Theater der Zeit

Protagonisten

Bauen und Spielen

Joachim Kümmritz rettete einst das Staatstheater in Schwerin – nun enden seine Intendanzen in Neubrandenburg/Neustrelitz und Rostock

von Gunnar Decker

Erschienen in: Theater der Zeit: Abgründe des Alltäglichen – Das Staatstheater Braunschweig (06/2019)

Assoziationen: Mecklenburg-Vorpommern Akteure Mecklenburgisches Staatstheater Schwerin

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Ein guter Intendant muss unerschrocken sein – oder zumindest so wirken. Weder vor lokalen Politikern, Regisseuren oder Schauspielern noch vor dem Publikum darf er Angst zeigen (darin einem Dompteur ähnlich). Ich vermute, Joachim Kümmritz hatte tatsächlich nie Angst vor irgendwem im eigenen Theater. Ohne Angst sein, das ist ein anderer Ausdruck für jene Freiheit, an der alle anderen teilhaben dürfen.

Gewiss liegt es an seinem besonderen Naturell als Berliner mit Wahl­heimat Mecklenburg und als gelernter Ökonom und Verwaltungsfachmann. Als solcher ist man nicht anfällig für Profilneurosen und auch erst einmal keine Konkurrenz für an Profilneurosen Leidende, von denen es an jedem Theater bekanntlich nicht wenige gibt. Das wurde zur Basis von nunmehr über vierzig ­Jahren ununterbrochener Tätigkeit am Theater, seit 1990 als ­Intendant – bis 2016 am Mecklenburgischen Staatstheater ­Schwerin, seit 2014 am Theater und Orchester Neubrandenburg/Neustrelitz und seit 2016 zusätzlich am Volkstheater Rostock.

Das Geheimnis dieser langen Leitungsdauer ist wohl, dass er ein sicheres Gespür dafür entwickelte, wo er sich zeigen und wo er sich besser verbergen sollte. Offensive bedarf der Defensive, um erfolgreich zu sein, so lehrt das Beispiel Kümmritz. Sein Credo im Umgang mit Provinzgrößen erklärte er mir einmal in allgemeinverständlichen Worten wie folgt: „Als Erstes wollte ich die Politiker von der Backe haben!“ Daraus hat er nie ein Geheimnis gemacht – was ihm wiederum das Vertrauen seiner Mitarbeiter unterschiedlichster Couleur garantierte. Er gehörte zu ihnen, sprach und handelte für sie, ließ es nicht zu, dass jemand von außen hineinregierte. Das ist der kleine Unterschied, zum Beispiel zwischen dem Mecklenburgischen Staatstheater gestern und heute. Der bekennende FC-Union-Fan machte aus seiner Berliner Herkunft nie einen Hehl, diese Offenheit kam auch bei eher verschlossenen Mecklenburgern gut an.

Sein erster Auftritt am Mecklenburgischen Staatstheater Schwerin datiert auf den 1. Januar 1979, da wurde er Mitarbeiter der sogenannten Investbauleitung. Seine in den kommenden Jahrzehnten gepflegte Leidenschaft begann: Bauen, und zwar bei laufendem Spielbetrieb.

Er ist kein Künstler, aber er liebt die Künstler. Das ist wohl entscheidend, wenn man als Chef eines Vierspartenhauses akzeptiert werden will. Dass da auch immer jemand mitrechnet, die Zahlen im Kopf hat, akzeptiert dann auch der Schauspieler, Tänzer oder Sänger leise seufzend. Aber Kümmritz war immer mehr als ein Verwalter, er hatte Ideen. Die verbanden – das war nach 1990 überlebenswichtig – Kunst und Kommerz auf wohldosierte Weise. Er erfand die Schlossfestspiele Schwerin, nicht nur, weil er so mehr ­finanziellen Spielraum für das immer unterfinanzierte Haus gewann, sondern auch, weil das Freilufttheater ihm sichtlich Spaß machte. In der Rolle des Zirkusdirektors auf Zeit fühlte er sich wohl – und die Beteiligten auch. Später erfand er auch die Thekentouren, spät­abendliche Minivorstellungen in Knei­pen. Alles, um das Theater in der Stadt zu verwurzeln.

Der erklärte Nichtkünstler Kümmritz schaffte es, sich mit seinen Schweriner Spartenleitern für Oper und Schauspiel, Werner Saladin und Ingo Waszerka (ausgeprägten Künstlerpersönlichkeiten), in den für den Fortbestand des Theaters entscheidenden neunziger Jahren nicht zu zerstreiten – und rettete es damit vor der drohenden Schließung.

Wer ein Theater leiten will, der muss vor allem die Menschen schützen, die ihr Herzblut dafür geben, dass auf der Bühne eben nicht bloß Mittelmaß stattfindet, sondern immer etwas ­Besonderes. Kümmritz kann das auf eine eher lässige Weise. Wer Altes abschafft, muss auch Neues schaffen – sonst hat alles keinen Sinn. Inzwischen hat das auch die Landesregierung in Schwerin begriffen, der „Theaterpakt“ ist die Folge langer, mühsamer Überredung zur Vernunft, nicht zuletzt durch Joachim Kümmritz.

Als er 2016 in Schwerin aufhörte, war er in Neustrelitz/Neubrandenburg noch mitten beim „Bauen und Spielen“, dann kam, nach dem abrupten und unfairen Ende der Intendanz von Sewan Latchinian am Volkstheater Rostock, noch eine neue Intendanz auf Zeit dazu. Hauptaufgabe in Rostock: nach dem Eklat um ­Latchinian die Gemüter be­ruhigen und die Politiker vom Theater fernhalten. Das ist ihm recht gut gelungen. Und nun? Rente – oder doch noch einmal ein neues Theater? //

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