Theater der Zeit

Gespräch

Das Zürcher Kulturhaus Helferei

Valeria Heintges im Gespräch mit Martin Wigger, dem Leiter der Helferei

von Martin Wigger und Valeria Heintges

Erschienen in: Theater der Zeit: Publikumskrise (11/2022)

Assoziationen: Akteure Schweiz

Anzeige

Anzeige

Martin Wigger, was haben Sie vorgefunden, als Sie in die Helferei kamen?

Ich erinnere mich an einen Geruch, den ich als sehr fremd empfand. Es roch stickig, als wäre länger nicht gelüftet worden. Irritierend war der Tag meines Vorstellungsgesprächs. Lauter Klischees: Unten im Foyer standen Reste eines Dritte-Welt-Ladens, und auf dem Weg nach oben las ich im Treppenhaus eine Ankündigung eines Dia-Abends über eine gemeinsame Reise nach Jerusalem.

Alles beisammen, womit Sie Mühe haben …

Ja, das zeigte mir gleich mein Dilemma. Denn die Ausschreibung war ja ganz anders, man suchte eine Künstlerische Leitung, und ich kam mehr oder weniger direkt vom Ende meiner Co-Schauspielleitung mit Tomas Schweigen am Theater Basel. Kurz: Ich betrat dieses Haus mit seiner Geschichte, sah das alles und fragte mich sofort: Kann ich hier agieren und mich entfalten? Mein erster Satz im Vorstellungsgespräch war: „Ich weiss gar nicht, ob ich hier richtig bin.“ Ich meinte das inhaltlich, aber die Kommission dachte, ich frage nach dem Raum.

Warum waren Sie so ambivalent?

Ich war unsicher, fragte mich: Reizt mich dieses Haus, mit dieser Ausrichtung? Oder ist das ein bisschen zu viel Theologie? Ich bin ein aufgeklärter Mensch des 21. Jahrhunderts – werde ich da nicht doppelt eingeholt von etwas, gegen das ich mich bis heute eigentlich immer wieder „produktiv“ sträube? Doch hat alles, was anders und reizvoll ist, auch einen ungeheuren Reiz und lockt natürlich. Ich bin mit diesen widerspenstigen Gedanken nicht nur in das Vorstellungsgespräch, sondern auch in alle weiteren Gespräche gegangen. Und das hat sich ausgezahlt. Die Kommission hat das im Nachhinein so beschrieben: Ich sei der sperrigste Kandidat, aber deshalb seien auch die Gespräche sehr produktiv gewesen.

Warum haben Sie sich ursprünglich auf die Stelle als Leiter dieses Hauses beworben? Was hat Sie angesprochen?

Als meine Basler Zeit zu Ende ging, dachte ich, es würde mich nur langweilen, wenn ich in gleicher Weise meine Theaterarbeit fortsetzen würde – da schien mir die Aufgabe des Leiters der Helferei genau zu passen. Dazu kam ein privater Aspekt: Ich war in der Zeit auf mich selbst zurückgeworfen und musste entscheiden, wie es weitergehen sollte. Ich beschloss, noch einmal zu studieren. Das war auch eine sehr luxuriöse Situation, es sprach vieles dafür, aber zum Beispiel keine soziale Komponente dagegen. Ich dachte an Medizin oder Theologie. Für Medizin war ich zu alt, aber die Theologie ist alterslos, im Gegenteil: Sie freuen sich über jeden Kandidaten, jede Kandidatin. Zudem gab es einen sogenannten „Quest“, einen Studiengang für Quereinsteiger, ein Pilotprojekt mit einer Klasse von Menschen in meinem Alter, die an ähnlichen Punkten standen. Aber ich musste Geld verdienen – und kaum war ich immatrikuliert, war diese Stelle ausgeschrieben.

Womit hat Sie das Haus am meisten überrascht?

Mit seiner Geschichte. Was ich heute beschreibe als eine gute Kombination meiner bisherigen künstlerischen und sozialen Arbeit, lag in diesem Haus eingeschrieben, seit Jahrhunderten. Das war mir nicht klar.

Wie unterscheidet sich die Arbeit hier von anderen Orten, an denen Sie gearbeitet haben, wo ist sie gleich?

Diese Offenheit des Hauses war für mich komplett ungewöhnlich. Ich kannte bislang nur Häuser, die man um 19 Uhr aufsperrt, damit um 20 Uhr etwas losgehen kann. Danach hat man sie wieder abgeschlossen, wenn es nicht noch ein Publikumsgespräch oder eine Party gab. Aber hier gibt es auch ein ganz normales Alltagsleben. Die Helferei stand immer in starkem Austausch mit all den Menschen, die von ­außen kamen, die auch heute noch plötzlich im Foyer stehen.

Viele fragen sich: Was ist das für ein Haus? Man kam immer und kommt noch heute sofort ins Gespräch, und etwas ergibt sich jedes Mal. Jeder Tag ist anders und speist sich in erster Linie – wenn es nicht abends Programm gibt – aus Begegnungen mit den Menschen.

Was ergibt sich aus diesen Begegnungen?

Es wird eine Adresse hinterlassen, eine Idee, oder die Menschen nehmen Programme mit, kommen wieder. Im Theater haben wir versucht aufzunehmen, welche Themen die Stadtgesellschaft umtreiben. Hier bin ich viel mehr über die Leute, die ins Haus kommen, mit der Stadt vernetzt und bekannt, bis in mein Privatleben hinein. Hier werden die Auseinandersetzungen an mich herangetragen. Wer im Theater arbeitet, lebt und arbeitet dort, das ist fast zwangsläufig, man ist einfach immer im Theater. Hier in der Helferei stehen die Türen offen, die Leute kommen und spülen die Themen mit sich. Bis in mein Büro hinein bin ich unmittelbar mit dem konfrontiert, was draußen stattfindet, und muss nur noch sortieren. Während ich als Dramaturg nach ­Themen gesucht habe, sind sie hier immer da – viel mehr, als ich umsetzen kann.

Und wo ähnelt die Arbeit derjenigen des Intendanten oder Dramaturgen?

Im Theater zu arbeiten bedeutet, dass man in jeder Stadt neu herausfinden muss, was die Menschen umtreibt, das ist von Stadt zu Stadt wirklich unterschiedlich. Diese Herausforderung gab es in der Helferei genauso. Hier gab es auch ein Grundpublikum, vergleichbar den Abonnenten. Aber ich musste ein anderes Publikum anziehen als das, das bislang da war. Denn auch der Helferei fehlten die jungen Leute.

Und wie konnten Sie Ihr Wissen in Programme für junge Menschen umsetzen?

Wir haben relevante Themen benannt und gezielt Veranstaltungen für junge Leute angeboten. Die Zürcher Zukunftsforscherin Elisabeth ­Michel-Alder hat uns Gesprächspartner vermittelt, und wir haben mit ihr „Das Podium der vier Generationen. Länger leben, anders arbeiten“ organisiert. Darüber haben sich viele Türen geöffnet. Viele Vereine ­haben wir kennengelernt, etwa den Selbsthilfeverein einfacheinfach, der Haushaltsgegenstände vermittelt im Internet. Wir haben Foren hier im Haus aufgemacht. Und wir haben die Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) angesprochen. Der Leiter des Fachbereichs Schauspiel, Peter Ender, Pfarrersohn, gehört zu denen, die ins Haus gespült ­wurden; er stand eines Tages im Foyer und wollte mich kennenlernen. Wir haben uns an einen Tisch gesetzt, geredet – und gemerkt, dass es viele ­Themenbereiche gibt, die wir zusammendenken können. Wir haben die ersten ein, zwei Jahre sehr intensiv Veranstaltungen mit der ZHdK stattfinden lassen, insgesamt fünf Reihen. Von Diplomarbeiten, die wir hier gezeigt haben, bis zur Reihe „Auslese“. Da haben Dozierende mal wieder selbst gespielt oder gelesen, vor ihren Studierenden. Das hat ein cooles Publikum angelockt.

Muss man sich nicht an allen Theatern um junges Publikum bemühen?

Ich habe noch nie an einem anderen Haus so jung tun müssen wie hier in der ersten Zeit. Auch wenn es eine Erwartung war, dass ich das junge Publikum hole. Man dachte wohl: Wer vom Theater kommt, bringt das junge Publikum automatisch – selbst wenn das ein Trugschluss ist. Wir sind mit der jungen Linie gestartet, und das war toll. Mir war nicht klar, wie viel Support das grundsätzlich gebracht hat. Denn auch die Älteren freuten sich, dass plötzlich so viele Junge da waren. Und die Jungen entdeckten für sich einen neuen Ort des Experimentierens. Wenn Sie die Kapelle sehen, wünschen Sie sich einfach, an einem solchen Ort mal auftreten zu können. In dieser grossartigen Lage, in der Achse zwischen Neumarkt, Schauspielhaus und Kunsthaus, mitten in der Altstadt, das ist schon genial. Wir versuchen, auch für unsere Gäste günstig zu bleiben. Allerdings bin ich mittlerweile nicht mehr so exzessiv auf dem Junge-Leute-Trip, weil ich gemerkt habe, dass die Themen der Älteren sich nicht so sehr von denen der Jüngeren unterscheiden.

Wo würden Sie die Helferei im Zürcher Stadtleben verorten?

Sie liegt an der Schnittstelle zwischen historisch begründeter sozialer Arbeit und Kultur. Mehr noch als die anderen Kulturinstitutionen müssen wir uns fragen, wie eine Kulturarbeit gelingen kann. Und zwar nicht nur in dem Sinne, dass am Abend der Vorhang hochgeht, sondern dass sie nachhaltig ist: in der Form des Produzierens, nicht mehr nur als einmalige Aufführung, und in der Art, wie wir mit dem Publikum in Kontakt bleiben. Das haben wir erreicht, indem wir Formate definiert haben. Sie sind ein wichtiger Bestandteil unserer ­Arbeit: Wir benennen Formate, in deren Rahmen immer wieder ­bestimmte Themen in einer bestimmten Form abgehandelt werden. Und erst dann überlegen wir, welche Inszenierungen, Lesungen, ­Musikveranstaltungen da hineinpassen.

Wie wird das Konzept angenommen, was funktioniert, was nicht?

Es wird besser denn je angenommen. Die ersten zwei, drei Jahre waren hart, aber es wurde immer besser – bis Corona kam. Da haben wir uns der Digitalität komplett verweigert, weil wir dachten: Das passt gar nicht zu diesem Haus. Wir haben nur einen großen digitalen Abend gemacht, mit der Regisseurin, Autorin, Performerin Antje Schupp zum Thema Solidarität. Sie hat sich vernetzt und versucht, dem Thema Solidarität global auf den Grund zu gehen. Andererseits hatten wir in der Zeit eine neue Chance, denn auch ohne Veranstaltungen hatten wir einfach ­offen. Wir waren gesprächsbereit, waren da. Und die Leute kamen, denn dies ist ein Ort für Austausch, immer. Wir konnten aus diesen Begegnungen ganz viele Ideen generieren, die wir jetzt nach und nach mit den Leuten, die hier aufgeschlagen sind, umsetzen.

Also, es gab eine lange Aufbau­arbeit. Die festen Formate, die Wieder­gänger, haben mittlerweile ein Publikum, mit dem wir unsere Monatsprogramme bestreiten können. Die andere Hälfte sind neue Programmpunkte, von denen wiederum die eine Hälfte funktioniert, die andere nicht so gut. Wir justieren nach, etwa das gleiche Format mit anderen Gästen. Das geht, weil die Helferei ein Gebrauchshaus ist, ein Haus der direkten und unmittelbaren Anwendung und Anwendbarkeit. Wir können auch mal Dinge in Ruhe weiterköcheln lassen. Andererseits hatten wir bisher 360 Veranstaltungen in fünf Jahren – das ist viel. Trotzdem kann sich in den nächsten fünf Jahren auch noch einmal alles ganz neu ausrichten. Denn dieses Haus wird nie fertig sein.

Sie selbst bezeichnen die Arbeit in der Helferei als „Social Critical Work“. Was heißt das?

Eigentlich sind alle Menschen, die in diesem Haus ein Programm anbieten, „Social Artists“. Aber gleichzeitig setzen wir uns auch mit den Formen und Arbeitsweisen von „Social Art“ auseinander, und dies eben auch kritisch. Daher arbeitet die Helferei mit dem Begriff von „Social Critical Work“ und versucht, sich in ein reflektiertes Verhältnis zu einer sich ständig verändernden Gesellschaft zu setzen. So tragen hier Veranstaltungen Titel wie „Human Library“, „Dienstleistertag“ oder „Solidarity“, und die Bandbreite der Künstlerinnen und Künstler reicht von Harald Schmidt über Barbara Weber bis zu Antje Schupp und vielen anderen mehr.

teilen:

Assoziationen

Neuerscheinungen im Verlag

Charly Hübner Buch backstage
Cover XYZ Jahrbuch 2023
Recherchen 162 "WAR SCHÖN. KANN WEG …"
"Scène 23"
"Zwischen Zwingli und Zukunft"
Recherchen 165 "#CoronaTheater"
"Die Passion hinter dem Spiel"
Arbeitsbuch 31 "Circus in flux"
"Passion Play Oberammergau 2022"
Recherchen 163 "Der Faden der Ariadne und das Netz von Mahagonny  im Spiegel von Mythos und Religion"
Passionsspiele Oberammergau 2022
"Theater der Vereinnahmung"
Recherchen 156 "Ästhetiken der Intervention"
"Pledge and Play"