Theater der Zeit

Film

Der Weg ins Nachtasyl

Fragment eines Filmszenariums

Nachstehend veröffentlichen wir anläßlich der zehnten Wiederkehr des Todestages Maxim Gorkis eine in Deutschland bisher unbekannte Arbeit des Dichters, die zum erstenmal russisch im März 1938 gedruckt worden ist. Es ist ein Fragment, das sich unter den nachgelassenen Papieren des Dichters fand; es stellt den Beginn eines Filmszenariums dar, in dem die Vorgeschichte der Hauptfiguren des Nachtasyl gegeben wird. Danach wird dem deutschen Schauspieler und Regisseur, aber auch dem Kritiker und kritischen Zuschauer künftig manche dieser Figuren in einem wesentlich anderen Licht erscheinen als bisher; jedenfalls aber bietet uns dieser literarische Fund eine wertvolle Ergänzung und praktische Hilfe zu tieferem Verständnis des Bühnenwerks. Dessen russischem Originaltitel („Na dnji“ – Auf dem Boden, Ganz unten) entsprechend, lautet der Titel dieses Fragments in wörtlicher Übersetzung: „Auf dem Weg nach unten.“ – Das Manuskript ist nicht datiert, ist aber allem Anschein nach in den Jahren 1922/23, zur Zeit des stummen Films, nach früheren Aufzeichnungen Gorkis entstanden. In der Numerierung der Absätze folgen wir dem Original.

von Maxim Gorki

Erschienen in: Theater der Zeit: Zeittheater oder Theater der Zeit? (07/1946)

Assoziationen: Theatergeschichte Dramatik Europa Dossier: Bühne & Film

Erste Episode: Luka

I.

Dorfversammlung. Die Bauern beraten über den Ankauf der Wiesen, die dem Gutsbesitzer gehören. Starke Erregung, heftiger Streit, es sind etwa dreißig Bauern, alles alte Männer oder Greise. Besonders erregt ist einer der Bauern, ein Mann von etwa vierzig Jahren; er ist abgerissen wie ein Bettler; er schüttelt seine Lumpen und zieht eine Bäuerin an der Hand, seine Frau, sie ist nur halb so alt wie er, hübsch, wesentlich besser gekleidet als er.

Man schiebt den Bauern beiseite: das kennt inan schon, arm sind sie alle, er beschwert sich offenbar über seine Frau, daß sie schlecht arbeitet; die Frau schämt sich darüber, wie man ihren Mann behandelt, schämt sich seiner Armut; sie reißt ihre Hand aus seinem Griff los und drängt ihn ebenfalls beiseite. Die Bauernversammlung findet auf der Dorfstraße vor dem Haus des Dorfschulzen statt; der Schulze sitzt auf der kleinen Treppe, die zum Hause hinaufführt, blickt belustigt auf den Kampf zwischen dem, Mann und der Frau und blinzelt der Frau zu. Der Schulze ist später Luka aus dem „Nachtasyl“; jetzt ist er ein gut aussehender Mann von fünfundvierzig Jahren mit dem Ansatz einer Glatze. Der Erregung und dem Streit der Bauern gegenüber verhält er sich...

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