Auftritt
Kunstenfestivaldesarts, Carolina Bianchi y Cara de Cavalo, Metro Gestão Cultural: Kultur und Barbarei sind kein Gegensatz
„The Brotherhood – Trilogia Cadela Força – Capitulo II“ – Konzept, Text, Dramaturgie, Regie und Bühne Carolina Bianchi, Dramaturgie, Mitarbeit Recherche Carolina Mendonça, Komposition, Sounddesign, Originalmusik Miguel Caldas, Kostüm Luisa Callegari, Video, Screening Montserrat Fonseca Llach Live-Kamera, Larissa Ballarotti
von Eberhard Spreng
Assoziationen: International Theaterkritiken Performance Europa Carolina Bianchi

Vor zwei Jahren machte die brasilianische Performerin und Theaterregisseurin Carolina Bianchi bei der Uraufführung von „A Noiva e o Boa Noite Cinderela“ international Furore. Da nahm sie vor Publikum K.o.-Tropfen, fiel in tiefen Schlaf, während ihr Ensemble Cara de Cavalo in krassen Bildern sexualisierte Gewalt performte. Das war der erste Teil ihrer Trilogie „Cadela Força“ (etwa: „Die Stärke der Schlampe“), die Carolina Bianchi zur Eröffnung des Kunstenfestivaldesart in Brüssel nun mit „The Brotherhood“ fortsetzt.
Quer vor die Bühne ist beim Eintritt des Publikums Gaze gespannt. Man erkennt schemenhaft eine bewegte Barockmalerei mit wenig bekleideten Frauen, die vor dem Zugriff von Männern fliehen. Die Lautsprecher grollen unheilvoll, schrille metallische Töne entfalten einen martialischen Sound. Zu Beginn der Aufführung bläht sich diese Gaze dann wie ein Segel zum Publikum, wie von Walter Benjamins Sturm der Geschichte angetrieben. Eine ganz alte Geschichte seit dem Paradies: Der Krieg der Männer gegen die Frauen. Dann verschwindet das Bild und plötzlich herrscht Stille.
Ein selig grinsender Mann steht nun mitten auf leerer dunkler Bühne mit einem Neugeborenen in seinen Armen. Und währenddessen hören wir einen Text, der diesem Kind eine genderkonforme Zukunft prophezeit: Es werde vergessen, von einer Frau geboren worden zu sein, werde den schleimigen Urgrund seiner Geburt verdrängen, werde alles Weibliche ablehnen und sich freudig in die Gemeinschaft der Männer integrieren. Carolina Bianchi versteht sie als Brotherhood und sieht in ihr eine tief verwurzelte und unbewusste Übereinkunft, aus der sich die männergemachte Welt wie von selbst ergibt: In Kunst und Kultur und allen Artefakten. Gewalt gegen Frauen, Vergewaltigung und andere Formen sexualisierter Gewalt sind da nur die geduldete dunkle Seite der männlichen Kreativität.
„Ich bin nicht die Protagonistin dieses Stücks“, sagt die brasilianische Performerin und ruft in ihrem feierlichen Klagegesang literarische, kunstgeschichtliche und mythologische Allegorien als Zeugen auf. Eine von ihnen ist Persephone, die von Hades vergewaltigte Zeustochter, die in die Unterwelt entführt, hinfort eine ambivalente Rolle zu spielen hat: Mythologisch gilt sie als Inbegriff des jahreszeitlichen Wechsels von Leben und Vergehen. Carolina Bianchi identifiziert sich mit ihr aber vor allem in dem Sinne, dass sie als Frau in einer männerbeherrschten Welt nur als Schattengestalt in Erscheinung tritt, mit einem Fuß schon im Jenseits, mit einem Fuß noch im Leben. Dieses schillernde Spiel mit An- und Abwesenheit hatte sie im ersten Teil ihrer Trilogie bereits exemplarisch vorgeführt.
Diese setzt sich in der neuen Produktion in einer milderen Variante als Dialog fort. Stühle und Tischchen werden auf die Bühne gebracht für ein Podiumsgespräch mit dem fiktiven Regiestar Klaus Haas. Carolina Bianchi huldigt dem männlichen Kollegen mit gespielter Bewunderung; Kai Wido Meyer spielt den Erfolgsmenschen mit eitler Herablassung, Selbstgefälligkeit und Coolness. Die Figur des genialischen Erfolgsregisseurs wird zum großen Vergnügen des Brüsseler Publikums fast ohne jede Übertreibung lächerlich gemacht, wenn Haas begeistert von Theaterkunst und Bühnenerotik faselt und dabei doch nur offenbart, dass er seine Leitungsposition für sexuelle Ausbeutung nutzte. Am Ende des Gesprächs lädt ihn die Interviewerin Bianchi zum Geschlechtsverkehr ein und präsentiert dem Publikum und einer herbeieilenden Kamera ihre entblößte Vulva. Dieses Anasyrma diente der alten Mythologie zufolge unter anderem der Abwehr von Dämonen. Hier hat es eine krasse Wirkung. Haas schießt sich in der Kulisse eine Kugel in den Kopf. Ein Wiedergänger des Treplev aus Tschechows Möwe, von der in der Aufführung zuvor schon einmal die Rede war.
Immer wieder aber wird „The Brotherhood“ zum Solo, für das die Performerin einen dicken Papierstapel mit sich herumträgt. An literarische Vorbilder erinnert sie in ihrer Lecture-Performance, an Emily Brontë und vor allem an Sarah Kane, die englische Dramatikerin, die 1999 mit 28 Jahren Selbstmord beging. Gewalt, so heißt es etwas sprunghaft in diesem Zusammenhang, wird bei männlichen Künstlern als Ausdruck ihrer Größe verstanden. Bei weiblichen Künstlern ist es Ausdruck von Sensibilität und Verrücktheit.
Nach der Pause an einem langen über dreieinhalbstündigen Abend sitzen die sieben Männer aus Carolina Bianchis Performancetruppe Cara de Cavalo in Abendgarderobe hinter einem langen Tisch und pflücken sich die eine oder andere Passage aus Bianchis großer Vergewaltigungsdokumentation heraus. Bekannte Namen fallen: Von Roman Polański bis Ramsteinsänger Till Lindemann, von Otto Muehl bis Dominique Pelicot. Die sieben Männer schildern Details distanziert, ungläubig, kopfschüttelnd bis angewidert. Diese Männergewalt ist in Bianchis Inszenierung so sehr ein kollektives Gendermerkmal, so tief in Kunst- und Zivilisationsgeschichte verankert, dass Männer sie individuell gar nicht mehr wahrnehmen.
„Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein Dokument der Barbarei zu sein“. Das Walter Benjamin Zitat von 1940 aus dessen Essay „Über den Begriff der Geschichte“ steht exemplarisch für den Umstand, dass Kultur und Barbarei keine Gegensätze sind. Es ist Motto über dem zutiefst melancholischen Ende des Abends. Bianchis „Brotherhood“ assoziiert sehr frei in der Kunstgeschichte der Gewaltverhältnisse, versinkt darob in Trübsinn, geht in die Abgründe, kommt aber nicht über sie hinweg. Bild werden sie nicht durchgängig. Da ist also viel Denkstoff mit relativ wenig Anschauung. Die männlich dominierte Kunstgeschichte ist hier eine reine Gewaltgeschichte und das macht jeden nachdenklich, der noch meinte, die Kultur könne sich als Bollwerk vor Totalitarismus schützen. Am Ende kniet die Performerin vor einem großformatigen Foto von Sarah Kane und schneidet sich die Zunge aus dem Mund. Gespielt natürlich. Sie gibt das Wort zurück an die große, tote Poetin. Und Caroline Bianchi alias Persephone kehrt ins stumme Schattenreich zurück.
Erschienen am 13.5.2025