Theater der Zeit

Auftritt

Theater Neumarkt Zürich: Nach der Psychoanalyse das Publikum

„Gloria. The right to Be Desperate“ – Regie & Konzept, Bühne Gosia Wdowik, Bühne Aleksandr Prowalińsk, Kostüme Maja Skrzypek, Musik & Sound Agata Zemla

von Anna Bertram

Erschienen in: Theater der Zeit: Ensemblekultur heute – Gisèle Vienne Unheimliche Collagen (10/2024)

Assoziationen: Theaterkritiken Schweiz Gosia Wdowik Theater Neumarkt

„Gloria. The right to Be Desperate“, Regie & Konzept, Bühne Gosia Wdowik am Theater Neumarkt in Zürich. Foto Philip Frowein
„Gloria. The right to Be Desperate“, Regie & Konzept, Bühne Gosia Wdowik am Theater Neumarkt in Zürich.Foto: Philip Frowein

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Ob Theater und Psychotherapie etwas gemeinsam haben? Nun, als Publikum lesen wir im Theater Zeichen und Referenzen, im gleichen Atemzug ordnen wir sie ein oder übersehen sie hin und wieder. Wir decodieren und interpretieren, versuchen zu greifen, wo und wohin sich ein Körper, ein Gedanke, eine Ästhetik bewegt. Ob wir wollen oder nicht – wir entwickeln eine Haltung. Empfinden Empathie oder Verständnislosigkeit, finden den Abend gut oder schlecht. Er vermittelt sich uns – oder nicht. Es ist ein Ping Pong zwischen der Bühne und dem Publikum, zwischen zwei Seiten. Die Kunst, die Schauspielenden, sie setzten sich uns darin aus, brauchen uns als Gegenüber für die Selbsterfahrung. Nicht unähnlich also einer Therapiesituation, in der sich die eine Partei versucht zu vermitteln, die andere sich bemüht zu begreifen und einzuordnen. Das Neumarkt Theater experimentiert mit dieser These in der Spielzeiteröffnung und Kollaboration mit dem Zürcher Theaterspektakel. Die polnische Regisseurin Gosia Wdowik zeichnet in „Gloria – The Right to Be Desperate“ eine Linie von Theater zur Therapiekultur, der Suche nach dem Inneren, des sich Vermittelns, der Authentizität.

Ein Stück grüne Wiese mit wuchernden Gräsern, ein paar Felsen und einem Asphaltweg liegt auf der Bühne. Dahinter ein transparenter Vorhang, der einen Raum mit zwei minimalistisch schicken Stühlen ganz in Therapiezimmerästhetik abschirmt. Eine Schauspielerin (Sofia Borsani) kündigt ihr bevorstehende Reenactment des Dokumentarfilmes „Gloria – Three Approaches to Psychotherapy“ an. Ein Film aus den 60er Jahren, in dem die US-Amerikanische Frau Gloria während ihrer drei Therapiesitzungen bei drei verschiedenen Psychoanalytikern gefilmt wurde. Sofia Borsani hier im Neumarkt also erzählt, sie bräuchte für ihre Darstellung ein Gegenüber, jemanden aus dem Publikum, einen Therapeuten, um richtig reenacten zu können. Als sich schließlich jemand bereit erklärt, wird der Mann auf die Bühne geholt und bekommt Anweisungen. Nichts müsse er sagen, einfach anwesend sein, damit sie spielen könne. Ungewohnt weit weg vom Publikum sitzen sich die beiden schließlich gegenüber auf den Stühlen im Therapiezimmer. Es geht um Sexualität und Schuldgefühle und damit verbundene innere Zwiespälte. Gloria hat Schwierigkeiten, ihrer Tochter gegenüber ehrlich zu sein über ihr Liebesleben. Das ist das erste von drei Kapiteln, die erste Therapiesitzung vorbei.

Da beginnen sich plötzlich zwei Felsen auf der grünen Wiese zu bewegen. Sie lagen bis dahin unbemerkt und bewegungslos herum. Nun erheben sich zwei Körper, jene Steinblöcke auf den Rümpfen sitzend. Die Personen mit Steinköpfen bewegen sich langsam, rollen, schleichen. Sie fangen an, miteinander zu reden und wir beobachten den Versuch einer Annäherung. Analytisch und doch auch zärtlich befragt darin die eine Person die andere. „Tell me about your feelings. – What feelings. – The ones you have. – What feelings do I have?“

Es sind zwei Steine, oder aber vielleicht zwei Liebende. Ist auch dies eine Therapiesitzung? Das Gespräch ist ein Deep-Dive in die Psyche, Fragen der diagnostischen Psychologie tauchen auf, könnten aber genauso ein verzweifeltes Gespräch nach Nähe und Verständnis sein. Sphärische Musik liegt über der Szene, läuft im Loop, dreht sich im Kreis. Kein Gesicht, keine Mimik, anhand derer wir emotionale Regungen deuten können.

Das letzte Kapitel besteht aus einer abgefilmten Therapiesitzung einer der Schauspielerinnen, die eben noch ein Stein war, gespielt von Izabella Dudziak. Ihr Gesicht wird auf den transparenten Vorhang projiziert. In ihrer Sitzung thematisiert sie die Situation selbst, es wird über Ängste gesprochen, die damit aufkommen, um Leistungsdruck, Performance, Verletzlichkeit, um das Innere. Die Spielerin betrachtet ihr digitales Selbst auf der Leinwand, imitiert es, wird wiederum gefilmt und abgebildet. Irgendwann dann, überraschend und doch nicht ganz unerwartet, die glanzvolle schauspielerische Darbietung: Die Figur verzweifelt. Ein Gefühl kommt auf, endlich, vielleicht das erste Mal an diesem Abend ein Angebot emotionaler Anknüpfung. Durch das Selbst, das Selbst, das Selbst.

Der Individualismus und seine Selbstreferenzialität werden bis an die Spitze getrieben. Das Publikum sieht zu, voyeuristisch und doch auf Einladung. Zärtlich und distanziert verschwimmen die Bilder und Texte des Abends in den Tiefen der Psyche. Dabei werden so viele politische und gesellschaftliche Themen angeschnitten: Die Rolle der Frau in den bürgerlichen 60er Jahren der USA und die Unterdrückung ihrer Sexualität. Die uneingewilligte Veröffentlichung des Filmmaterials, die normativen Methoden der männlich dominierten Psychoanalyse. All die Themen scheinen richtungsweisend für den Abend und erfüllen sich doch nicht, weil die Darstellung und Suche nach dem richtigen Selbst in dieser Welt immer wichtiger ist. Und so ist das Betrachten aufregend und repetierend zugleich: Wir spüren und erfahren den Sieg des Individualismus, der neoliberalen Kultur, deren Aufstieg begann, als die Antipsychiatriebewegung an Dynamik verlor und Depression und Angst individualisiert wurden.

Und doch unterwandert der Abend die Vereinzelung. Denn am Ende ist es nicht mehr das Individuum, sondern das Publikum. Die Kamera schwingt in die Masse der Zuschauenden. Schauspielerin Sofia Borsani sitzt nun auch im Publikum, nicht mehr allein als Performerin oder als Gloria auf der Bühne. Sie ist nun unter uns. Das Bild ruht auf ihr, schwingt dann filmisch und langsam zu den einzelnen Gesichtern in den Reihen, die nun als Meer aus Köpfen auf der Leinwand sichtbar sind. Manche verlegen dem eigenen Blick weichend, manche lächelnd, andere wieder ernst in ihrer Rolle als kollektives Subjekt. Es ist die Antwort des Abends an sich selbst, ein Appell: Nach dem Individuum liegt es beim Kollektiv. Es ist überhaupt die Erinnerung daran, dass es uns als Gruppe gibt. Und so endet die letzte Spielzeiteröffnung der Trio-Spitze der Dramaturginnen Erdogan, Reichert und Milz mit dem Blick auf uns, das Publikum. Das unter dieser Leitung mit dem Neumarkt um einen verlässlichen Ort des künstlerischen Experiments und der Intimität weiß. In dem man – wie an diesem Abend – herausgefordert und aufgefordert wird. Man kann sich also auf eine letzte Spielzeit freuen.

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