Thema: Festivals
Reise ans Ende des Verstehens
Letzter Vorhang für die Biennale Neue Stücke aus Europa in Wiesbaden
Erschienen in: Theater der Zeit: This Girl: Die Schauspielerin Johanna Wokalek (09/2014)
Assoziationen: Hessen Akteure Hessisches Staatstheater Wiesbaden
Solange die Musik spielt und wir uns Melancholie noch leisten können, besteht kein Anlass zur Sorge. Europa mag abbrennen, der Tanz aber geht weiter, und wir vertreiben uns die grau gewordene Zeit. Das mögen sich auch die drei Paare denken, denen wir eineinhalb Stunden lang beim Walzerdrehen zusehen und nicht müde werden dabei. Ihren Tanz auf einem längst erloschenen Vulkan vollführen sie als tragikomische Ballnacht. Mit himmlisch verstörten Gesichtern. Die Bühne ist belegt mit einem abgetretenen fleckigen Teppich, wie er einst in einem Grandhotel ausliegen mochte. Von der Decke rieselt der Putz, alles wirkt kriegsversehrt und vom Leben erschüttert. An der hinteren Wand warten Stühle, auf denen sich die sechs Akteure ab und an platzieren, dann treten sie abwechselnd nach vorn und veranstalten dies und das, Mätzchen und Kunststückchen und alles sonst, mit dem man sich die Zeit vertreibt, wenn eh schon alles egal ist: Radschlagen oder Jonglieren. Dann wieder sprechen sie in ein Mikrofon, das am vorderen rechten Rand aufgestellt ist, und verlautbaren düstere Szenarien der europäischen Zerstörung, berichten vom Nachkriegsalltag in Athen, Berlin, Zürich und Novi Sad. Dazu ertönen immer wieder Walzervariationen, darunter auch die schön kitschige aus Schostakowitschs Jazzsuite Nr. 2. Der Theaterraum als Erinnerungsraum, in dem sich Sehnsüchte und Ängste verdichten.
Ausgedacht hat sich das betörende Tableau die griechische Blitz Theatre Group, die als bekannteste freie Theatergruppe des Landes gilt. Giorgos Valaïs, Aggeliki Papoulia und Christos Passalis haben sie 2004 in Athen gegründet und sich „mehr Ethik, weniger Ästhetik“ auf die Fahnen geschrieben. Der diesjährigen Theaterbiennale Neue Stücke aus Europa, die in ihrer ursprünglichen Form zum letzten Mal in Wiesbaden präsentiert wurde, bescherten sie einen elegischen Glanzpunkt, bei dem auch all jene Besucher auf ihre Kosten kamen, die im Theater mehr suchen als verkörperten Autorentext. Dabei verstand sich die 1992 von Manfred Beilharz und Tankred Dorst in Bonn ins Leben gerufene und später von Beilharz nach Wiesbaden mitgebrachte Biennale stets als ausgesprochenes Autorenfestival, das Wert legt auf Texte und Dramatiker, ohne den Wandel zu ignorieren. So ließ sich die grassierende Aufweichung des Stückbegriffs auch am jeweiligen Festivalprogramm ablesen. Doch klassische Autorenpflege wurde bis zuletzt großgeschrieben, etwa im Workshop „Forum junger Autoren Europas“, der in den vergangenen Jahren unter der Leitung von Martin Heckmanns und Tena Štivičić stattfand. Dort durfte der Nachwuchs sich ausbilden, austauschen und ausprobieren.
Vor zwei Jahren nahm die 1988 geborene Agnese Rutkēviča teil, die nun ihr Stück „Dukši“ zeigte, das gleich den Publikumspreis gewann. Es erzählt die Geschichte zweier Brüder: Karlis ist ein eher tumber Typ, der im Wald haust und von der Frau seines Lebens träumt. Janis indes präsentiert sich als aufgeklärter schwuler Großstädter, der im Zwist mit seinem Liebsten lebt. Der Tod der Mutter bringt die beiden ungleichen Brüder zusammen. Dabei spielt der Text schön mit Elementen der Verwechslungskomödie und erzählt eine pointierte Geschichte über die Liebe in Zeiten des Anything-goes. Die Inszenierung des Jaunais Rīgas Teātris, das mit seinem künstlerischen Leiter Alvis Hermanis zu den Entdeckungen und Stammgästen der Wiesbadener Theaterbiennale gehört, ist einfach, klar und unaufgeregt, die Geschichte wiederum in Lettland ein echter Aufreger, ist Homosexualität dortzulande doch ein viel beschwiegenes Thema. Es ist kein riesengroßer Abend, aber einer, der von den Eigentümlichkeiten Europas erzählt.
Wie fühlt es sich an, europäisch zu sein?
Die Kulturdiversität lag diesem Festival immer am Herzen, was zwangsläufig dazu führte, dass nicht nur Marktgängiges auf die Bühne(n) kam. Im künstlerischen Leitungsteam saßen in diesem Jahr außer Manfred Beilharz, Tankred Dorst und Ursula Ehler auch die Dramaturgin Ann-Marie Arioli und der Journalist Peter Michalzik. Ihre Auswahl erwies sich als fast so vielstimmig wie Europa selbst. In Zukunft, also in zwei Jahren, läuft das Festival als Wiesbaden Biennale unter dem neuen Intendanten Uwe Eric Laufenberg, der ein junges Leitungsteam engagierte: Die Regisseurin Maria Magdalena Ludewig und der Dramaturg Martin Hammer möchten das Festival erneuern, was mit Residenzen und einem In-die-Stadt-Hineinwirken einhergehen soll. Das Patensystem, das auf Empfehlungen von Autoren aus 41 Ländern setzte, gehört der Vergangenheit an. Die beiden neuen Kuratoren vertrauen auf die inzwischen gut vernetzte europäische Theaterszene. Dabei soll der Gedanke „Wie fühlt es sich an, europäisch zu sein“ im Zentrum stehen und der Tatsache Rechnung getragen werden, dass heutige Autorschaft nicht zwangsläufig an Stücktexte gebunden ist. Von einem „europäischen Festival der Narration“ spricht Laufenberg.
Dass das, was die Programmzettel vieler Theaterfestivals in Europa beherrscht, vermehrt auch in Wiesbaden erkundet werden soll, ist anzunehmen. Das muss kein Nachteil sein, was etwa die diesjährigen ungarischen Gastspiele „Dementia“ und „Unsere Geheimnisse“ bezeugen. Dem eindrücklichen irischen Gastspiel „Lippy“ wünschte man ein ebensolches Tourneeleben. Bush Moukarzel und Mark O’Halloran widmen sich darin dem tragischen Tod von vier Frauen im ostirischen Städtchen Leixlip. Eine Tante hungerte sich dort im Jahr 2000 samt ihren drei erwachsenen Nichten zu Tode, man vermutet, aus religiösen Gründen. Der Abend des Dead Centre aus Dublin beginnt mit dem Ende. Ein Moderator begrüßt die Zuschauer zum Publikumsgespräch über das eben gesehene, vielmehr noch nicht gesehene Stück. Einer der Darsteller, ein Lippenleser, beantwortet Fragen und erzählt von dem besagten Selbstmord der vier Frauen. Aus dem launigen After-Show-Talk wird eine Reise ans Ende des Verstehens, eine Himmelfahrt zum Urgrund des Menschseins, die Totenklage, Gebet und Kriminalfall in einem ist. Vier Darstellerinnen bewegen sich auf der Bühne wie in einem Albtraum, jeder ihrer Schritte wirkt wie ein Tanz, und am Ende spricht bloß noch der Mund von Gina Moxley, ihres Zeichens auch Patin für Irland, der uns an Samuel Becketts Lippenbekenntnis „Not I“ erinnert. Dass das Stück 2013 den Irish Times Theatre Award als beste Produktion erhielt, wundert nicht. Auch in Wiesbaden bekam es viel Lob.
Als richtiggehend umstritten indes erwies sich der zauberhaft wahnsinnige Auftritt des italienischen Theatermachers Pippo Delbono, der das Publikum zwei Stunden lang mit seiner sehr persönlichen Theatercollage „Orchideen“ malträtierte und faszinierte. Den Tod der eigenen Mutter nimmt der eigenwillige Theatermann zum Anlass, um über Liebe, Tod und Schönheit zu lachen und zu weinen, ohne sich um guten Geschmack oder Dezenz zu scheren. Wie ein Derwisch rennt der kleine Mann durchs Kleine Haus, tanzt, schreit und jammert, bis es endlich Hoffnung für die Toten gibt. Dabei verschlingt er Privatheiten mit berühmten Dramentexten, lässt sein Ensemble, darunter auch der taubstumme Darsteller Bobò, mal tanzen wie Pina Bausch, mal splitternackt auf der Bühne stehen und feiert jeden Einzelnen in seiner versehrten Individualität. Dazu hämmert Musik vom Band, mal dröhnt Deep Purple, mal fiept Philip Glass, mal leidet Joan Baez. Der laute, bunte, sagenhafte Abend schafft sich seinen ganz eigenen ungestümen Theaterkosmos, in dem sich die Vorstellung vom anderen Leben Bahn bricht. Seinen Widerspruchsgeist zündet Delbono wie zirzensische Raketen, befeuert von der Idee des Anderen, die zu Europa gehört wie die Unterschiedlichkeit seiner Kulturen. //