Thema: Oper und Performance
Licht an, Spot aus
Der Bühnen- und Kostümbildner Christoph Ernst über Bühnen als Startrampen für ein freies, unmittelbares, energetisches Spiel im Gespräch mit Dorte Lena Eilers
von Dorte Lena Eilers und Christoph Ernst
Erschienen in: Theater der Zeit: System startet neu – Über den Einbruch der Performance in die Oper (11/2014)
Assoziationen: Akteure Kostüm und Bühne
Christoph Ernst, Sie arbeiten als Bühnen- und Kostümbildner sowohl in der Oper als auch im Schauspiel. Eine nicht einfache Kombination, führt einem das Schauspiel, so sagen zumindest Kollegen, doch häufig vor Augen, was in der Oper nicht geht: ein freies Spiel mit den Mitteln, dem Material, den Spielweisen. Wird man da nicht zynisch?
Für mich fängt ein interessanter Theaterabend mit den Leuten an, mit denen ich arbeite. Im Theater gerät man ja oft in werkimmanente Diskussionen. Das ist dann alles ganz wichtig und richtig innerhalb dieser Diskussion, interessiert von außen aber trotzdem keinen. Man vergisst völlig, warum man eigentlich mal angefangen hat, Theater zu machen. Das aber frage ich mich bei jeder Arbeit immer wieder aufs Neue, ganz grundsätzlich.
Ich hatte das Glück, in Frankfurt am Main aufzuwachsen, das ja in den achtziger Jahren das Theatereldorado schlechthin war. Die Oper stand unter der Leitung von Klaus Zehelein und Michael Gielen, es liefen Ruth-Berghaus- und Hans-Neuenfels-Inszenierungen, William Forsythe begann im Tanztheater, Einar Schleef im Schauspiel. Da dachte ich: Wahnsinn, was da im Theater möglich ist, da möchte ich dabei sein. Dann habe ich festgestellt, wenn man nach Darmstadt oder Wiesbaden geht, sieht das schon ganz anders aus. Daher habe ich mehr und mehr meine eigene Theaterarbeit als Notwehr begriffen: Wenn ich was sehen will, was auch mir gefallen soll, muss ich es halt selbst machen. (lacht)
Das denken sich Kritiker ja auch manchmal.
Ja, aber die Schwierigkeit beginnt natürlich beim Machen. Je mehr man ins Zentrum vorrückt, wird das unwegsames Gelände. Umso wichtiger finde ich es da, in Konstellationen zu kommen, in denen auf der einen Seite eine hohe Loyalität herrscht und auf der anderen eine hohe Kritikfähigkeit. Da hatte ich bisher Glück, dass ich mit Michael von zur Mühlen, Katka Schroth, Thirza Bruncken und Marcus Lobbes vier Regisseure kennengelernt habe, mit denenich auf einer solchen Ebene gut zusammenarbeite. Und da ist es mir eben egal, ob ich in der Oper oder im Schauspiel arbeite. Die Möglichkeiten liegen darin, was ein Team denken und reißen kann. Aber zugegeben: In der Oper finde ich es gerade sehr mühsam.
Sie sagten in einem Gespräch: Wir sind jetzt wieder an einem Punkt, wo die Sachen, die einstmals aufgebrochen wirkten, wieder gestrandet sind und nichts mehr aussagen. Warum gibt es Ihrer Meinung nach gerade in der Oper diese Stagnation?
Wenn man sich mal eine Verdi-Oper anschaut, „La Traviata“ zum Beispiel, diese Arie der Violetta im ersten Akt, erstes Bild, wo sie in diese Spitzentöne wegkippt. Das kann man alles technisch schön singen. Aber die Musik ist ja eigentlich ausagierter Irrsinn. Weil sie merkt, dass in ihrem Leben plötzlich was passiert, was sie so nicht einkalkuliert hat. Das ist ein genialer Moment. Den sehe ich aber nie als genialen Moment. Den sehe ich technisch gut, aber eben ohne Risiko. Ich bin lieber dafür, einen Ton auch mal gekratzt zu singen, „schief“, aber eben nicht nur technisch. Und so ist das zurzeit im Theater auf allen Ebenen.
Da wird der Inhalt von Perfektion überlagert.
Na ja, Perfektion … von Handwerk. Diesen Begriff höre ich auch immer wieder im Schauspiel. Ja, meine Güte! Handwerk! Das ist Picasso, wie er am Anfang gemalt hat. Aber er hat es im Laufe der Zeit vergessen. Erst dann kam der Picasso zum Vorschein, weswegen wir sagen: Ah, Picasso! Heute sehen wir im Theater bestenfalls Picasso als 18-Jährigen. Und das ist, wenn man den alten Picasso kennt, zu wenig. Handwerk ist die Grundlage, darüber will ich gar nicht mehr reden. Erst so gibt es die Chance – wenn man Glück hat –, irgendwann mal so einen Fitzel von Kunst zu erreichen.
Sie haben mit Michael von zur Mühlen an dem Projekt „Die Zukunft der Oper“ teilgenommen, das an der Kunstuniversität Graz unter der Professorin Barbara Beyer versucht hat, Oper anders zu denken, zum Beispiel statt des ewigen Deutens, des Zuschneidens aller Theatermittel auf eine Gesamtaussage hin, performativere Ansätze zu wählen (siehe auch Gespräch S. 12). Haben Sie diesen Fitzel Kunst da zu fassen bekommen?
Es ist auf alle Fälle ein Möglichkeitsraum entstanden, der in der Alltagspraxis der Opernhäuser für mich kaum noch auffindbar ist. Was ich indes als Reaktion auf das Projekt durch die Stadttheater mitgekriegt habe, ist, dass es keine Reaktion gab. Das ist hochinteressant. Weil in den Betrieben, in den Leitungen nicht das Denken da ist, dass man etwas ändern müsste oder sollte. Mir kommt das deutsche Stadttheater vor wie die DDR 1985: Man darf nichts mehr kritisieren, man muss alles gut finden, weil das Theater von außen ja so unter Druck steht. Da ist viel zu viel Angst, viel zu viel Überangepasstheit – und die Leute laufen uns trotzdem weg. Das ist eine Abwärtsspirale. Man muss wirklich noch mal grundsätzlicher werden. Innerhalb und außerhalb des Betriebes interessiert doch niemanden mehr die fünftausendste Interpretation von „Così fan tutte“: „Così fan tutte“ auf der Müllhalde, „Così fan tutte“ im Blumenladen, „Così fan tutte“ auf dem Mond … schrecklich. Aber was machen wir denn jetzt damit?
Inwieweit hat Sie der Begriff der Performativität in der Arbeit an „Così“ weitergebracht?
Klassische Musik ist ja erst mal das absolute Gegenteil von Performance, da wird exekutiert, was in der Partitur steht, und das möglichst exakt. Worum es bei dem Projekt ging, war ja überhaupt erst einmal anzufangen, unter anderen Fragestellungen nachzudenken, was man mit Sängern in einer Operninszenierung machen kann, um aus dieser trostlosen, gestrandeten sogenannten Regietheater-Sackgasse rauszukommen.
Ein weiterer Aspekt Ihrer Zusammenarbeit mit Michael von zur Mühlen ist die Arbeit mit Laien, zum Beispiel mit den Asylbewerbern in „Die Heilige Johanna der Schlachthöfe“ in Weimar. Muss man für diese Einbrüche der Wirklichkeit, die ja auch immer mit Risiko und Spontanität einhergehen, besondere Räume bauen?
Mich interessiert das schon sehr lange und ich habe auch immer schon versucht, Räume zu bauen, die Startrampen sind, um Prozesse in Gang zu bringen, in denen sich die Darsteller stellvertretend für uns relativ frei ausagieren können. Was mich am Theater inzwischen überhaupt nicht interessiert, sind dressierte Affen. In den Achtzigern bei Berghaus und Schleef hatte das eine große Berechtigung, aber heute finde ich es ziemlich anmaßend, als Regieteam von Leuten auf dieser Ebene etwas abzuverlangen. Wir haben heute nicht mehr diese szenischen und künstlerisch durchformulierten Entwürfe, dass wir da Leute reinzwingen müssten. Von daher finde ich das Stichwort „performativ“ auch für den Arbeitsprozess wichtig, wo sich jeder unter einer gesetzten Fragestellung einbringen kann und soll. Toll ist es doch immer, wenn man in seinem eigenen Abend sitzt und feststellt: Oh, das ist aber jetzt intelligenter als ich es alleine bin. Wenn also die zusammengeführten Menschen und Energien sich so verknüpft haben, dass etwas Unerwartetes, Elektrisierendes entsteht. Wobei es ja gerade in der Oper viele gibt, die sagen: Och, wie bequem. Wenn es nicht ganz doof ist, mache ich das, und der Job ist erledigt. Das ist auch das Interessante zwischen Schauspiel und Oper: Im Schauspiel geht man auf die Probe und in der Oper zum Dienst, da hängen immer Dienstpläne (lacht) … Sprache ist eben nicht zufällig.
Interessant ist, dass sich bei Ihnen häufig ein wiederkehrendes Element findet: die über der Bühne in starren Reihen aufgezurrten Neonröhren. Das gibt Ihren Bühnen oft etwas Klinisches, Aseptisches, fast Laborhaftes.
Ich finde den Begriff Labor nicht so gut. Das hieße ja, da sitzen irgendwelche Forscher davor, und die Darsteller sind die Mäuse. Eben gar nicht. Wenn überhaupt Labor, dann ist es das ganze Haus, in dem auch ich nur eine Maus bin, ebenso wie der Zuschauer, der Darsteller. Was die Leuchtstoffröhren angeht: Ich habe festgestellt, dass mich diese ganzen Lichtspielereien nicht mehr interessieren. Überall taucht zum Beispiel dieses merkwürdig grellblaue Licht auf. Das habe ich zuerst bei Prolls gesehen, die damit ihre tiefergelegten Autos beleuchtet haben. Wieso das jetzt in wirklich jeder Inszenierung vorkommen muss, ist mir ein Rätsel. Wenn es zumindest noch was über Prolls erzählen würde. Aber so ist jeder Showact von „Wetten, dass …?“ ehrlicher, weil der nicht mehr sein will als bunt, um irgendwie drei, vier Minuten zu überbrücken. Im Theater wird dann immer behauptet, das sei Anspruch. Ich entdecke da aber oft keinen Anspruch mehr, weil wir mit denselben Mitteln agieren wie der „Wetten, dass …?“-Showact. Und da denke ich: Form follows function. Wenn wir doch einen anderen Anspruch haben, muss man auch über Beleuchtung anders nachdenken. Wir haben zum Beispiel „Die Nibelungen“ gemacht in Weimar, drei Stunden ohne Pause in einer Lichtstimmung. So. Und da musst du eben was bringen. Da muss auf der Bühne etwas stattfinden, damit die Leute dranbleiben.
Ihre Inszenierungen mit Michael von zur Mühlen spielen zum Teil mitten im Publikum, wie „Miss Donnithorne’s Maggot / Infinito Nero“ in der Werkstatt der Staatsoper Berlin, das Projekt „Good News“ in der Wiener Garage X, vor allem aber Brechts „Lehrstück“, ebenfalls in der Werkstatt. Hier saß man als Zuschauer in einer Art Kantine, es wurde gekocht, gequatscht, ohne dass anfangs klar war, wer hier eigentlich Besucher und wer Darsteller ist. Bilden solche Settings eine besondere Herausforderung für Sie als Bühnenbildner?
Dass Zuschauer wie in der Kirche angenagelt auf ihrem Platz sitzen und in andächtiger Stille über sich ergehen lassen müssen, was sich irgendwelche Theatermenschen ausgedacht haben, finde ich ein obsoletes Geschäftsmodell. Klar, es gibt Vorgänge, die bedürfen einer Konzentriertheit, aber dann müssen eben wir auf der Bühne unserer Sache so sicher sein und sagen: Wir schaffen jetzt hier einen Raum der Konzentration, und da wird keiner rausgehen. Und da ist ein Raum wie die Werkstatt der Staatsoper im Schillertheater, die weiß gestrichen eben kein so trostloses Theaterloch ist, wunderbar geeignet, so etwas wie eine soziale Plastik entstehen zu lassen, wo alle, Zuschauer, Darsteller, Musiker, in irgendeiner Form involviert sind. Selbst mit den Neonröhren in den Guckkastenbühnen ist es im Zuschauerraum so knallehell, dass sich das Publikum als Mitspieler begreifen kann, zumindest als eine energetische Kraft. Auch die Darsteller sehen – was ich noch viel wichtiger finde – das Publikum als gestaltende Kraft. Das bringt Produktionen manchmal auch zum Kippen, wenn die Darsteller sehen, dass die energetische Kraft des Publikums stärker ist. (lacht) Das ist natürlich furchtbar. Aber wenn man Theater begreift als einen Ort, wo es um Energie geht und nicht um ausagierte Langeweile, muss man auch mal sagen: Okay, da waren wir nicht stark genug.
Das Publikum zu aktivieren und zu involvieren, funktioniert natürlich ganz wunderbar in Produktionen, wo Sie ihm die Sicht nehmen. Bei „Miss Donnithorne’s Maggot“ saß die Sängerin in einer Box, die für den Zuschauer nur durch kleine Sehschlitze einsehbar war.
Genau, man konnte anfangs nur durch ganz kleine Gucklöcher gucken, die man aber erst entdecken musste. Hauptsächlich sah man die Sängerin über Fernsehapparate, die drumherum im Raum hingen. Da war über lange Strecken das Publikum selbst Thema. Wir hatten den Abend unter die Frage gestellt: Was heißt es heute eigentlich noch, Kunst zu machen? Wer ist Künstler? Ausgehend von diesem leider schon überstrapazierten Beuys-Zitat „Jeder Mensch ist ein Künstler“. Zu seiner Zeit war das ein ganz wichtiger Impuls, aber heute begreift sich ja wirklich jeder als Künstler. Und da stellt man fest: Ja, nee, das stimmt so auch nicht. Ganz im Gegenteil. Heute muss vielmehr die Ratlosigkeit, in der wir hier sitzen, zum Thema werden. Und das heißt: Ich habe viel mehr über Bruchstücke und Widersprüche zu erzählen, nicht diese unterkomplexen linearen Geschichten. Und das kann sogar Spaß machen – indem ich alle mit ins Boot hole. //