Theater der Zeit

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Blutspur der Geschichte

Wie der Maler, Bühnen- und Kostümbildner Ezio Toffolutti zu Heiner Müllers „Zement“ Bilder der Revolution und der begrabenen Träume geschaffen hat

von Gunnar Decker

Erschienen in: Theater der Zeit: Die rote Revolution – Russland zwischen 1917 und der Gegenwart (11/2017)

Assoziationen: Akteure Anhaltisches Theater Dessau

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Der erste Eindruck hat die Wucht eines Schlags: Dieses Grau! Was ist das? Der trockene Schlamm von gestern, der Zementstaub von heute oder bereits die Patina von morgen? Gewiss ist es die bleierne Farbe des Todes von gestern, heute und morgen zugleich: die Gewalt der Geschichte, die sich in heroischen Momenten für eine Revolution hält. Alles wird neu?!

Als Dimiter Gotscheff im Mai 2013 am Münchner Residenztheater Heiner Müllers „Zement“ inszenierte (es wurde seine letzte Inszenierung, er starb im Herbst desselben Jahres), holte er sich als Bühnen- und Kostümbildner Ezio Toffolutti dazu, einen alten Bekannten aus Benno-Besson-Zeiten. Toffolutti, 1944 in Venedig geboren, wo er heute wieder lebt, kam Anfang der siebziger Jahre nach Ostberlin an Bessons Volksbühne, wo dieser gerade mit seinen Spektakeln für Furore sorgte. 1973 war der letzte liberale Moment der DDR-Geschichte, man feierte die 10. Weltfestspiele der Jugend und gab sich weltoffen. Tatsächlich ging die von Künstlern als bleiern empfundene Ulbricht-Zeit mit dessen Tod zum Höhepunkt der wilden Party tatsächlich zu Ende. Was für ein Symbol! Ein Moment lang herrschte wieder Hoffnung, wollte man an die Utopie vom Sozialismus mit menschlichem Antlitz in der DDR glauben.

Auch Toffolutti wollte das. Er war Mitte zwanzig und Kommunist, das einzige Mitglied der Partito Comunista Italiano (PCI) in Ostberlin. Seitdem schätzt er Ein-Mann-Parteien. Wie war Ostberlin Anfang der siebziger Jahre? Grau, sagt Toffolutti, aber die Theater waren bunt, besonders die Volksbühne. Am Anfang konnte er kein Wort Deutsch und verständigte sich in ästhetischen Debatten mit Zeichen. Achim Freyer erinnert sich heute noch daran, dass ihn Toffolutti damals fragte: Francis Bacon? Und Freyer hob den Daumen als Zeichen der Zustimmung. Oder fragte Freyer Toffolutti, und dieser hob den Daumen? Der Raum der Erinnerung muss immer wieder neu aufgebaut werden, sonst verfällt er zur Ruine wie das Zementwerk bei Müller – oder eher bei Fjodor Gladkow, dessen 1925 veröffentlichter Roman Müller als Vorlage diente.

Wir sitzen in Toffoluttis Mansardenwohnung nahe dem Piazzale Roma in Venedig. Sie hat eine schöne große Dachterrasse, das ist in Venedig schon viel. Im Moment verfügt er über kein Atelier, das Kino auf Giudecca, das er vor einigen Jahren für multimediale Ausstellungen, Performances und – tatsächlich – als Kino nutzte, hat er wieder verloren. Dort zeigte er auch seine Abendland-Reliquien – garantiert echt, weil selbst gemacht.

Doch den Immobilienspekulationen ist man in Venedig hilflos ausgeliefert, selbst dann, wenn man einen Steinwurf von hier geboren wurde. Toffolutti lacht: „Der Kommunismus frisst seine Kinder, der Kapitalismus frisst – alles!“ Er weist über die Dächer auf das Haus am anderen Ende des Kanals. In den letzten Kriegswochen, da war Italien eigentlich schon längst aus dem Krieg ausgeschieden, wurde sein Vater getötet, als deutsche Bomber den Panzerkreuzer versenkten, auf dem er Dienst tat. Das gehört zu den Absurditäten der Geschichte, von der nur sicher scheint, dass ihre Blutspur nie endet. Er zeigt auf seine frühesten Skizzen für „Zement“. Die Grundidee: Blut, das im Sand verläuft, mit der Zeit eintrocknet, aber sich weiterhin dunkel vom hellen Grund abhebt. Es sickert ein in die Substanz der Geschichte. Ein schönes, aber auch ein grausames Sinnbild für die Oktoberrevolution und ihre Folgen. Ein Requiem, aber ein von der Zeit verschlissenes!

Wieso wollte er damals als junger Bühnenbildner unbedingt an die Ostberliner Volksbühne? 1971, erinnert sich Toffolutti, gastierte das Berliner Ensemble am Teatro La Fenice in Venedig mit der „Dreigroschenoper“, „Coriolan“ und „Arturo Ui“. Der überwältigende Eindruck des Brechttheaters! Benno Besson, der Schweizer Brecht-Schüler im Osten, kam Ende der sechziger Jahre an die Volksbühne, wurde dort schließlich Intendant. Er fragte den jungen Venezianer, der sich mit Architektur und venezianischem Dialekt gut auskannte, ob er nicht zu ihm kommen wolle – für Carlo Gozzi könnte er jemanden gebrauchen, der ihm diesen merkwürdigen Typus des abgründigen Volkstheaters erkläre.

So viel wie in den ersten Jahren bei Besson hat Toffolutti wohl nie wieder gearbeitet, so dicht war der Spielplan. Bessons Credo, „eine Szene muss die andere jagen“, war für Toffolutti entscheidend. Der Bühnenraum hat aktiv teil an der Handlung. Die Wand, durch die man einfach hindurchgeht, erfand er in dieser Zeit. Und für „Zement“ erinnerte er sich an diesen Verblüffungseffekt. Eine graue Leinwand mit Schlitzen darin, durch die die Schauspieler hindurchkriechen. Hinter ihnen schließt sie sich sofort wieder, wie eine Wunde sich schließt.

Das Besondere an „Zement“ war Toffolutti sofort klar: Die Revolution liegt einige Jahre zurück, der Kampf um die Macht wurde von den Bolschewiki gewonnen. Aber wie soll der Neue Mensch, den die Revolution vor Augen hatte, nun leben? Genauer, überleben? Was macht die Logik einer permanenten Revolution mit ihren Akteuren? „Der Zement von morgen sind die Toten von heute.“ Die Idee, so Müller, ist längst zur Ideologie verkommen, Handwerkszeug für Machthaber um jeden Preis. Das war wohl auch noch die Grundidee, als er das Stück 1972 schrieb: Die Utopie ist tot, sie gespenstert bloß noch.

Nach 1990 änderte sich die Sichtweise auf „Zement“. Die Tragödie, wusste Müller, weicht der Farce. In München erblickte er eine Werbung für die Deutsche Bank: „Aus Ideen werden Märkte.“ Das Schlimme sei nicht, so Gotscheff einmal, dass der Kommunismus gescheitert sei, sondern dass das Alte so vollständig gesiegt habe. Hat die Geschichte also keine unverkäuflichen intelligiblen Bestände, kein anderes Ziel als maximale Kapitalverwertung? Und wie spielt man vor dieser Frage die Erinnerung an eine Revolution, die bei Gladkow ja selbst schon im Rückblick erzählt wird? Der Kriegskommunismus, der die Menschen verrohen und verhungern lässt, wenn er sie nicht gleich als Feinde massenhaft liquidiert, sollte Anfang der zwanziger Jahre der Neuen Ökonomischen Politik (NÖP) weichen, die ein ziviles Leben und damit auch wieder einen Markt für Konsumgüter in beschränktem Maße ermöglichte.

Doch irgendwie scheinen sowohl Müller als auch Gotscheff nicht so recht an einen echten Reformschritt geglaubt zu haben, vielleicht lasen sie auch zu wenig von Bucharin, dem Kopf der NÖP, der von Stalin hingerichtet wurde, jedenfalls nehmen sie diese zweite Ebene in Gladkows „Zement“ nur als ein Ornament (eine Maske!) des von aller Humanität entfesselten Terrorapparats und nicht als mögliche Korrektur im Fortgang der Revolution. Sieht er das auch so skeptisch? Toffolutti schüttelt den Kopf. Theater sei kein Textseminar, in dem man endlos debattieren könne, es arbeite mit starken aufschließenden Bildern, und die haben Gotscheff und er schließlich gefunden.

Blickt man auf die leere „Zement“-Bühne, ist es, als ob man einen Platz vor sich hat, wo Menschen rituell geopfert werden. Vom Bühnenhimmel hängen dunkle Segel herab, drohend wie Messer der Guillotine, die jederzeit herabstürzen können. Eine Wüste in Steingrau oder doch eher der Blick in den Bau eines riesigen Pharaonen-Grabmals? Der beherrschende Grundzug hier: leere Monumentalität, gefrorener Schmerz. „Pomogitje!“ („Hilfe“!) klagt, nein, wimmert der Chor, lauter elende Einzelne, deren Gesichter hinter grob gewebten Stoffmasken verborgen bleiben. Der Einzelne ist nur Futter für die menschenfressende Revolution, die längst jeden emanzipatorischen Anspruch aufgegeben hat. Njurka (die hinreißende Valery Tscheplanowa), das Kind von Gleb und Dascha Tschumalowa, das in einem roten Kinderheim verhungert, kehrt wieder als eine Art Engel der Geschichte und erzählt von Prometheus und seiner Müdigkeit angesichts der Tausenden von Jahren seiner Unfreiheit. Und gleicht seine Befreiung nicht einer neuen Gefangensetzung?

Die Region des Mythos ist auch die der Tragödie. Der Feststellung, die Erde werde noch allerhand Blut saufen, folgt das klassenkämpferische Fazit der Umsturzpartei: „Wir haben mehr Blut.“ Eine archaische Logik, da waren sich Gotscheff und Toffolutti einig. Und als Toffolutti seinem Regisseur ein Buch mit Höhlenmalerei zeigte, in denen die Menschen wie Schattenbilder wirken, wie vage gebatikt und elementar zugleich, da wussten sie: Das ist es. Entstanden ist eine Bühne, die wie eine Ausgrabungsstätte ägyptischer Pyramiden wirkt. Hier liegen nicht nur die falschen Machtanmaßungen, sondern auch die echten Träume von Jahrtausenden begraben. //

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