Theater der Zeit

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Essay

Schimmern, schwingende Form

von João da Silva

Erschienen in: And here we meet: Choreography at the edge of time – Alexandra Waierstall (06/2025)

Assoziationen: Tanz Alexandra Waierstall Tanzhaus NRW

IN THE HEART OF THE HEART OF THE MOMENT, Amy Josh, Eftychia Stefanou, Georgios Kotsifakis, Ioanna Paraskevopoulou, Karolina Szymura, Olivia Ancona, Robert Bridger, Scott Jennings und Ying Yun Chen am tanzhaus nrw in Düsseldorf, 2024. Foto Katja Illner
IN THE HEART OF THE HEART OF THE MOMENT, Amy Josh, Eftychia Stefanou, Georgios Kotsifakis, Ioanna Paraskevopoulou, Karolina Szymura, Olivia Ancona, Robert Bridger, Scott Jennings und Ying Yun Chen am tanzhaus nrw in Düsseldorf, 2024.Foto: Katja Illner

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Als ich 2010 über Open Form Composition geschrieben habe,1 schlug ich diese als Mittel vor, um eine Form von Tanz zu ermöglichen, die von improvisatorischer und kompositioneller Natur zugleich ist. In meiner Erfahrung von Tanz, in dessen Gestaltung und Betrachtung, hatte ich nie das Gefühl, dass sich Tanzformen in gedankliche Entweder-Oder-Konstrukte zwängen lassen. Sie sind per se Sowohl-als-auch – wobei das, was auf die Konjunktion ‚auch‘ folgen kann, unerschöpflich ist, was bedeutet, dass die vermeintliche strukturelle Geschlossenheit von Tanzformen temporär ist, abhängig von unzähligen verwobenen Faktoren. Ich möchte hier die These aufstellen, dass das vielschichtige Gesamtwerk von Alexandra Waierstall von der gleichen Beschaffenheit ist wie das geschriebene Wort, wenn es auf die Leser:innen trifft.

Während der schriftliche Text durchaus ein Gefühl von räumlicher Ordnung vermitteln kann, von Rhythmus oder semantischer Tendenz in und zwischen den Worten, zwischen den Worten und einem selbst, findet man irgendwo in der Mitte ein endloses Potenzial, das nur der/die Leser:in vollends ausschöpfen kann. Solche Begegnungen zwischen Text und Leser:in erzeugt Gedanken, Gefühle, Bilder, Empfindungen, die manchmal in die eine Richtung, manchmal in eine andere gehen, sich aber stets einer hermeneutischen Festlegung entziehen. Diese Weigerung, sich mit einer Form in ein bekanntes Muster zu fügen, ist etwas, das ich immer sehr genossen habe, wenn ich Alexandras Arbeiten miterlebt habe. Im Folgenden werde ich näher hierauf eingehen und außerdem OFC erläutern: ein Konzept, das sowohl der Zusammensetzung dieses Textes einen Kontext verleiht als auch insbesondere meinem Verständnis von Alexandras Werk. Vorher möchte ich allerdings dazu einladen, das Folgende im eigenen gewählten Tempo zu lesen, laut oder leise, allein oder in Gesellschaft, und den Text und die Leseerfahrung in Verbindung mit Alexandras Werk zu bringen, sowie mit anderen Texten und Abbildungen in diesem Buch, und so Zusammenhänge untereinander und darüber hinaus zu knüpfen und zu entflechten. 

Open Form Composition 

OFC ist eine Art der praktischen Herangehensweise und des Nachdenkens über Komposition, die Mitte des 20. Jahrhunderts vor allem im Kontext der Musik entstand, um vorgegebene Strukturen, die in der westlichen Kunstmusik vorherrschten, in Frage zu stellen.  Iannis Xenakis, John Cage und Earle Brown sind bekannte Beispiele dafür. Im Tanz entstand OFC aus dem Bedürfnis zahlreicher Tanzschaffender, über zwei im Bereich des Tanzes übliche Dichotomien hinauszugehen: improvisiertes (‚frei‘, offen) versus festgelegtes Material (geschlossen, zusammengesetzt) sowie Prozess (offen, unvollendet) versus Produkt (geschlossen, fertig). Als solcher zielte und zielt der Begriff OFC darauf ab, das inhärent relationale und kontingente Wesen von Tanzformen diskursiv zu artikulieren und ihm einen stärkeren Ausdruck zu verleihen.

In OFC werden Formen von vornherein als offen verstanden. Somit setzt eine Komposition von offenen Formen ein geschärftes Bewusstsein gegenüber Lücken und Spalten in der Form selbst und ihrem Verhältnis zu anderen voraus, also quasi in der Materie. Entscheidend ist, dass Materie und Form sich hier gegenseitig konstituieren, sie fungieren als Handlungsträger in einem dynamischen, hervortretenden Wechselspiel. Dieses geschärfte Bewusstsein in Bezug auf die inhärente grundlegende Offenheit und Relationalität der Formen bringt alle, die darin einbezogen werden – Tänzer:innen, Choreograf:innen, Publikum, Mitarbeitende oder Kritiker:innen – in eine Position, sich für oder gegen die weitere Öffnung einer Form zu entscheiden, selbst durch ein Nicht-Entscheiden, was sich sowohl als Position der Macht als auch als der Verwundbarkeit auslegen lässt. Es lässt sich nie wirklich a priori sagen, ob eine getroffene (oder nicht getroffene) Entscheidung in einem ‚guten‘ oder vorhersehbaren Ergebnis resultieren wird. Aufgrund der Relationalität und Situationsgebundenheit der Formen lässt sich sogar behaupten, dass für die, die sich entscheiden (oder nicht entscheiden), von Formen, die zur Entscheidung stehen, entschieden wird. 

Ein Körper (Form) ist, weil er bereits ein anderer ist, und ein anderer und… Ein Körper (Form) ist zudem ein formbares Amalgam von Kräften, ein qualitatives Energiefeld, in das die Saat der Andersheit gestreut wird. Deswegen ist er: weil er bereits ein anderer ist. Also können die Körper (Formen) der Kunst nie ganz durchdrungen oder unter die Lupe genommen werden, denn sie sind immer bereits durchlässig und verzerrt von der Zeit und dem Raum und dem Denken und Fühlen ihres Andersseins.

OFC im Tanz

Auf der Suche nach einer neuen Sprache für das, was sie unter der Komplexität vom Prozess im Produkt versteht,2 stellte die Pionierin der 1980er, die nordamerikanische Choreografin und Lehrerin, Mary O’Donnel (Fulkerson)3 fest, dass die „Komplexität des Lebens ein Modell für die Open-Form Komposition sein könnte, und begann, Stücke zu kreieren, die das Bewusstsein der Ausführenden und des Publikums gleichermaßen erweitern sollten“ (ders.). Hieraus ergaben sich differenziertere Methoden, um Form im Prozess der Entscheidungsfindung und vor allem während der Live-Performance zu lernen und zu verlernen.

Auf ähnliche Weise schlug der nordamerikanische Choreograf Kent De Spain zwanzig bis dreißig Jahre später andere Konzepte vor, die Gemeinsamkeiten mit Open Form Composition aufweisen; wie zum Beispiel ‚Open-Outcome Composition‘ (OOC) – bei der die Struktur eines Stückes zwar festgesetzt, aber so angelegt ist, dass sie jedes einzelne Mal ein anderes Resultat zur Folge hat, egal wie klein die Abweichung – und ‚Emergent-Form Composition‘ (EFC), die mit extrem offenen Strukturen arbeitet, durch die die Performer:innen in jeder Aufführung des Stückes neue Formen entdecken.4 EFC erfordert ein noch höheres Maß an Aufmerksamkeit, was die Entscheidungsfindung in der Performance angeht, um Tänzer:innen dabei zu unterstützen, bewusst oder unbewusst auftretende Formen zu erkennen und weiterzuentwickeln.

Alexandras Werk lässt sich bezüglich der „Komplexität des Lebens“ und den Verkettungen zwischen Ideen von Prozess und Produkt mit O’Donnells Anliegen, sowie mit De Spains OOC, vergleichen. Man kann durchaus darüber diskutieren, ob ihr späteres Werk Momentum (2023-2024), eine Kollaboration mit Rita McBride, im Vergleich zu früheren Werken wie AFFECT (2006) und BETWEEN (2007), die sich aufgrund ihrer offenen Form bei gleichzeitig hochgradig festgelegten Strukturen in die Kategorie der OOC einordnen lassen nicht eher als EFC betrachtet werden sollte, da sowohl Tänzer:innen als auch Zuschauende, die nie ganz identisch sind, Entscheidungen vollkommen spontan treffen. Die Struktur, innerhalb derer Formen geöffnet werden, ist viel weniger festgesetzt. 

Obwohl diese drei Stücke sich in ihrer Herangehensweise und der Art ihres Bewegungsmaterials, ihrer zeitlichen Strukturierung und in ihrem Angebot von variierenden Graden der Offenheit oder Geschlossenheit ihrer Form, sowohl vonseiten der Tänzer:innen als auch der Zuschauer:innen, voneinander unterscheiden, schließen sich diese drei Arten über die Komposition von grundlegend offenen Formen zu denken nicht gegenseitig aus. Es gibt graduelle, nicht aber wesentliche Unterschiede in Bezug auf die größere oder kleinere Offenheit beziehungsweise Geschlossenheit, die sie ermöglichen. 

Ein Körper (Form) kapituliert und leistet Widerstand; und indem er kapituliert und Widerstand leistet, erzeugt er einen Rhythmus. Wenn er sich abkehrt vom Rhythmus, ist ein Körper (Form) da und dort und dazwischen, er ist damals und heute und im Wandel begriffen, und zwar so intensiv, dass jegliches Gefühl von Getrenntsein zu verschwinden scheint. Und in dieser (ir)realen Nähe tut sich eine unheimliche Distanz auf, eine Fremdheit, die möglicherweise so unerträglich ist, dass nur der Tod ihresgleichen kennt.

Erforschen von Motiven in Echtzeit

Die Redensart ‚viele Wege führen nach Rom‘ mit ‚Rom ist immer anders‘ zu verknüpfen, könnte uns eine Hilfestellung bieten, um zu verstehen, wie sehr das Erforschen von Motiven in Echtzeit Alexandras Werk charakterisiert – sofern man Rom hier als Metapher für ihr Werk betrachtet. Zum einen lässt sich sagen, dass Rom zwar immer als Rom identifiziert werden kann, es sich aber immer anders anfühlt und immer anders ist. Die Stadt verändert sich und mit ihr ihre Besucher:innen. Zum anderen gibt es viele Arten, nach Rom zu kommen oder auf Rom zu treffen; und diese Erfahrung ist ebenfalls immer anders, und fühlt sich anders an. Mittels dieses Gleichseins und Nicht-Gleichseins macht Alexandra in ihrem Werk, von der Probe bis hin zur Aufführung, sorgfältig Gebrauch von dem, was Mary O’Donnell als „real time exploration of imagery“5 bezeichnet hat. Eine Praxis, die jegliche verbalen und nicht verbalen Anweisungen umfasst, die bei der Entstehung und Aufführung eines Werks angewandt werden. Soweit ich weiß, teilt Alexandra ihre eigenen Motive oft mit Tänzer:innen und Mitarbeitenden – Motive, die dann wiederum permanent verfeinert und abgewandelt werden, während sie sich mit der Arbeit auseinandersetzen. Über die Jahre hinweg, in denen ich Alexandras Werk verfolgt habe, hat mich das Bild des ‚still Werdens‘ nicht losgelassen; eine Art und Weise, sich einer Leere zu widmen, die nicht leer ist, sondern voller Potential. Ein unablässiger Übergang.6

Für Alexandra unterscheidet sich das Erforschen von Motiven in Echtzeit also davon, eine Wahl zu treffen – zwischen dem einen oder dem anderen bereits bekannten Ergebnis, wie bereits existierenden Bewegungsabläufen. Stattdessen bieten solches Erforschen von Motiven in Echtzeit einen Rahmen für die kontinuierliche Kalibrierung, Entdeckung und Erfahrung der Form, die innerhalb mehr oder weniger festgelegten Strukturen entstehen: Zeiten mit Zielen, die gesetzt sind, Zeiten mit Zielen,  die durch die logische Entwicklung des Stücks in nicht spezifizierter Zeit bedingt werden, Zeiten mit Zeit, die spezifiziert wird durch, zum Beispiel, die Reaktion auf Zeichen, die die Musik gibt, die notwendig für den beabsichtigten Informationsfluss der auditiven, kinetischen und visuellen Dramaturgie des Stücks sind.7

Meines Erachtens werden alle von Alexandras Stücken auf diese Weise entwickelt, obwohl sie sich bezüglich des konzeptuellen Umfangs, der Besetzung und des Ausmaßes, in dem mehr-als-menschliche Elemente wie physische Räume oder szenische Objekte beteiligt sind, unterscheiden. Obwohl die zuvor erwähnten Arbeiten AFFECT, BETWEEN und Momentum bezüglich ihres konzeptuellen Umfangs, ihrer Besetzung und der Beteiligung von mehr-als-menschlichen Elementen jeweils einzigartig sind, verweisen sie alle auf ein wachsendes künstlerisches Anliegen, Fähigkeiten, Motive und Methoden für ein besseres Zusammenleben zu entwerfen. Und das Theater sowie das Museum sind Orte, an denen sich diese Visionen erproben lassen. Kurz gesagt: Alexandras Werk ermöglicht und fordert auf eine sanfte Art von allen Beteiligten eine Herangehensweise der aufmerksamen, qualitativen Beobachtung und Erforschung von Motiven in Echtzeit. 

Ein Körper (Form), menschlich und mehr als menschlich, ist sowohl singular als auch plural, partikulär und allgemein, eine Einheit und eine Ansammlung, ein:e Solist:in und ein Ensemble. Er ist intensiv und ex-tensiv, eingeschrieben, ausgeschrieben und umschrieben. Er ist ein Diskurs, ein Narrativ jenseits erschöpfender Beschreibungen. Er ist zu wenig und zu viel. Er häutet sich, allerdings nicht, um ein Zentrum offenzulegen. Er ist Anfang und Ende und immer irgendwie auch die Mitte. Hartnäckig sinnhaft ist er eine Grenze, eine Unzahl von Schwellen.

Künstlerische Handschrift 

Wie macht sich das Erforschen von Motiven in Echtzeit darüber hinaus noch in Alexandras Werk bemerkbar? Wie trägt sie zu ihrer künstlerischen Handschrift, der hier als Zusammensetzung offener Formen bezeichnet werden soll, bei? 

Für mich hat Alexandras Werk schon immer für sich allein gestanden, da es eine wiedererkennbare und dennoch in Entwicklung begriffene Handschrift aufweist, die aus der Fähigkeit hervorgeht, ihrer eigenen künstlerischen Vision treuzubleiben. Das bedeutet auch, sich gegen die Trends zu stellen. Ein Beispiel dafür ist ihr anhaltendes Interesse, mit zeitgenössischen Bewegungsformen zu arbeiten, die langsam sind und bis zu einem gewissen Grad repetitiv. AFFECT und BETWEEN sind hierfür exemplarisch. Dieser Zugang zur Langsamkeit, in dem die Bewegungsformen Stück für Stück in Erscheinung treten, sich im Verschwinden und in der Wiederkehr befinden, bringt das Publikum dazu, Eins mit dem Werk zu werden und so eine Form von stiller aber intensiver Interaktion zu erfahren – man könnte sogar von aktive Teilnahme sprechen. In IN THE HEART OF THE HEART OF THE MOMENT (2022) ist die Art und Weise, wie das Publikum dorthin gelangt, anders. Hier sind die Bewegungen synkopiert und werden in einem schnelleren Tempo ausgeführt. Das heißt, dass die Art und Weise, wie das Werk beim Publikum ankommt, und die Bandbreite der Mittel, mit denen dies erreicht wird, aus einem tiefgreifenden Interesse an der Beachtung winziger Details in der Bewegungsausführung auf einer Ebene von Moment zu Moment resultiert, wie diese Momente in Phrasen oder Abschnitte strukturiert sind und wie diese wiederum dramaturgisch organisiert sind.

Zudem hat der durchgängige Einsatz einer bestimmten Art von Musik, komponiert von Volker Bertelmann aka. Hauschka sowie die tendenzielle Vertikalität vom menschlichen Körper im Verhältnis zur tendenziellen Horizontalität von szenischen Objekten zu ihrer künstlerischen Handschrift beigetragen. Ihr Wissen über und Interesse an Musik sowie ihre Ausflüge in die Bildenden Künste und Film, bestehen seit Langem und entwickeln sich kontinuierlich weiter.

Ein weiteres Element, das ihre künstlerische Handschrift prägt, ist ihre Fähigkeit, kompetente Tänzer:innen zu finden, die im Stande sind, sich auf ihre Arbeit einzulassen und sich in ihr immer wieder von Neuem zu entdecken. Mit anderen Worten: Obwohl sich Alexandras Werk mit ganz spezifischen Bildern und wiedererkennbaren Bewegungsformen und -mustern auseinandersetzt, mit Musik und Klanglandschaften sowie konkretem Material wie Stoff, Folie und Lampen, lässt sich dieser Stil vor allem an der anspruchsvollen und sorgfältigen Auseinandersetzung aller Beteiligten mit Form festmachen.

Dasselbe und doch nicht dasselbe: Eine Form (Körper) ist singulär und doch unumgänglich multipel, geerdet und doch luftig, expansiv. Sie überwindet Grenzen und Achsen, entfaltet sich am Rande (von Bedeutung und Zeit), ohne sich in einem Kern aufzulösen. Sie ist ein Ort des Werdens, nie ganz erfassbar, der ständig zwischen Anfang und Mitte(lbarkeit) oszilliert und sich der Endlichkeit widersetzt. Während sie Schwellen überschreitet, denkt, fühlt und sich (immer unbeständig) in geschichteten Raumzeiten manifestiert, verkörpert in einem dynamischen Duell der Kräfte. Sie ist zu viel, um sie zu erfassen, und zu flüchtig, um sie festzuhalten.

Alexandras Vision und Praxis von Choreografie als einem Vorgang der „Schichtung von Erfahrungen und der Verhandlung verschiedener Wahrnehmungsformen von Begegnungen“8 bestätigt all das zuvor Genannte, indem sie zeigt, dass Formen sowohl offen als auch geschlossen sind, in mehr oder weniger starkem Maße. Sie befinden sich zwangsläufig im Wandel über die Zeit hinweg, verändern sich und passen sich im Laufe der Zeit an, selbst wenn sie verschwinden. Man muss sich nur vor Augen führen, wie eine Erinnerung jedes Mal von Neuem abgerufen wird, oder wie die Wahrnehmung eines bestimmten Stücks sich jedes Mal verändert, wenn es aufgeführt, ein weiteres Mal angeschaut oder archiviert wird. Alexandras Zugang zu choreografischer Komposition, der grundlegend auf der Open Form Composition in Musik und Tanz basiert, erkennt die unendliche Diversität menschlicher Körpererfahrung an, bei der jede Performance und jede Begegnung zur Gelegenheit wird, neue Beziehungen und Erfahrungen anzulegen, die irgendwo in der Mitte liegen und niemandem und allen gleichzeitig gehören.

Entscheidend ist, dass die Rolle der Choreografin in Alexandras Gesamtwerk von der einer allwissenden Autorin hin zu der einer Gastgeberin wechselt, deren Aufgabe vor allem darin besteht, gute Bedingungen für sowohl menschliche als auch mehr-als-menschliche Performer:innen, Mitarbeitende und auch Zuschauende herzustellen, um in einem bestimmten vorgegebenen Rahmen – in der Choreografie – forschen und gestalten zu können.

Alexandra ist eine Mitgestalterin von Erfahrungen, indem sie Räume gestaltet, in denen Bewegungen, Geräusche, Aktionen, Dinge und Menschen in einem dynamischen, in gewissem Maße unvorhersehbaren, im Wandel begriffenen Prozess der Relation zusammenfinden können. Ihre Choreografie wird zum lebendigen Raum, in dem diese zeitlichen und wahrnehmungsbezogenen Komplexitäten gemeinsam erprobt werden können. 

Wirf einen Blick in die Lücke, wo alle Möglichkeiten entstehen, zusammenlaufen und zergehen, wo das Gewicht der Existenz an der Schwelle zum Nichts balanciert. Es ist dieser eine Ort, an dem alles jetzt enden könnte, ein Moment, der so zart ist, dass er sich anfühlt wie das Flattern der Flügel eines Vogels gegen die Geschwindigkeit von Leben und Sterben. Und doch ist es kein Ende, es ist eine Öffnung des Raumes in viele Richtungen zugleich, als spräche, ja als spräche ganz vielleicht das Universum selbst uns eine Einladung aus.

 

 


1 Im Vorwort zu meiner MA-Arbeit (S. 1-2) frage ich, wo die Verknüpfung von Tanzformen beginnt. Im Folgenden finden sich Auszüge aus meiner Antwort auf diese Frage, teilweise modifiziert, insbesondere in den drei ersten kursiv gedruckten Absätzen.

2 da Silva, J. (2010) O’Donnell's Open-Form Composition (OFC): A Possible Stance to Abridge the Divide Improvisation-Composition in Dance? Master’s thesis, University of Utrecht, S.24, https://studenttheses.uu.nl/handle/20.500.12932/5325 „complexity of life could be a model for Open-Form composition and began to make pieces that intended to expand consciousness for performers and audiences alike“

3 Zu Beginn ihrer Tanz-Ausbildung studierte Alexandra mit Mary.

4 da Silva J. (2017) Reflections on Improvisation, Choreography, and Risk-Taking in Advanced Capitalism, Kinesis 08, University of the Arts Helsinki, S. 39, https://taju.uniarts.fi/bitstream/handle/10024/7131/Kinesis_08.pdf?sequence=1.

5 Ebd., S. 24.

6 Waierstall, A. (2006) A Slap on the Face and a Kiss on the Cheek Affect in Dance. Master Thesis, Dance Unlimited, ArtEZ University of the Arts, S. 15-16.

7 da Silva, 2010, S. 24.

8 https://alexandrawaierstall.com/artist-statement/, (letzter Zugriff: 03.06.2025). „layering [of] experiences and negotiating [of] different forms of perception of encounters“

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