Theater der Zeit

Gespräch

Was macht das Theater, Juan Mayorga?

von Juan Mayorga und Stefanie Gerhold

Erschienen in: Theater der Zeit: Der Untergang des russischen Theaters (10/2022)

Assoziationen: Akteure Dossier: Was macht das Theater...?

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Vor Kurzem habe ich dein Stück „Himmelweg” übersetzt.1 Es spielt in einem KZ und handelt davon, wie Menschen manipuliert werden. Auch in deinem jüngsten Werk „Der Golem“ geht es um Manipulation. Was beschäftigt dich an dem Thema?

„Himmelweg“ handelt von der Unsichtbarkeit des Grauens. Es gehört zum Grauen dazu, dass wir es nicht sehen wollen und lieber wegschauen. Und natürlich tun die Täter:innen das ­Ihrige, um es unsichtbar zu machen. Der KZ-Kommandant aus „Himmelweg“ inszeniert für den Delegierten des Roten Kreuzes ein Schauspiel. Der Besucher soll eine normale Stadt sehen, nicht einen Ort der Gewalt. Die Opfer sind zum Mitmachen gezwungen, sie tragen also zum Vertuschen der an ihnen begangenen Verbrechen bei. Letztlich ist es aber weniger die exzellente Maskerade als vielmehr die eigene moralische Schwäche, die den Besucher daran hindert, Türen zu öffnen, Fragen zu stellen und das Offensichtliche zu sehen.
Zum Verdecken des Grauens können Worte viel beitragen. „Himmelweg“ ist ein Euphemismus, der den Weg durch die Hölle verschleiert. An den Worten, die der Kommandant seinen Opfern in den Mund legt, hängt alles. Hier sehe ich die Verbindung zu „Der Golem“, denn auch dort geht es um die Macht der Worte.
Das alles beschäftigt mich in meinem eigenen Leben auch. Ich frage mich jeden Tag, inwieweit die Worte, mit denen ich spreche, denke, lebe, meine eigenen sind.

Du sagst, du möchtest mit deinem Theater den Konflikt in die Köpfe der Zuschauer verlegen. Was bedeutet das genau?

Es geht mir bei meinem Theater nicht darum zu beweisen, dass ich Recht habe. Ich ver­suche, die Zuschauer:innen mit Fragen zu konfrontieren, auf die ich selbst keine Antwort habe. Das Theater ist ein Ort, an dem wir zusammenkommen, um die Möglichkeiten der menschlichen Existenz zu untersuchen, und diese offenbaren sich in Konfliktsituationen, in Situationen, für die unsere Vernunft keine Lösung bereithält.
Um noch einmal auf „Himmelweg“ zurück­zukommen: Ich möchte, dass die Zuschau­er:innen sich fragen, was sie in der Situation machen würden. Ich möchte, dass sie eine Verbindung von sich zu dem Häftling Gottfried ziehen, der kooperiert, oder zum Rotkreuz-Delegierten oder sogar zum Kommandanten.
Konflikte bilden den Kern meines Theaters, weil sie unser Leben bestimmen. Wenn ich auf der Straße einen Streit mithöre, entspinnt sich in mir sofort ein Theaterstück.

Schreibst du gerade an einem?

Ich habe immer mehrere Stücke auf dem Tisch. Ein Stück, das ich im nächsten Jahr inszenieren möchte, heißt „María Luisa“. Es handelt von einer alleinstehenden älteren Dame, die zum Schutz vor Einbrechern zusätzliche Namen auf ihrem Briefkasten anbringt. Daraufhin erlebt sie in ihrer Wohnung wundersame Dinge – oder sie bildet sie sich ein. „María Luisa“ ist ein Stück über die Einsamkeit und die Fantasie.

Du hast dieses Jahr den Prinzessin-von-Asturien-Literaturpreis bekommen. Was bedeutet dir dieser Preis?

Ich freue mich sehr darüber! Die Jury besteht aus Leuten, die ich sehr schätze, und unter den früheren Preisträger:innen sind bedeutende Autor:innen. Ich freue mich auch deshalb, weil dieser Preis selten an Drama­tiker:innen vergeben wird. Die Dramatik ist an den Rand gedrängt, sie findet heute nicht die Beachtung, die sie verdient. Obwohl sie aus der Geschichte der Literatur nicht wegzudenken ist. Die griechische Tragödie, Shakespeare …
Im Übrigen glaube ich, man bekommt Preise weniger für das, was man geleistet hat, als für das, was von einem erwartet wird. In diesem Sinn will ich mich anstrengen, um ihn mir zu verdienen.

Seit Kurzem bist du künstlerischer Leiter des ­Teatro de la Abadía. Welche Pläne hast du für dein Theater?

Ein Theater zu leiten, ist einer der schönsten Berufe der Welt. Ein Theater ist ein Ort der Zusammenkunft, und es beglückt mich, ­Leute zusammenbringen zu können und ihre Arbeit zu begleiten.
Das Teatro de la Abadía ist vergleichsweise jung, aber es hat in den dreißig Jahren seines Bestehens Beachtliches hervorgebracht. Ich habe mich geehrt gefühlt und sehr gefreut, als man mir die Leitung angeboten hat. Für diese, meine erste Spielzeit haben wir einen vielfältigen und ehrgeizigen Spielplan auf die Beine gestellt. Zudem wird es Aus­stellungen geben, eine Gesprächsreihe, in der wir über die Gegenwart und Zukunft des Theaters nachdenken, und wir entwickeln verschiedene Workshops für Theaterschaffende. Ich denke, wir haben einiges zu bieten … //

1 mehr zur Frage der Vermittlung von spanischem Theater in dem Essay „Das große Welttheater“ in unserer Online-Ausgabe. Das Stück erscheint in der Übersetzung von Stefanie Gerhold in der Anthologie „Schattenschwimmer. Neue Theatertexte aus Spanien“, Hrsg. von Franziska Muche und Carola Heinrich am 12.10. im Neofelis Verlag

Die Fragen stellte Stefanie Gerhold, die das Gespräch auch aus dem Spanischen übersetzte.

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