenheit und der Ehrlichkeit, als Widerstand gegen Zerstörung. Es hat seinen Ursprung in einer tiefen Überzeugung und Wertschätzung, dass alle Menschen unterschiedlich sind, dass die Ebenen des Übergangs und die verschiedenen Handlungsbereiche unterschiedlich sind, und dass all diese Unterschiede miteinander verflochten sind. Sie sind nie isoliert und lösen sich auch nie in einer Gleichheit auf, was im Grunde bedeutet, dass es keine einfachen Antworten gibt, keine simplen Bezüge oder Beziehungen. Das versuche ich, in meiner Arbeit zu aktivieren.
MQ: Wie überträgst Du das auf Deine praktische choreografische Arbeit mit den Tänzer:innen im Studio?
AW: Ich beginne jedes Projekt, als wüsste ich nicht, was Choreografie leisten kann. Während ich zugleich mit den Dingen weitermache, die ich habe. Es ist eine gewissermaßen merkwürdige Überlagerung von Nicht-Wissen und einer tiefgehenden Verbindung mit dem, was ich tue. Es ist meine Art, mit den Dingen, die ich tue, und den Menschen, mit denen ich arbeite, verbunden zu bleiben und nichts als selbstverständlich anzusehen. Und während ich den Raum ausdehne, sorge ich dafür, dass er nicht zusammenbricht. Das heißt, ich erweitere den Raum nicht für jede Produktion aufs Neue, sondern ich halte ihn erweitert – und ich speise ihn.
MQ: Wie Garten und Gärtnerin.
AW: Ja, aber im Laufe der Jahre habe ich begriffen, dass ich außerdem eine Pflanze bin. Ich habe lange gedacht, ich würde von außen nach innen schauen. Aber ich fange an, die verschiedenen Richtungen zu verstehen, in die mich meine choreografische Arbeit führt, auch wenn sie manchmal in Spiralen verlaufen oder mich in verschiedene Positionen bringt. Ich bin ebenfalls in Bewegung. Ich bin nicht statisch.
MQ: Der Raum, den Du erschaffst, liegt nicht vor Dir? Du bist in ihm?
AW: Ich kann mittendrin sein. Ich kann darüber sein. Ich kann darunter sein. Und je sanfter ich bin, desto freundlicher bin ich zu mir selbst im Hinblick darauf, was die Erwartung des Ergebnisses angeht; und desto einfacher ist es auch, meine Position zu finden und mich auf den Übergang einzulassen. Darin besteht die Großzügigkeit, weich und fließend zu bleiben, um in der Lage zu sein, sich zu bewegen, zu wachsen und von anderen zu lernen.
MQ: Du sagst über Deine Arbeit, dass Du keinen Unterschied machst zwischen dem, was im Studio und was auf der Bühne passiert. Es gibt keine Exklusivität im Studio. Du sagst auch, dass Du nicht probst.
AW: Wir performen. Wir verschwenden keine Zeit. Es ist ein Labor, aber ich möchte keine Atmosphäre des bloßen Experimentierens. Das Studio ist immer zugleich die Bühne. Es gibt keine Aufteilung in gut/schlecht, funktioniert/funktioniert nicht; das Studio ist nicht exklusiv, es gibt keine Dinge, die nur dort passieren, oder Worte, die nur hinter diesen Mauern gesagt werden. Von Tag Eins an machen wir Durchläufe mit einem eindeutigen Anfang, Mittelteil und Ende. Das ist mir sehr wichtig. Es erfüllt mich sehr, zu wissen, dass wir jetzt loslegen und jetzt wieder aussteigen.
MQ: Was geschieht, wenn jede:r auf diese Weise einsteigt, anstatt zu experimentieren?
AW: Es ist eine besondere Art der Konzentration, des Miteinanders, der Aufmerksamkeit, während es aber auch sehr viel Form gibt. Wir versuchen, das Ganze so zu gestalten, dass es nicht choreografiert aussieht, aber es ist inszeniert. Jede Aktion, jede Bewegung wird bewusst von der Person, die dabei ist, gesetzt. Da bin ich, während ich mir anschaue, was ich sehe. Während wir arbeiten, während die Tänzer:innen Leib und Seele und dem Werk Leben geben, gibt es Überraschungen, die für mich zu Öffnungen werden, um weiterzumachen.
MQ: Dennoch tun sie es nicht für Dich, sondern sind eher in einem ambivalenten Zustand zwischen dem Bedürfnis, es für sich selbst zu tun, es mit anderen zu tun und dem Bewusstsein für Deinen Blick.
AW: Vielleicht vergessen sie mich sogar. Ich reagiere auf das, was passiert, treffe Entscheidungen, ohne sie anderen aufzuzwängen, situationsgebunden und im Verhältnis zu der Einzigartigkeit der Menschen und Dinge, und dem, was wir miteinander teilen. Das ist der Kern dessen, was ich ‚Ich sehe Dich mich sehen‘ nenne: diese wechselseitige Beziehung, jemanden zu sehen, der gesehen wird, und zu sehen, wie jemand dich sieht. Sie entsteht durch die gegenseitige Beobachtung, eine komplexe Beziehung der Aufmerksamkeit.
MQ: Liegt der Unterschied darin, dass die Tänzer:innen während sie performen nicht damit beschäftigt sind herauszufinden, was von ihnen erwartet wird? Es klingt wie eine komplexe Situation, in der die Tänzer:innen eine ganze bestimmte Art von Fokus benötigen, während sie loslassen und Du die Verantwortung dafür trägst, dass sie sich sicher genug fühlen, um komplett eintauchen zu können.
AW: Und um dorthin zu kommen, müssen sie sich von dem Gedanken frei machen, wie das Ganze aussieht. Sie dürfen sich keine Sorgen um das Erscheinungsbild machen. Einer der Gründe, warum ich so stark in der Form bleibe, ist, dass sie sich nicht darum kümmern müssen, mir zu gefallen. Ich möchte, dass die Tänzer:innen sich sicher fühlen, nicht immer noch mehr anbieten zu müssen. Es geht darum, den Körper als Geologie oder als Textur zu verstehen, und in Schichten zu arbeiten, um dort anzukommen, wo die Komplexität wirklich stattfindet: bei den halbdurchlässigen Eigenschaften des Körpers und des Geistes (und nicht bei der Verletzlichkeit der Tänzer:innen, von der oft die Rede ist). Das zeigt sich insbesondere im Konzept ‚Starker Rücken und sanfte Vorderseite‘, mit dem ich gerne arbeite und das eine Kraft bündelt, die dafür sorgt, dass Menschen sich nicht verschließen, die keine Schale um sie bildet, sondern sie stark, sicher und durchlässig zugleich bleiben lässt.
MQ: Lass uns ein wenig über Deinen Hintergrund reden. Du kommst aus einer Künstler:innenfamilie.
AW: Mein Vater ist Bildender Künstler; er ist Maler, Bildhauer und Performer. Meine Mutter ist Choreografin und Tänzerin. Sie war meine erste Lehrerin und eine postmoderne Tanzaktivistin. Ich erinnere mich daran, mit ihr im Studio zu sein, im Tutu, aber ohne Pliés zu machen, weil das nicht cool war.
MQ: Hast Du eine frühe Erinnerung an die Arbeit Deiner Eltern?
AW: An meine Mutter habe ich eine sehr frühe Erinnerung, vielleicht sogar eher auf zellularer Ebene oder aus Anekdoten: Ich habe in Dartington ein Duett mit ihr performt, als ich sechs Monate alt war. Sie hat mich in die Mitte gelegt und ist um mich getanzt. Bei dem Tanz ging es um meine Augen, die ihr gefolgt sind, und die Verbindung, die durch den Blick entsteht. Was meinen Vater angeht, erinnere ich mich noch an seine Friedensaktion mit dem Titel Momentum 1989 an der Green Line in Nikosia. Ich erinnere mich an ein seltsames Instrument, das einen Ton gemacht hat wie ein Schiff, das vor der Abfahrt oder bei der Ankunft alle zusammenruft. Mein Vater hat diesen Ton erzeugt, während er in sämtliche Richtungen geschaut hat – Norden, Süden, Osten, Westen, als wolle er verkünden, dass der Raum allen gehört.
MQ: Inwiefern hat ihr Schaffen Deine Arbeit inspiriert?
AW: Ich habe so viel von ihnen gelernt, und auch von ihren Freunden und Mitarbeitenden. Von meiner Mutter habe ich die Fähigkeit übernommen, sich hinzugeben, sich in die Tiefe zu wagen – furchtlos. Und außerdem gibt es da noch meine Großmutter, die meine Klavierlehrerin war. Sie hat mir das Verständnis vermittelt, dass es ein Geschenk ist, Künstlerin zu sein, und dass es eine große Verantwortung mit sich bringt; mit der Fähigkeit zu einen, sich mit anderen zu verbinden, mit der Welt, und darüber hinaus. Mit meinem Vater habe ich sehr viel Zeit im Studio verbracht, weil er vormittags Kunstgeschichte an der Universität gelehrt hat, um dann nachmittags in seinem Studio zu arbeiten und sich um mich zu kümmern, während meine Mutter gearbeitet hat. Ich glaube, dass die Art, wie ich über Raum denke, grundlegend von seinem Verständnis beeinflusst ist, und davon, wie er mich zu der Erkenntnis geführt hat, dass Linien und Zahlen ein Kunstwerk an sich sind.
MQ: Wir sehen Deine Arbeit auf der Bühne, im Studio, in Museen und in anderen Räumen. Ist dies auch das Echo des künstlerischen Universums Deiner Eltern?
AW: Nun, zunächst einmal gibt es einen lustigen Zufall. Steve Paxton hat sein Solo Goldberg Variations auf die Einladung meiner Mutter hin 1987 in Zypern aufgeführt. Bis 2000 kam er immer wieder zurück, weil sie eine enge Freundschaft pflegten. Ich erinnere mich daran, wie ich in Nikosia die Nägel tief in die Holzbühne geschlagen habe, damit er sich nicht verletzt. Das Gleiche haben wir gemacht, als wir Momentum im Dia Beacon 2024 aufgeführt haben: Nägel in den Holzboden der Galerie schlagen. Steve hatte ebenfalls im Dia performt, 2014. Mein Vater hat 1989 eine Arbeit namens Momentum entwickelt.
MQ: Und beeinflusst die frühe Erfahrung mit dem Schaffen Deiner Eltern in Bildender Kunst und Choreografie Deine Herangehensweise an andere Räume, wie z.B. die Arbeit in beiden Sphären?
AW: Ich bin mir sicher, dass es eine Verbindung gibt, wie eine tiefe Prägung. Aber mehr als das habe ich eine Affinität zu anderen Räumen und Formaten, weil sie unterschiedliche Dinge bieten und ermöglichen. Ich möchte meine Praxis in der Gegenwart von Menschen öffnen. Diese Koexistenz ist die Bedingung und der Antrieb, um eine magische Beziehung und Interaktion von Zeit und Raum zu erzeugen. Das geschieht auf ganz unterschiedliche Weise, wenn das Publikum in einem Saal sitzt und nach vorne Richtung Bühne schaut, oder wenn sich das Publikum frei in einem Museum bewegt. Ich möchte meine Arbeit in beiden Konstellationen entfalten.
MQ: Was ist so besonders an dem Museumsraum?
AW: Mehr noch als im Theater ist es die Situation einer Koexistenz. Ich möchte meine Arbeiten mittels der Koexistenz und der wechselseitigen Beziehung des menschlichen und nicht-menschlichen schaffen. ‚Menschlich‘ meint dabei all die Leute, die daran beteiligt und davon betroffen sind, das Publikum eingeschlossen; ‚nicht-menschlich‘ bezieht sich auf alles, was uns umgibt. Im offenen Raum des Museums werden alle Menschen zum Teil des Kosmos, der beidseitigen Interaktionen, des Bildes, und machen ihn so zur allgemeinen Konstellation, die den banalen Moment des Hier und Jetzt erweitert und übertrifft.
MQ: Aber ich nehme an, es geht nicht nur darum, wie die Arbeit präsentiert wird.
AW: Ganz und gar nicht. Abgesehen davon, eine bestimmte Situation zu schaffen, die Verbindungen und Effekte erzeugen kann, denke ich, dass Tanz eine öffentliche Praxis ist. Es ist die ureigene Situation des Tanzes, dass er in körperlicher Nähe stattfindet und eine gewisse Art von Intimität mit sich bringt.
MQ: Wir können diese Eigenschaften Deiner Arbeit z.B. in Momentum im Dia Beacon, in Deiner Open Studio Praxis und in dem Bühnenstück STAGES INTO THE NOW auf sehr unterschiedliche Weise beobachten. Was verbindet diese Formate miteinander?
AW: Es ist die Intimität, mit anderen Menschen zu arbeiten – die Achtsamkeit, einfach nur da zu sein und den Moment miteinander zu teilen, und das nicht für selbstverständlich zu halten. Der Aspekt der Beobachtung, über den wir vorhin gesprochen haben, das ‚Ich sehe Dich mich sehen‘, ist ein wichtiger Teil davon. Es ist ein visueller Aspekt des Gesehenwerdens, aber noch mehr geht es dabei um die wechselseitige Beziehung: jemanden zu sehen, der gesehen wird, und zu sehen, wie jemand dich sieht. Es ist ein vielschichtiges System der Aufmerksamkeit und Anerkennung. Das im Studio als Praxis des Tanzens und Choreografierens zu aktivieren, sowie auch mit dem Publikum – auf der Bühne und in offenen Räumen –, treibt mich an. Dort findet die Schönheit statt.
MQ: Wie konstruierst Du das als Raum? Hast Du Prinzipien oder eine bestimmte Idee, die Dich leiten?
AW: Ich liebe Geometrie – Zahlen, Linien, Zeichen. Ich liebe es, wie ein Zeichen eine Bedeutung haben kann; als Koordinate, die ich als Anfangspunkt setze oder als Grenze oder als einen Treffpunkt, wie ein Kreuz.
MQ: Wenn ich Geometrie höre, denke ich an Kreise, Rechtecke, Dreiecke. Wie kommst Du auf das Kreuz?
AW: Es geht über die räumliche Vorstellung einer Dreiecksform oder eines Kreises usw. hinaus, die ein Innen und Außen haben. Das Kreuz schafft auch Raum, aber auf ganz andere Art und Weise. Die Linien gehen ins Unendliche und öffnen so den Raum vertikal und horizontal, anstatt ihn zu schließen und ihn auf eine Innenseite und eine Außenseite zu reduzieren. Der Punkt, an dem sie sich treffen, ist faszinierend. Das Interessante an Geometrie ist die Tatsache, dass die Dinge auf den ersten Blick nur eine Sache zu sein scheinen, klar und eindeutig. Aber in meiner Arbeit ist ein Quadrat nicht einfach nur ein Quadrat. Durch eine Reihe von zyklischen Begegnungen mit den Körpern und dem Raum bleiben die Ecken nicht statisch. Sie verlagern ihr gravitatives Gewicht und verändern zusammen mit der Bewegung ihre Temperatur, wie eine Erinnerung. Jedes Mal entsteht ein Muster und jedes Mal hat der Raum eine andere Dynamik. Es gibt Zuschreibungen. Es kann uns ein demütiges Verständnis von den unendlichen Konstellationen des Universums vermitteln.
MQ: Wie hängt das mit Deinem Interesse daran, einen gemeinsamen Raum zu teilen, und an der Schönheit von menschlicher Verbindung, über die wir am Anfang gesprochen haben, zusammen?
AW: Es bewegt mich sehr, wenn ich mir das Verhältnis zwischen uns und dem riesigen Universum vorstelle, von dem wir ein Teil sind. Diese Relationen auf der Mikro- und der Makroebene existieren tatsächlich direkt hier vor meinen Augen, direkt hier zwischen uns, und sie entfalten all ihre Schichten und ihre Ebenen im sich bewegenden Körper – im einzelnen Körper und in der Verbindung mehrerer Körper. In dieser Art von Entfaltung wird die Bewegung zum Affekt, und das ist der Punkt, an dem ich den Anderen wirklich sehe, seine Identität, seinen Ausdruck, sein Selbst. Hier sehe ich mich selbst durch den Anderen, durch all die, die präsent sind. And here we meet. Hier treffen wir uns. Es ist der Moment, in dem die Vielschichtigkeit unseres Zusammenseins seine Schwere verliert und zum Schimmer einer gemeinsamen Zukunft wird, die im Hier und Jetzt spürbar ist.