Protagonisten
Die neue Lindenoper
Berlin hat sein zentrales Opernhaus wieder
Erschienen in: Theater der Zeit: Die rote Revolution – Russland zwischen 1917 und der Gegenwart (11/2017)
Assoziationen: Musiktheater Berlin Dossier: Neubau & Sanierung Staatsoper Berlin
Kommt man durch die Portalöffnung des Sockelgeschosses in das mit grünem Stuckmarmor ausgeschlagene Vestibül, fällt einem nur eine Veränderung auf: die Porträtbüste des Erbauers dieses ersten freistehenden Opernhauses der Theatergeschichte, Georg Wenzeslaus von Knobelsdorff, ist verschwunden. Sein vierter Nachfolger, Richard Paulick, der Architekt des Wiederaufbaus der fünfziger Jahre, hatte sie an den Scheitelpunkt des Parkettumgangs gestellt, wer mag sie an sich genommen haben? War es der Architekt der Fundamentalerneuerung dieses 275 Jahre alten Baus, der Stuttgarter HG (Hans Günter) Merz, dessen besondere Befähigung für das schwierige „Bauen im Denkmal“ sich in Berlin vor 16 Jahren bei der Sanierung der Alten Nationalgalerie gezeigt hatte? Oder ist die Büste an Daniel Barenboim gekommen, dem es gelang, dem alten Zuschauerraum durch Klaus Wowereit eine fünf Meter hohe und 3000 Kubikmeter umfassende Deckenanhebung aufzuerlegen, die den Nachhall auf 1,6 Sekunden vergrößern sollte?
In der ersten Fassung der Wettbewerbsausschreibung von 2008 war es hinter vorgehaltener Hand auf die Vernichtung der Paulick’schen Innenarchitektur angelegt gewesen, die, wie das Ganze des Hauses, als ein theaterarchitektonisches Gesamtkunstwerk von exemplarischer Bedeutung unter striktem Denkmalschutz stand. Jörg Haspel und Frank Schmitz haben die Gründe dafür im Juli 2008 in einem TdZ-Sonderheft „Sanieren oder demolieren? Berlins Opernalternative“ dargelegt, das mit seinen vielfältigen Kommentaren und der Dokumentation aller Wettbewerbsbeiträge umfassende Informationen über die damals ausgebrochene Debatte enthielt. Unter der Vorgabe, dass es um die Verbindung des „Erhaltungsinteresses der Denkmalpflege“ mit den „Ansprüchen des Nutzers nach einer optimalen Akustik und besseren Sichtverhältnissen“ gehe (so die Zielstellung), hatte die Ausschreibung der Senatsbauverwaltung im Innern des Textes einen Freibrief für die völlige Zerstörung nicht nur des Paulick’schen Zuschauerraums, sondern auch aller andren Räume ausgestellt. Doch hatten sich sechs der acht eingeladenen Architekten, darunter HG Merz, auf die Grundverhältnisse des Saals eingelassen; nur zwei hatten dessen Strukturen mit dem Brutalismus, der manchen immer noch als Ausweis von Modernität gilt, übergangen. Einer dieser beiden Entwürfe, von großer Dürftigkeit auch der zeichnerischen Darstellung, war von einer irregeleiteten Jury auf den ersten Platz gesetzt worden. Ein Schildbürgerstreich von katastrophalen Ausmaßen bahnte sich an, und wenn man bedenkt, dass die Berliner Bauverwaltung, die ihn plante, vor einigen Jahren die Umzingelung der Friedrichswerderschen Kirche durch hohe Luxusmietshäuser genehmigte, deren zweistöckige Tiefgaragen den Schinkel-Bau beinahe zum Einsturz gebracht hätten, dann begreift man, dass diese Verwaltung nach wie vor eine städtebauliche Gefahrenstelle ersten Ranges ist, auf Kriegsfuß mit dem, was Kulturerbe heißt und ist.
Der Anschlag konnte damals mit Einsatz gewichtiger Fürsprecher einer Architektur abgewehrt werden, die von Anfang an die Zustimmung des Berliner wie eines weltweiten Publikums gefunden hatte. Sie überbot die gleichzeitigen Wiederaufbauten der Wiener Oper und des Wiener Burgtheaters durch ihre strukturelle Modernität und die Subtilität eines historisch fundierten Dekors. Im Rahmen einer zweiten, berichtigten Ausschreibung erhielt das in Berliner Verhältnissen bewährte Büro HG Merz den Auftrag zu ihrer baulichen Erneuerung nach den Maßgaben der Denkmalpflege, aber auch der Nachhallforderungen des Generalmusikdirektors. Es war die Quadratur des Kreises – ist sie gelungen? Im Hauptbau und in Paulicks Proben- und Intendanzgebäude, dazu in einer neu zu errichtenden unterirdischen Anlage, die beides miteinander verband, gab es Aufgaben, von deren Ausmaß sich der Besucher des wiedereröffneten Hauses keinen Begriff macht. Wenn man bedenkt, welche technischen und ästhetischen Anforderungen es allein bedeutete, die Anhebung der Saaldecke zu realisieren, wird man Merz’ Leistung und die seiner Mitarbeiter außerordentlich finden.
Durchmisst man das mattgrüne Vestibül, gelangt man in einen mit neu gewebten Stofftapeten aufs Schönste wiederhergestellten Parkettumgang, an dessen Enden schlicht gehaltene neue Treppenhäuser sowie ein perfekt integrierter Aufzug in die Rangzonen führen. Deren Umgänge bieten denselben von Grund auf erfreulichen Anblick, so auch der Apollo-Saal, und man kann nur inständig hoffen, dass sein aufwendig restaurierter Marmorintarsienfußboden in Zukunft wieder durch einen großen Teppich vor den scharfen Absätzen der Damenschuhe bewahrt wird, die ihn, nach Verlust des alten Schutzteppichs, seit 1990 nach und nach aufgehackt hatten.
Das Fundamentale ist das Verborgene: die Hauptaufgabe der Erneuerung bestand, ähnlich wie bei der Staatsbibliothek und dem Neuen Museum, darin, eine definitive Abdichtung der Fundamente gegen das andringende Grundwasser zu vollziehen. In der Tiefe lauerten noch ganz andere Probleme, als man daranging, einen unterirdischen Kulissentransport zu konzipieren, der es ermöglichen sollte, zwischen der Hauptbühne und der Probebühne im alten Magazingebäude komplette Bühnenbilder auszutauschen. War das nötig? Muss man im fertigen Bühnenbild proben können? Wird das Bühnenbild vor den Endproben überhaupt fertig? Was man hier an Arbeitskräften einzusparen gedachte, schlug sich auf die Baukosten nieder, erst recht, als man bei 17 Meter unter die Erde dringenden Tiefbauplanungen die Bodenbeschaffenheit unterschätzte: An der Stelle, wo die Bühnenbilder hin und her fahren sollten, hatten die Festungsbastionen des Großen Kurfürsten auf Baumstämmen geruht, die man sich nicht mächtig genug vorstellen konnte. Fachleute prüften den Boden, aber die Sonden griffen daneben; man fing an zu bauen und stieß plötzlich auf 16 Meter lange Bohlen, deren Beseitigung bei laufendem Baugeschehen Kosten von vielen Millionen Euro verursachte.
Was sonst alles schiefging wegen unzulänglicher Gesamtplanung und jäh verhängten Funktionsänderungen (in dem alten Magazingebäude galt es, Raum für die Barenboim-Said Akademie mit ihrem schönen kleinen Konzertsaal zu schaffen), konnte man am 5. Februar 2013 bei Birgit Walter in der Berliner Zeitung und bei Thomas Flierl in TdZ 09/2016, lesen; statt der geplanten drei Jahre hat der Umbau sieben Jahre gedauert. In dieser Zeit haben Bauarbeiter und Kunsthandwerker und alle die, welche deren detailgenaue Arbeit anleiteten, Großartiges geleistet. Es galt, die reich ornamentierte Decke in Einzelteile zu zerlegen, diese zu lagern und dann wieder zusammenzusetzen – es ist staunenswert gelungen. Die Reflexionseigenschaften der Saalwandungen und der Bestuhlung (sie ist neu nach den alten Formen) waren zu verbessern, und in der Höhe kam jene Operation hinzu, die den Klangraum des Saals wesentlich vergrößern sollte, nebst Anhebung der Decke eine seitliche Erweiterung, deren Ausmaß von einer durchlässigen Gitterstruktur zu verdecken war.
Mit dieser Raumvergrößerung, die in die Dachzone des Baus hineinragt und besondere Stabilisierungs- und Isolierungsmaßnahmen erforderte, wurden die von Paulick streng gewahrten Proportionen des Knobelsdorff’schen Saals schwerwiegend überstiegen, und es war Skepsis angebracht, ob das ästhetisch funktionieren werde. Das Erfreuliche ist: Es funktioniert tatsächlich, dank einer guillochierenden Fassung dieser keramischen Gitter, die mit der friderizianisch-zarten Ornamentik Paulicks kontrastierend harmoniert. Dass das Einsetzen dieser Gitterstruktur zu einer erheblichen Erhöhung des Proszeniums führte, dessen Oberkante nun über der letzten Reihe des dritten Ranges liegt (entsprechend höher wurden die einrahmenden Pilaster gesetzt), macht sich vom Parkett aus stärker bemerkbar als aus den oberen Rängen. Von Anfang an war der akustische Sinn dieser Eingriffe zweifelhaft (siehe „Hall unter der Haube“, TdZ 02/2010), und diese Zweifel sind nicht behoben. Mit einer Art von Heiterkeit konnte man drei Tage nach der Eröffnung beim Konzert der Wiener Philharmoniker über dem Orchester eine Reihe akustischer Segel erblicken, die den Raum des Proszeniums dort abfingen, wo die Anhebung eingesetzt hatte; es ist, als wehre sich der alte Saal gegen die Gewalt, die ihm angetan wurde. Ob er auch ohne diese eingehängten Platten akustisch funktioniert, wird man erst beurteilen können, wenn Sänger und Instrumentalisten sich mitsamt den Dirigenten auf die neuen Verhältnisse eingestellt haben.
Am Abend der Eröffnung bestand aller Anlass zur Freude, ja zum Jubel. Ein Glücksgefühl stand den vielen ins Gesicht geschrieben, die das alte Haus kennen und lieben gelernt hatten, sei es in den Jahrzehnten nach seiner Eröffnung im September 1955, sei es nach Berlins Wiedervereinigung 1990. Soll man es dabei bewenden lassen? Oder soll man auch noch auf die Aufführung eingehen, mit der sich das noch nicht ganz fertige Haus einem von Prominenz wimmelnden und von exzessiven Sicherheitsvorkehrungen behelligten Publikum am 3. Oktober präsentierte, ein Präludium vor der Aufnahme des normalen Spielbetriebs, der im Dezember mit einer exorbitanten Premiere beginnt? Der Bühnenbildner Achim Freyer, der einer berühmten und gewiss der dauerhaftesten Inszenierung des Hauses den Rahmen schuf („Der Barbier von Sevilla“ in der Regie von Ruth Berghaus steht nach fünfzig Jahren immer noch auf dem Spielplan), wird als Regisseur, Bühnen- und Kostümbildner „Hänsel und Gretel“ inszenieren, Humperdincks Märchenoper.
Über die von Jürgen Flimm inszenierte Vor-Aufführung gibt es nicht viel zu sagen außer, dass sie sich verhoben hatte. Sie hatte aus einem trotz des Einsatzes großer Chöre von Grund auf lyrisch-zarten Gebilde, Robert Schumanns oratorischer Vertonung von Texten aus beiden Teilen des Goethe’schen „Faust“, durch Einlagen aus andern Teilen des Werkes ein dreistündiges Ungetüm gemacht, dessen Einfälle sich lähmend auf Goethes Verse und Schumanns Komposition legten. „Die Masse könnt ihr nur durch Masse zwingen“ – der fatale Ratschlag des Theaterdirektors in Goethes Vorspiel war hier inszenatorisch wie akustisch beim Wort genommen, mit einer Klangmassivität, die im dritten Rang Zweifel an der Akustik des erneuerten Hauses weckte. Markus Lüpertz, der Bühnenbildner, hatte die Bühne mit Einfällen vollgestellt, die demselben direktorialen Grundsatz huldigten; da gab es grafisch übergangene Gipsgiganten und bunt bemalte Köpfe und Töpfe, und es gab zwei Simultanbühnen mit viel Fläche für ausladende Malereien. Dergleichen mag in einer Ausstellung schöne Wirkungen erzielen, zur Konzentration auf eine Bühnenhandlung, die dramatische Ansprüche stellt, trug es nichts bei. Die Paktszene begab sich umringt von einer biedermeierlich aufgeputzten Osterspaziergangsgesellschaft, ein Massenaufmarsch katholischer Nonnen trug Gretchen auf einem Tablett vor sich her, und am Ende fuhr Faust als Pater Marianus auf der Bühne Kahn.
Der Aberwitz der dramaturgischen Auffüllung ging so weit, dass in die finalen Bergschluchten hinein, die Schumann vollständig komponiert hat, Partien aus den vorangegangenen „Faust“-Akten nachgeholt wurden, Bruchstücke aus Fausts Weg zu den mystisch thronenden Müttern und die teuflische Aushebung der ihrer Umsiedlung sich widersetzenden beiden Alten. Alles dies in einer Doppelung der Darsteller: dem singenden Faust von Roman Trekel stand der sprechende Faust des André Jung gegenüber, und ebenso verhielt es sich mit dem verdoppelten Gretchen (Elsa Dreisig und Meike Droste) und dem zwiefachen Mephisto (René Pape und Sven-Eric Bechtolf). Sie alle wussten nicht recht, was sie in dem Gewimmel sollten, und blieben weit unter ihren Möglichkeiten.
Schwamm drüber! Das „Feldlager in Schlesien“, das Giacomo Meyerbeer 1844 zur Eröffnung des nach einem verheerenden Brand binnen eines Jahres wiederaufgebauten Hauses auf einen Text von Rellstab komponieren musste, mag auch keine erquickliche Vorstellung abgegeben haben. Der Hauptakteur des Abends war nicht die Szene, sondern ihr Rahmen, das von Grund auf erneuerte und in seinen Formen weitgehend erhaltene Haus. Jürgen Flimm und Daniel Barenboim haben das siebenjährige Interregnum im Charlottenburger Schiller Theater bravourös bewältigt; sie hatten sich dessen Gehäuse so souverän zugeeignet, dass sie der Versuchung erlagen, in die größeren Fußstapfen, die ihnen nun wieder beschieden sind, gleichsam mit Filzstiefeln zu treten, ein Fehler, der künftige Irrtümer vielleicht vermeiden hilft.
„Die Pfosten sind, die Bretter aufgeschlagen, und jedermann erwartet sich ein Fest“, wandte sich der Theaterdirektor nach den Grußansprachen dreier staatstragender Redner – des Bundespräsidenten, des Berliner Regierungschefs und der Kulturministerin des Bundes – ans Publikum. Man darf ihm, aus demselben Vorspiel, zurufen: „So braucht sie denn, die schönen Kräfte, / Und treibt die dichtrischen Geschäfte / Wie man ein Liebesabenteuer treibt!“ In dem weiß-rot-goldenen Raum, dessen konstruktive Modernität sich so gut mit der filigranen Ornamentik der friderizianischen Epoche verbindet, ist die leichte Hand gefragt, es ist „ein Haus für Mozart“, wie man es sich schöner nicht denken kann. Vielleicht ist es nur ein Haus für Mozart (und Haydn und Händel)? Wie dies und anderes klingen wird, beim Generalmusikdirektor und bei anderen Dirigenten, ob die Keramik-Guilloche über dem dritten Rang und die angehobenen Pilaster sich akustisch gelohnt haben, darauf kann man gespannt sein. Ein nationales Ereignis nannte Bundespräsident Steinmeier in seiner Ansprache die Wiedereröffnung des Hauses, die ganze Kulturnation habe Grund zu feiern. Er hatte das rechte Wort gefunden. //