Stumm und nackt. Kann man so eine abendfüllende Rolle, Frank Wedekinds Lulu in der Musicalversion der Tiger Lillies, spielen? Ein Auftritt ohne Kostüm, ohne Maske, fast ohne Text, ist das nicht beinahe so, als würde man ohne Seil und Pickel das Matterhorn besteigen? Tollkühn, schutzlos, ganz und gar ausgesetzt? Die 28-jährige Laura Angelina Palacios gibt zu, es fühle sich zunächst „kühl und komisch“ an. Vor 400 Zuschauern nackt aufzutreten, sei an sich schon eine verrückte Vorstellung. Aber man vergesse es dann. Und was den fehlenden Text betrifft, so könne man sich ja auf seinen inneren Monolog zurückziehen. Wie man sich den wohl vorstellen muss? Lulu, die geschundene, verherrlichte, vielfach ausgebeutete „Urfrau“, wie Palacios sie nennt, als nackte Projektionsfläche – diese Setzung des belgischen Regisseurs Stef Lernous habe ihr sofort eingeleuchtet. Und sie habe spontan Vertrauen gehabt, sonst hätte sie diese Aufgabe ablehnen müssen.
Das kleine Wunder dieses Oberhausener Theaterabends liegt darin, dass man Lulus Nacktheit tatsächlich nicht als Effekt, als Provokation empfindet, sondern als ganz natürlich, und die Ursache dafür ist die, dass Palacios die gängigen Klischees eines Vamps verschmäht. Bei aller Schamlosigkeit hat diese Figur etwas Unschuldiges, Selbstvergessenes. Sie raucht, sie tanzt exzessiv zu wilder Musik, sie verhüllt ihre...