Auftritt
Ballhaus Ost Berlin: Einfach auch mal labern
„Faserland-Boys und Ich – Labern über Männerliteratur“ von Fatima Çalışkan – Dramaturgie und Ko-Konzeption Felizitas Stilleke, Szenische Umsetzung und Ko-Regie Aurora Kellermann, Szenografie und Lichtdesign Raquel Rosildete, Kostüm Andreína Vieira dos Santos
Assoziationen: Berlin Theaterkritiken Fatima Çalışkan Ballhaus Ost
Entspannte Klaviermusik, ein aufgeräumter Schreibtisch – von Szene zu Szene mit mehr und mehr luxuriösen Alkoholika zugestellt – und: ein hohes Bücherregal, so ein richtig großes. „Zwei Meter mal zwei Meter vierzig. […] Denn wer viele Bücher hat, der liest auch viel, wer viel liest, weiß viel und wer viel weiß, der kann alles auf der Welt schaffen“, erklärt Fatima Çalışkan dem Premierenpublikum ihrer Inszenierung „Faserland-Boys und Ich“ im Ballhaus Ost in Berlin. In Koproduktion mit dem TATWERK | Performative Forschung bringt die Künstlerin hier eine monologische Performance auf die Bühne, in der feministisches Empowerment zum Lachen einlädt – zum Labern über Männerliteratur. Bevor es losgeht, erscheint ein Vorwort auf der Gaze: „Alle Personen, die in dieser Geschichte auftreten, alle Handlungen, die stattfinden, alle Nachrichten und Texte, die präsentiert werden, sind frei erfunden, jede Ähnlichkeit mit lebenden Personen und realen Ereignissen ist rein zufällig.“ Christian Krachts 1995 erschienener Roman „Faserland“ ist mit einem ähnlichen Epigraph versehen; eingeleitet wird dort jedoch die Geschichte eines jungen Mannes aus reichem Hause, der von Sylt nach Zürich reist – trinkt, raucht, feiert und von einer Stadt zur nächsten fährt, unterfüttert mit autofiktionalen, historischen und popkulturellen Referenzen. Krachts Roman gilt als bekanntestes Beispiel einer männlichen Popliteratur der 1990er- und 00er-Jahre. Inspiration findet Fatima Çalışkan in diesem Genre besonders durch eines: die Langeweile und die Oberflächlichkeit, von der diese Literatur durchzogen ist – die Selbstverständlichkeit, mit der „Faserland“-Boys durchs Leben tänzeln. Wieso können wir das nicht alle so machen? Die Frage ist gefundenes Fressen für kluge Feminist:innen wie Çalışkan. Auf der Suche nach einer Antwort spielt die Inszenierung mit biografischen Perspektiven, entlang derer sich „Faserland-Boys und Ich“ entfaltet: Als Millennial schlägt sie sich von einer Büro-Teilzeitstelle zur nächsten – die übrigen 20 Stunden müssen für die Kunst reichen; als Frau kommt dann noch der sozialisierte Zweifel am eigenen Können dazu; und obendrauf die Erfahrung, ständig in orientalisierten Klischees eingesperrt zu werden.
Ausgehend von der Beobachtung, dass immer wieder irgendein Typ um die 40 in ihrer Wohnung steht und ihr etwas von „Faserland“ erzählen will, entwickelt Fatima Çalışkan einen künstlerischen Versuchsaufbau: Wenn Kracht mit seinem Roman eine Kultur des modernen Dandys zelebrieren kann, dann spricht nichts dagegen, das Ganze auf der Bühne einfach mal nachzumachen, oder? Einfach auch mal labern. In lilafarbener Anzugjacke und glitzernden Absatzschuhen, rauchend und trinkend zum Dandy mutieren. Wieso nicht? In der Satire liegt eine Sehnsucht. Es ist die Sehnsucht nach einer Leichtigkeit, die sonst immer nur den anderen zukommt – einer Leichtigkeit, die auf dem Privileg fußt, sorglos und belesen durch diese Welt wandeln zu können.
Angelehnt an die Fernsehsendung „Das Literarische Quartett“ bastelt die Inszenierung ein satirisches Pendant: das Labernde Quartett. Die fachkundigen Gesprächsteilnehmer:innen Max von Goslar, Lea Horn, Ines Fahrisch und Aurelius Dollmer verkörpert Çalışkan allesamt selbst, analysiert und bewertet ihren eigenen Monolog. Laber. Laber. Laber. Was könnte da noch fehlen? Ja, genau: ein Podcast. Während Çalışkan in einer endlos langen Lufthansa-Story – von der Zugfahrt zum Flughafen über das Warten am Gate bis hin zu einer verlorenen Jacke –, genüsslich in ihrem neueroberten Dandytum badet, hat das Publikum genug Zeit, ein wichtiges Ziel dieses Abends zu erfüllen: über deutsche Akademiker:innen lachen.
Abgeschaut hat sich Çalışkan die Laberkunst bei den vielen „Faserland“-Boys, die sie in ihren Zwanzigern umschwärmt haben. Die hatten zwar süße blaue Augen, eine Barbourjacke und sexy Grübchen, aber eine gute Idee war das rückblickend nicht, erzählt sie. Denn der „Faserland“-Boy lockt mit einem anderen Leben. Der „Faserland“-Boy „gleitet aus dem Gehirn durch das Herz in die Arme, strömt durch die Finger auf die Tasten“. Er ist auf dem Altbaubalkon. Im Fernsehen. Immer. Überall. Und alles ist ironisch. Der „Faserland“-Boy hat keine Angst vor seinem schlechten Witz. Wieso auch?
Am Ende des Abends sitzt Çalışkan in einem bunten Mustermix aus Tüll, Glitzer und Jeansstoff neben ihrem Schreibtisch und lässt sich in einem imaginären Gespräch selbst von Christian Kracht interviewen. Auf die Frage, ob das Bücherregal nun wirklich dazu geführt hat, dass Fatima alles schaffen kann, antworte diese unaufgeregt: Nein. „Es ist nicht der Fluch, etwas sein zu wollen, was man nicht werden kann. Der Fluch ist zu glauben, man kann es werden“, erklärt sie ihrem imaginären Gesprächspartner. Der Satz bricht die Blödelei. Die Erkenntnis, die aus dem plötzlichen Riss in der Dandy-Satire hervorquillt: „Einfach auch mal Labern“ ist eine Fata Morgana im Bühnenlicht des Ballhaus Ost. Ein performativer Akt, der sich der materiellen Realität – den Barbour-Jacken und der strukturellen Ungerechtigkeit – kühn entgegenstellt. Was bleibt da zurück? Ein kurzer, lustiger und mutiger Traum. Wir müssen uns fragen: Kann diese Welt an Träumen wachsen?
Erschienen am 30.10.2024