Editorial
Objektive Kritik?
von Fritz Erpenbeck
Erschienen in: Theater der Zeit: Objektive Kritik? (09/1946)
Assoziationen: Theaterkritiken
Die Streitfrage, die zu Verfallszeiten der Kultur immer wieder auftaucht, ob nämlich Kunstkritik subjektiv oder objektiv zu sein habe, spukt auch heute durch mancherlei Diskussionen. Das Hauptargument derer, die für eine subjektive Kritik eintreten, ist fast immer das gleiche: da es ohnehin keine restlos objektive Kritik geben könne, sei sie um so reizvoller, je stärker die Persönlichkeit des Kritikers in ihr zum Ausdruck komme. Die Gegner dieser Auffassung erklären: Kunstkritik habe sich auf erforschbare Kunstgesetze zu gründen; eine völlige Objektivität sei zwar nicht zu erreichen, aber durch möglichst tiefe eigene Forschung und ständiges kritisches Einbeziehen des bereits Erforschten müsse man sich einer allgemeinen Objektivität fortwährend nähern; subjektive Geschmacksurteile selbst der interessantesten Persönlichkeiten seien theoretisch wie praktisch wertlos. Auf eine einfache Fragestellung reduziert, heißt das zunächst: Ist Kunstkritik eine künstlerisch-schöpferische oder eine wissenschaftlich-schöpferische Tätigkeit?
Wenn wir uns in der Kunstgeschichte umsehen, stoßen wir auf eine unbestreitbare Tatsache: die kritischen Arbeiten aller subjektivistischen Kritiker, und mögen sie noch so starke künstlerische Persönlichkeiten gewesen sein, sind vergessen, oder diese Kritiken sind, wenn man sie gelegentlich ausgräbt, auf den ersten Blick als falsch zu erkennen. (Man erinnere sich beispielsweise an Grabbes seinerzeit berühmten Shakespeare-Aufsatz oder auch an Heines Pariser Briefe über Bildende Kunst.) Hingegen...