Gespräch
Die Schaubühne Peter Steins
von Burghart Klaußner und Thomas Irmer
Erschienen in: backstage: KLAUSSNER (09/2019)
Assoziationen: Theatergeschichte Schaubühne am Lehniner Platz
Peter Stein ist um zwölf Jahre älter als Sie. Was hatten Sie damals von ihm gesehen, als alle in Berlin zusammenkamen? Und was war die Erwartung, wie es mit ihm weitergehen würde?
Peer Gynt als wichtiges Erlebnis
Erstmal hatte ich nur von ihm gehört. Ich hatte Viet Nam Diskurs oder Gerettet, seine zwei Inszenierungen in den Münchner Kammerspielen, nicht gesehen. Das rutschte irgendwie durch, oder ich war mir als Oberschüler der Bedeutung nicht bewusst, oder ich hatte keine Zeit. Da gibt es tausend Gründe, warum man was verpasst. Dann kam Bremen, davon hörte ich als Schüler in München nur ganz am Rande. Das war mir kein Begriff, auch Peter Zadek zu der Zeit noch nicht. Erst als Stein nach Berlin kam, erinnerte ich mich: „Aha, da gab es doch schon in den Kammerspielen eine Aufführung, von der alle geredet haben, Gerettet.“ Damals Aufführung des Jahres von Theater heute. Also bin ich in alles gepilgert, was nun von ihm zu kriegen war. Es fing mit der Mutter an. Therese Giehse war mir natürlich ein Begriff aus München, auch schon als Schüler. Und dann kam als Nächstes schon der Peer Gynt. Es kamen parallel immer auch sehr linke Projekte wie Das Verhör von Habana von Enzensberger. Das gerettete Venedig von Hofmannsthal hatte sich Frank-Patrick Steckel ausgesucht, eine ganz eigenartige Arabeske im Spielplan. Peer Gynt, das war die großartige, unfassbar bildmächtige, wirklich alle Erwartungen sprengende Aufführung, von der man das Gefühl hatte, zum allerersten Mal in seinem Leben überhaupt Theater zu sehen. Ein solches Erlebnis ist nicht mehr vorher oder nachher aufgetaucht. Das geht allen so, die drin waren. Es hatte vor allem auch mit dem Bühnenbildner zu tun. Karl-Ernst Herrmann hatte hin und wieder Operette gemacht und war in Bremen manchmal sogar als der Firlefanz-Heini verschrien – ganz anders als der dort ebenfalls tätige Wilfried Minks. Minks war ganz woanders gelandet, in der Avantgarde, wie man weiß. Herrmann hatte einen Spielertick: Er ließ auch mal eine elektrische Eisenbahn durch ein Bühnenbild fahren. Er hatte ein großartiges spielerisches Talent und baute dem Stein für den Peer Gynt eine Märchenlandschaft, eine Raumbühne, wie sie im deutschen Theater noch nicht gesehen wurde. Herrmann hatte überhaupt keine Abstraktionsabsicht, sondern nur bildnerische Absichten oder manchmal sogar bebildernde Absichten. Und baute für Peer Gynt eben eine Märchenlandschaft von großer Verwandlungsfähigkeit: Plötzlich kam die Sphinx, der Sphinx heißt es heute, aus dem Boden. Also, man staunte durch einen Abend von vier Stunden. Man saß wie ein Kind mit offenem Mund da und dachte, das kann nicht wahr sein. Es war großartig und dann kam eine Aufführung nach der anderen, immer wieder ein neuerfundener Raum, denn die alte Schaubühne, heute das HAU 2, war ja sehr klein. Die Möglichkeiten sind da im Grunde sehr beschränkt, es gab also einen hohen Grad an Selbstausbeutung mit endlosen Arbeitszeiten, Umbauzeiten usw.
Die Optimistische Tragödie wurde ausgegraben, Lohndrücker von Heiner Müller wurde gespielt, das Sparschwein von Labiche wurde erkundet: „Was, wie, eine Farce in diesem linken Theater? Wieso ist das Theater überhaupt noch links? Was ist das? Was spielt sich denn da ab? Wieso ist Prinz von Homburg ein Träumer? Wieso ist das kein Anti-Preußen Stück?“ Überraschende Volten schlug die Dramaturgie in den Händen von Botho Strauß, ursprünglich Kritiker bei Theater heute, der nach Wolfgang Schwiedrzik geholt worden war, daneben blieb Dieter Sturm aus der frühen Zeit bestimmend.
Botho Strauß
Haben Sie Strauß damals wahrgenommen?
Nein. Ich war ein ganz kleiner Mann. Einundzwanzig Jahre alt.
Vor ein paar Jahren haben Sie seine autobiografische Erzählung Herkunft als Hörbuch gelesen.
Ja, inzwischen habe ich ihn kennengelernt und auch in seinem Haus in der Uckermark besucht. Wir haben uns beide irre gefreut, uns nach all der Zeit endlich mal persönlich zu sprechen. Ich habe ja vier Stücke von ihm gespielt, Kalldewey Farce, Die Zeit und das Zimmer, Groß und Klein, Der Kuss des Vergessens. Wir haben sechs Stunden lang ohne Unterlass miteinander gesprochen. Er hat mir nach einer halben Stunde das Du angeboten, was mich freute, weil ich natürlich von Botho Strauß ein ähnlich großes, eindrückliches Bild im Kopf hatte wie z. B. von Heiner Müller oder Thomas Bernhard. Von diesen drei Großen habe ich nur Bernhard nie kennengelernt.
Das beste Theater der Welt
War diese Schaubühne als das wohl beeindruckendste Theater, das es zu dem Zeitpunkt gab, somit das Vorbild für den jungen Schauspieler?
Ohne jeden Abstrich. Das schien beinahe unerreichbar in seiner Qualität, und die Schauspieler waren sehr, sehr gut. Man erkannte das als Anfänger oder als Laie nicht unbedingt sofort, weil das immer ein Gesamtkunstwerk war. Es war einem nicht wirklich klar, wenn man nicht direkt vom Fach war, dass das nur funktionieren konnte, weil es alles extrem gute Schauspieler waren. Bruno Ganz, Otto Sander, Jutta Lampe, Edith Clever, Dieter Laser. Ich könnte sie endlos aufzählen. Jeder für sich absolute Weltspitze. Es war eben die Zeit, als die Schaubühne das beste Theater der Welt war. Darf man mit Fug und Recht sagen. Und das wusste auch die Welt und sie kam auch, was sehr schwer war an der Kasse, weil man dann als kleiner Student eigentlich überhaupt keine Chance mehr hatte: Es kamen aus der ganzen Welt Leute, die da reinwollten in den kleinen Raum. Und es war peinlich und oft auch entwürdigend, wenn man um irgendeine Möglichkeit betteln musste, eine Karte zu bekommen.
… und wie man dafür Karten bekommt
Gab es dafür Tricks?
Es gab eigentlich keine wirklichen Tricks. Es gab ab und zu den Versuch, mit der Kassendame zu flirten oder irgendjemanden, den man in dem weiteren Feld des Ensembles kannte, zu bestechen. Es war wirklich schwer.
Wie war die Ausbildung auf der Schule? Gab es da eine Art Methodik? Gab es da Leute, die Sie beeindruckt, beeinflusst oder vielleicht provoziert haben? War das eine gute Ausbildung insgesamt?
Ich weiß nicht, wer als Student oder Schüler seine eigene Ausbildung richtig einschätzen kann und nach welchen Kriterien man das tut.
Kann man nicht, aber jetzt machen wir das in der Rückschau.
Auch in der Rückschau ist es nicht so einfach zu beantworten. Also, ich würde mal sagen, es war eine Ausbildung, die das Problem hatte, in einer absoluten Umbruchzeit stattzufinden. Die Lehrer, die Lehrenden, waren total über die Frage verunsichert, was die Lehrinhalte sind, was das moderne Theater ist, wofür sie uns ausbilden.
Ausbildung zwischen Alt und Neu
War das eine Umbruchzeit des Theaters oder der Gesellschaft?
Sowohl als auch. Von allem, von allem. Es war vollkommen klar, dass die Nachkriegszeit mit der Studentenbewegung nicht nur vorüber, sondern überwunden war. Es gab eine ganze Reihe von Dozenten, die vollkommen im Herkömmlichen verhaftet blieben. Die waren für uns obsolet, mit denen konnten wir nichts anfangen. Dann gab es auch unter den nicht mehr Jungen total interessante Leute um die vierzig, fünfzig, die mitunter ganz überraschende Methoden anwendeten. Es gab einen Professor Gutkelch, der Tonbandaufnahmen machte und uns bewies, wie unsere Stimme bestimmte Inhalte allein durch ihre Grundfärbung transportiert oder verbirgt. Das hatte eine ganz große Qualität. Auch menschlich. Dann gab es eine Atemtherapeutin, Ilse Middendorf, die heute noch weltweit als eine große Koryphäe gilt. Sie hat uns das richtige Atmen für die Bühne beibringen wollen. Das überstieg nun völlig mein Verständnis, wenn es hieß, jetzt fließt der Atem ins Knie, da war es bei mir aus, darüber konnte ich mich leider nur lustig machen, das habe ich damals nicht verstanden. Es gab so Spintisierereien, es gab überhaupt keine Art von Stringenz in der Ausbildung. Der eine machte mal das, der andere machte plötzlich Dialekte. Da kam einer vom Schillertheater und machte mit uns Schlesisch, und ich sagte: „Ja, jetzt wird es völlig wahnsinnig, ein ausgestorbener Dialekt.“ An Hauptmann dachte ich nicht. Und Rollenarbeit in dem heute noch gepflegten, notwendigen herkömmlichen Sinne gab es auch, aber viel zu wenig. Es wurde wahnsinnig viel rumexperimentiert, aber nicht mit dem Wunsch, was Neues zu gebären, sondern eher, nichts falsch zu machen.
Mit Kroetz in die neue Dramatik
Hatte sich diese Rollenarbeit schon auch auf die neuen Stücke gelegt, also etwa die Stücke von Bond oder Fassbinder? Waren diese Rollen schon als Figuren in den Schulen angekommen?
Ja, absolut. Das war spannend. Wir haben z. B. in meinem Jahrgang Franz Xaver Kroetz gemacht und auch Wolfgang Deichsel. Das Vorherrschende dieser Literatur war ja das Anknüpfen an das sogenannte Volksstück unter Berufung auf Marieluise Fleißer, die daraufhin selber von ihren Enkeln sprach und damit also Fassbinder, Kroetz und andere meinte. Es gab ein ähnliches Einstehen für die Sache der „einfachen Leute“. Auf einmal traten Figuren auf, die die Welt nicht verstanden, aber sich damit nicht zufriedengaben, die das besser wissen und weiter gucken wollten, und vor allem bei Kroetz gab es natürlich Figuren, die allein schon durch ihre sprachliche und soziale Herkunft Widerstandspotenzial zum herrschenden Gestus bildeten. Ich hatte dann das Glück, zwei Jahre später in der allerersten Kroetz-Aufführung, die es überhaupt in Berlin gab, zu spielen, nämlich in Wildwechsel, und zwar auf bayerisch am Schillertheater in der Werkstatt, und ich erinnere mich noch, dass Kroetz der Bild-Zeitung ein Interview gab: „Wenn ich in Berlin leben müsste, würde ich mich aufhängen.“ Also, er hatte genügend Provokationen mitgebracht (lacht). Dann haben wir Gerettet gemacht, von Bond. Len und Fred hießen die beiden jungen Männer. Und was mich im Nachgang zu den Erfahrungen in München mit Lietzau am Residenztheater immer stark bewegt hat, war der Franz aus den Räubern, damals gespielt von Martin Benrath. Das war von den klassischen Rollen die einzige, die ich gearbeitet habe, denn nach zwei Jahren ging ich von der Schauspielschule wieder ab. Ich hatte bereits mehrere Engagements – gleichzeitig, könnte man fast sagen – und die Schauspielschule war auch sehr froh, mich loszuwerden.
Abschluss Schauspielschule schon nach zwei Jahren
Warum?
Die Renitenz ist ja ein Grundgeschmack in meinem Leben, durch die Zeitumstände noch verstärkt. Wir haben den Älteren auch Vieles nachgemacht. Wir haben eine Art linkes Agitationswesen da hineingetragen, indem wir eben, wenn auf der Universität gestreikt wurde, auch auf unserer Hochschule den Streik ausgerufen und einen aktiven Streik, wie man das damals so schön nannte, dadurch gestaltet haben, dass wir die Dozenten verpflichteten, unter unserer Aufsicht Arbeiten zu schreiben, so wie ich es an der Schaubühne gelernt hatte, über Lohnarbeit und Kapital, wo unter Anleitung der kommunistischen Zellenleiter von der KPD/AO Klassenarbeiten geschrieben wurden. Die Dozenten mussten sich hinsetzen, sie bekamen einen Fragebogen und mussten den ausfüllen. Es war vollkommen aberwitzig, eine Harlekinade des Stalinismus in pubertärer Form, aber alle hielten sich daran. Die Dozenten fanden das irgendwie eine neuartige Erfahrung. Das führte natürlich zu Auseinandersetzungen, nach denen man froh war, dass ich das Institut verließ. Dennoch gab es eine Abschlussnote. Es waren zwei, drei, die mit mir abgingen, und es gab durchweg dann eine Zwei und wir bekamen richtige Hochschulabschlüsse.
Also gab es die Bühnenreife, benotet und schon nach zwei Jahren?
Ja.
Klingt ungewöhnlich.
Ja, so war die Zeit da.