Theater der Zeit

Magazin

Hochkultur vs. Hochöfen

Wie das Kollektiv Richtung22 Kultur in die Kulturhauptstadt von Luxembourg bringt

von Lisa Elsen

Erschienen in: Theater der Zeit: Frank Castorf – „Wallenstein“ in Dresden (06/2022)

Assoziationen: Performance Europa Akteure

Konfrontative Aktionskunst in Luxembourg: das Kollektiv Richtung22.
Konfrontative Aktionskunst in Luxembourg: das Kollektiv Richtung22.Foto: Laurent Antonelli

Anzeige

Anzeige

Kulturhauptstadt: ein Titel, der schmückt und Assoziationen von kulturellem Erbe bei gleichzeitigem Zukunftsgedanken freisetzt. Mit 160 Projekten und 2000 Veranstaltungen wollen die Veranstalter:innen von Esch2022 unter dem Slogan ,,Remix Culture“ deshalb die Brücke zwischen diesen Polen schlagen. Stichwort: Digitalität, nachhaltige Entwicklung, Fortschritt. Doch wohin soll, wohin will sich das einstige Kohle- und Stahlgebiet im Süden Luxembourgs orientieren, insbesondere mit Blick auf die kulturelle Identität und die Förderung nachhaltiger Projekte? Und wer hat Zugang zu diesen Entwicklungen?

Auf diesen Fragen baut die Arbeit des luxembourgischen Künstler:innenkollektivs Rich­tung22 – das u. a. mit Theaterstücken, Happenings und Kurzfilmen an Esch2022 ­partizipiert – auf. Und so hat man Dan ­Kaemmpfer, Deputy-Territory-Senior-Partner der ebenso fiktiven wie schmierigen Beraterfirma Eescht & Jonk, vor Beginn der offiziellen Eröffnungsfeier per Livestream auf eine sechsstündige Kultivierungs-Mission geschickt: Mit Glas und Beton ging es – nebst Bagger, Megafon, Sektflöten und einer Beraterfirma, die aus der Industriestadt ein attraktives Stadtquartier formen soll – zu Fuß von Luxembourg-Stadt runter in den Süden des Landes, um der Re­gion das zu bringen, an dem es ihr mangelt: Kultur.

Dabei verdeutlicht sich in der humoristisch inszenierten Parade, die den abwertenden Blick der Hauptstädter auf die Menschen im Süden spiegelt, ein strukturelles Problem, das sich mühelos auch auf andere Städte abstrahieren ließe: Der Weg von oben nach unten vollzieht sich leicht, umgekehrt wird es bereits schwieriger – das gilt ebenso für die Entwicklung von Städten, wie für die Kulturbranche.

Dabei ist das Konzept der Kulturhauptstadt nichts, was per se verwerflich wäre, im Gegenteil: Auf europäischer und nationaler Ebene fließt Geld in kulturfördernde Initiativen, werden neue Strukturen geschaffen. Das scheint vor allem für ein kleines Land wie ­Luxembourg lohnend, da sich dadurch Chancen zur Entwicklung lokaler Projekte und der Förderung der hiesigen Kunst- und Kultur-Szene ergeben. Hier setzt jedoch eine Kritik ein, die auch Richtung22 mit ihren Aktionen formulieren: Oft liegt der Fokus solcher Veranstaltungen auf großangelegten Prestigeprojekten, die an der Lebensrealität der Menschen vor Ort vorbeigehen. Die Relevanz von Veranstaltungen, in denen die Frage nach der Zukunft des Menschen im digitalen Zeitalter verhandelt wird, ist unstrittig. Unstrittig ist aber auch, dass solche Projekte die Lebens­realität vieler Menschen aus der Region nicht miteinschließen und man sich die Frage stellen kann, inwiefern die locals bei der Planung von Esch2022 mitbedacht wurden.

An der ästhetischen Ausrichtung der Eröffnungsfeier, bei der eine virtuelle Rakete in die Luft geschossen wurde, wird diese Diskrepanz besonders deutlich. Dem setzt Richtung22 konfrontative Aktionskunst entgegen, die durch Abflachung von Hierarchien mittels Humors und der Verlagerung von Aktionen in den öffentlichen Raum sowohl die Ortsansässigen als auch die Region selbst zu einem integrativen Teil ihrer künstlerischen Praxis macht. Anstatt der Region ein gentrifiziertes Korsett aus Glas und Beton anzulegen, wird mit dem bereits vorhandenen gearbeitet, wird die kulturelle Identität der Gegend anhand ihrer Geschichte und der Beschäftigung mit der Bevölkerung, die dort lebt, erfragt. Anstatt Kunst über Menschen zu machen, wird Kunst mit Menschen gemacht, um allen den Zugang an Kunst und Kultur zu ermöglichen.

Ob Esch2022 den Anstoß für eine Gesellschaft, in der ein integrativerer Zugang zu Kunst und Kultur möglich ist, geben kann, wird sich zeigen. Denn wenngleich Begriffe wie Digitalität und Wandel als markante Schlagwörter herhalten, wird für die Entwicklung der Region am Ende entscheidend sein, welche Bevölkerungsschichten zukünftig vom Strukturwandel erfasst werden, und welche nicht. Trotz aller Kritik kann die diesjährige Kulturhauptstadt aber auch mit einigen Highlights aufwarten – vor allem im Bereich Performance-Kunst. So sind es Inszenierungen wie „Totem ou un Sens commun“ der Compagnie Deracinemoa und die Science-Fiction-Theaterperformance „Die Maschine steht still“, inszeniert von Marion Rothhaar, die herausstechen.

Während die Compagnie Deracinemoa in ihrem für 5000 bis 10 000 Menschen konzipierten Stück der Frage nach der kollektiven Erfahrung des Massenexils nachspürt, funktioniert Rothhaar in ihrer Arbeit – in der es um den Menschen im Zustand völliger Isolation geht – den Bahnhof Esch-Belval mittels ­Video-Animationen und Soundscapes zu einer futuristischen Bühnenlandschaft um. Dabei beruht die Relevanz beider Inszenierungen auf der Formulierung teils dystopischer Zukunftsbilder – etwas, das im Jahr 2022 aktueller denn je scheint. //

teilen:

Assoziationen

Neuerscheinungen im Verlag

Charly Hübner Buch backstage
Cover XYZ Jahrbuch 2023
Recherchen 162 "WAR SCHÖN. KANN WEG …"
"Scène 23"
"Zwischen Zwingli und Zukunft"
Recherchen 165 "#CoronaTheater"
"Die Passion hinter dem Spiel"
Arbeitsbuch 31 "Circus in flux"
"Passion Play Oberammergau 2022"
Recherchen 163 "Der Faden der Ariadne und das Netz von Mahagonny  im Spiegel von Mythos und Religion"
Passionsspiele Oberammergau 2022
"Theater der Vereinnahmung"
Recherchen 156 "Ästhetiken der Intervention"
"Pledge and Play"