Theater der Zeit

IV. Bertolt Brecht oder Der moderne Schauspieler

Kleines Organon für das Theater

Quelle 14

von Bertolt Brecht

Erschienen in: Lektionen 3: Schauspielen Theorie (12/2010)

Assoziationen: Schauspiel Theatergeschichte

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Die historischen Bedingungen darf man sich freilich nicht denken (noch werden sie aufgebaut werden) als dunkle Mächte (Hintergründe), sondern sie sind von Menschen geschaffen und aufrechterhalten (und werden geändert von ihnen): was eben da gehandelt wird, macht sie aus.

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Wenn nun eine Person historisiert, der Epoche entsprechend antwortet und anders antworten würde in andern Epochen, ist sie da nicht jedermann schlechthin? Je nach den Zeitläuften oder der Klasse antwortet hier jemand verschieden; lebte er zu anderer Zeit oder noch nicht so lang oder auf der Schattenseite des Lebens, so antwortete er unfehlbar anders, aber wieder ebenso bestimmt und wie jedermann antworten würde in dieser Lage zu dieser Zeit: ist da nicht zu fragen, ob es nicht noch weitere Unterschiede der Antwort gibt? Wo ist er selber, der Lebendige, Unverwechselbare, der nämlich, der mit seinesgleichen nicht ganz gleich ist? Es ist klar, daß das Abbild ihn sichtbar machen muß, und das wird geschehen, indem dieser Widerspruch im Abbild gestaltet werden wird. Das historisierende Abbild wird etwas von den Skizzen an sich haben, die um die herausgearbeitete Figur herum noch die Spuren anderer Bewegungen und Züge aufweisen. Oder man denke an einen Mann, der in einem Tal eine Rede hält, in der er mitunter seine Meinung ändert oder lediglich Sätze spricht, die sich widersprechen, so daß das Echo, mitsprechend, die Konfrontation der Sätze vornimmt.

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Solche Abbilder erfordern freilich eine Spielweise, die den beobachtenden Geist frei und beweglich erhält. Er muß sozusagen laufend fiktive Montagen an unserm Bau vornehmen können, indem er die gesellschaftlichen Triebkräfte in Gedanken abschaltet oder durch andere ersetzt, durch welches Verfahren |177|ein aktuelles Verhalten etwas „Unnatürliches“ bekommt, wodurch die aktualen Triebkräfte ihrerseits ihre Natürlichkeit einbüßen und handelbar werden.

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Die Spielweise, welche zwischen dem ersten und zweiten Weltkrieg am Schiffbauerdamm-Theater in Berlin ausprobiert wurde, um solche Abbilder herzustellen, beruht auf dem Verfremdungseffekt (V-Effekt). Eine verfremdende Abbildung ist eine solche, die den Gegenstand zwar erkennen, ihn aber doch zugleich fremd erscheinen läßt. Das antike und mittelalterliche Theater verfremdete seine Figuren mit Menschen- und Tiermasken, das asiatische benutzt noch heute musikalische und pantomimische V-Effekte. Die Effekte verhinderten zweifellos die Einfühlung, jedoch beruhte diese Technik eher mehr denn weniger auf hypnotisch suggestiver Grundlage als diejenige, mit der die Einfühlung erzielt wird. Die gesellschaftlichen Zwecke dieser alten Effekte waren von den unsern völlig verschieden.

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Um V-Effekte hervorzubringen, mußte der Schauspieler alles unterlassen, was er gelernt hatte, um die Einfühlung des Publikums in seine Gestaltungen herbeiführen zu können. Nicht beabsichtigend, sein Publikum in Trance zu versetzen, darf er sich selber nicht in Trance versetzen. Seine Muskeln müssen locker bleiben, führt doch zum Beispiel ein Kopfwenden mit angezogenen Halsmuskeln die Blicke, ja mitunter sogar die Köpfe der Zuschauer „magisch“ mit, womit jede Spekulation oder Gemütsbewegung über diese Geste nur geschwächt werden kann. Seine Sprechweise sei frei von pfäffischem Singsang und jenen Kadenzen, die die Zuschauer einlullen, so daß der Sinn verlorengeht. Selbst Besessene darstellend, darf er selber nicht besessen wirken; wie sonst könnten die Zuschauer ausfinden, was die Besessenen besitzt?

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In keinem Augenblick läßt er es zur restlosen Verwandlung in die Figur kommen. Ein Urteil: „Er spielte den Lear nicht, er war Lear“, wäre für ihn |178|vernichtend. Er hat seine Figur lediglich zu zeigen oder, besser gesagt, nicht nur lediglich zu erleben; dies bedeutet nicht, daß er, wenn er leidenschaftliche Leute gestaltet, selbst kalt sein muß. Nur sollten seine eigenen Gefühle nicht grundsätzlich die seiner Figur sein, damit auch die seines Publikums nicht grundsätzlich die der Figur werden. Das Publikum muß da völlige Freiheit haben.

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Dies, daß der Schauspieler in zweifacher Gestalt auf der Bühne steht, als Laughton und als Galilei, daß der zeigende Laughton nicht verschwindet in dem gezeigten Galilei, was dieser Spielweise auch den Namen „die epische“ gegeben hat, bedeutet schließlich nicht mehr, als daß der wirkliche, der profane Vorgang nicht mehr verschleiert wird – steht doch auf der Bühne tatsächlich Laughton und zeigt, wie er sich den Galilei denkt. Schon indem es ihn bewunderte, vergäße das Publikum natürlich Laughton nicht, auch wenn er die restlose Verwandlung versuchte, aber es ginge dann doch seiner Meinungen und Empfindungen verlustig, welche vollkommen in der Figur aufgegangen wären. Er hätte ihre Meinungen und Empfindungen zu seinen eigenen gemacht, so daß also tatsächlich nur ein einziges Muster derselben herauskäme: er würde es zu dem unsrigen machen. Um diese Verkümmerung zu verhüten, muß er auch den Akt des Zeigens zu einem künstlerischen machen. Um eine Hilfsvorstellung zu benutzen: wir können die eine Hälfte der Haltung, die des Zeigens, um sie selbständig zu machen, mit einer Geste ausstatten, indem wir den Schauspieler rauchen lassen und ihn uns vorstellen, wie er jeweils die Zigarre weglegt, um uns eine weitere Verhaltungsart der erdichteten Figur zu demonstrieren. Wenn man aus dem Bild alles Hastige herausnimmt und sich das Lässige nicht nachlässig denkt, haben wir einen Schauspieler vor uns, der uns sehr wohl unsern oder seinen Gedanken überlassen könnte.

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Noch eine andere Änderung in der Übermittlung der Abbildungen durch den Schauspieler ist nötig, und auch sie macht den Vorgang „profaner“. Wie der Schauspieler sein Publikum nicht zu täuschen hat, daß nicht |179|er, sondern die erdichtete Figur auf der Bühne stehe, so hat er es auch nicht zu täuschen, daß, was auf der Bühne vorgeht, nicht einstudiert sei, sondern zum erstenmal und einmalig geschehe. Die Schillersche Unterscheidung, daß der Rhapsode seine Begebenheit als vollkommen vergangen, der Mime die seinige als vollkommen gegenwärtig zu behandeln habe [Briefwechsel mit Goethe, 26. 12. 1797], trifft nicht mehr so zu. Es soll in seinem Spiel durchaus ersichtlich sein, daß „er schon am Anfang und in der Mitte das Ende weiß“, und er soll „so durchaus eine ruhige Freiheit behalten“. In lebendiger Darstellung erzählt er die Geschichte seiner Figur, mehr wissend als diese und das Jetzt wie das Hier nicht als eine Fiktion, ermöglicht durch die Spielregel, setzend, sondern es trennend vom Gestern und dem andern Ort, wodurch die Verknüpfung der Begebnisse sichtbar werden kann.

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Dies ist besonders wichtig bei der Darstellung von Massenereignissen oder wo die Umwelt sich stark verändert, wie bei Kriegen und Revolutionen. Der Zuschauer kann dann die Gesamtlage und den Gesamtverlauf vorgestellt bekommen. Er kann zum Beispiel eine Frau, während er sie sprechen hört, im Geist noch anders sprechen hören, sagen wir in ein paar Wochen, und andere Frauen eben jetzt anderswo anders. Dies wäre möglich, wenn die Schauspielerin so spielte, als ob die Frau die ganze Epoche zu Ende gelebt hätte und nun, aus der Erinnerung, von ihrem Wissen des Weitergehens her, das äußerte, was von ihren Äußerungen für diesen Zeitpunkt wichtig war, denn wichtig ist da, was wichtig wurde. Eine solche Verfremdung einer Person als „gerade dieser Person“ und „gerade dieser Person gerade jetzt“ ist nur möglich, wenn nicht die Illusionen geschaffen werden: der Schauspieler sei die Figur und die Vorführung sei das Geschehnis.

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Nun hat aber schon in diesem eine weitere Illusion aufgegeben werden müssen: die, als handelte jedermann wie die Figur. Aus dem „ich tue das“ wurde ein „ich tat das“, und jetzt muß aus dem „er tat das“ noch ein „er tat das, nichts anderes“ werden. Es ist eine zu große Vereinfachung, wenn man |180|die Taten auf den Charakter und den Charakter auf die Taten abpaßt; die Widersprüche, welche Taten und Charakter wirklicher Menschen aufweisen, lassen sich so nicht aufzeigen. Die gesellschaftlichen Bewegungsgesetze können nicht an den „Idealfällen“ demonstriert werden, da die „Unreinheit“ (Widersprüchlichkeit) gerade zu Bewegung und Bewegtem gehört. Es ist nur nötig – dies aber unbedingt –, daß im großen und ganzen so etwas wie Experimentierbedingungen geschaffen werden, das heißt, daß jeweils die Gesellschaft überhaupt hier so behandelt, als mache sie, was sie macht, als ein Experiment.

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Wenn auch beim Probieren Einfühlung in die Figur benutzt werden kann (was bei der Vorführung zu vermeiden ist), darf dies doch nur als eine unter mehreren Methoden der Beobachtung angewendet werden. Sie ist beim Probieren von Nutzen, hat sie doch selbst in der maßlosen Anwendung durch das zeitgenössische Theater zu einer sehr verfeinerten Charakterzeichnung geführt. Jedoch ist es die primitivste Art der Einfühlung, wenn der Schauspieler nur fragt: wie wäre ich, wenn mir dies und das passierte? wie sähe es aus, wenn ich dies sagte und das täte? – anstatt zu fragen: wie habe ich schon einen Menschen dies sagen hören oder das tun sehen? um sich so, hier und da allerhand holend, eine neue Figur aufzubauen, mit der die Geschichte vor sich gegangen sein kann – und noch einiges mehr. Die Einheit der Figur wird nämlich durch eine Art gebildet, in der sich ihre einzelnen Eigenschaften widersprechen.

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Die Beobachtung ist ein Hauptteil der Schauspielkunst. Der Schauspieler beobachtet den Mitmenschen mit all seinen Muskeln und Nerven in einem Akt der Nachahmung, welcher zugleich ein Denkprozeß ist. Denn bei bloßer Nachahmung käme höchstens das Beobachtete heraus, was nicht genug ist, da das Original, was es aussagt, mit zu leiser Stimme aussagt. Um vom Abklatsch zur Abbildung zu kommen, sieht der Schauspieler auf die Leute, als machten sie ihm vor, was sie machen, kurz, als empfählen sie ihm, was sie machen, zu bedenken.

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Ohne Ansichten und Absichten kann man keine Abbildungen machen. Ohne Wissen kann man nichts zeigen; wie soll man da wissen, was wissenswert ist? Will der Schauspieler nicht Papagei oder Affe sein, muß er sich das Wissen der Zeit über das menschliche Zusammenleben aneignen, indem er die Kämpfe der Klassen mitkämpft. Die mag manchem wie eine Erniedrigung vorkommen, da er die Kunst, ist die Bezahlung geregelt, in die höchsten Sphären versetzt; aber die höchsten Entscheidungen für das Menschengeschlecht werden auf der Erde ausgekämpft, nicht in den Lüften; im „Äußeren“, nicht in den Köpfen. Über den kämpfenden Klassen kann niemand stehen, da niemand über den Menschen stehen kann. Die Gesellschaft hat kein gemeinsames Sprachrohr, solange sie in kämpfende Klassen gespalten ist. So heißt unparteiisch sein für die Kunst nur: zur herrschenden Partei gehören.

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So ist die Wahl des Standpunktes ein anderer Hauptteil der Schauspielkunst, und er muß außerhalb des Theaters gewählt werden. Wie die Umgestaltung der Natur, so ist die Umgestaltung der Gesellschaft ein Befreiungsakt, und es sind die Freuden der Befreiung, welche das Theater eines wissenschaftlichen Zeitalters vermitteln sollte.

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Schreiten wir fort, indem wir untersuchen, wie zum Beispiel der Schauspieler, von diesem Standpunkt aus, seine Rolle zu lesen hat. Es ist da wichtig, daß er nicht zu schnell „begreift“. Wenn er auch gleich den natürlichsten Tonfall seines Textes ausfindig machen wird, die bequemste Art, ihn zu sagen, so soll er doch die Aussage selbst nicht als die natürlichste betrachten, sondern da zögern und seine allgemeinen Ansichten heranziehen, andere mögliche Aussagen in Erwägung ziehen, kurz, die Haltung des sich Wundernden einnehmen. Dies nicht nur, um nicht zu früh, nämlich bevor er alle Aussagen und besonders die der anderen Figuren registriert hat, eine bestimmte Figur festzulegen, der dann vieles eingestopft werden müßte, sondern auch, und dies hauptsächlich, um in den Aufbau der Figur das „Nicht–Sondern“ hineinzubringen, |182|auf das so viel ankommt, wenn das Publikum, das die Gesellschaft repräsentiert, die Vorgänge von der beeinflußbaren Seite einsehen können soll. Auch muß jeder Schauspieler, anstatt nur das ihm Gemäße als „das schlechthin Menschliche“ an sich zu ziehen, besonders nach dem ihm nicht Gemäßen, Speziellen langen. Und er muß, mit dem Text, diese seine ersten Reaktionen, Vorbehalte, Kritiken, Verblüffungen memorieren, damit sie in seiner Endgestaltung nicht etwa vernichtet werden, indem sie „aufgehen“, sondern bewahrt und wahrnehmbar bleiben; denn die Figur und alles muß dem Publikum weniger eingehen als auffallen.

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Und das Lernen des Schauspielers muß zusammen mit dem Lernen der anderen Schauspieler, sein Aufbau der Figuren mit dem Aufbau der andern Figuren vorgenommen werden. Denn die kleinste gesellschaftliche Einheit ist nicht der Mensch, sondern zwei Menschen. Auch im Leben bauen wir uns gegenseitig auf.

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Hier ist einiges aus der Unsitte unserer Theater zu lernen, daß der herrschende Schauspieler, der Star, sich auch dadurch „hervortut“, daß er sich von allen andern Schauspielern bedienen läßt: er macht seine Figur fürchterlich oder weise, indem er die Partner zwingt, die ihren furchtsam oder aufmerksam zu machen und so weiter. Schon um diesen Vorteil allen zu gewähren und dadurch der Fabel zu dienen, sollten die Schauspieler die Rollen auf den Proben mit ihren Partnern mitunter tauschen, damit die Figuren voneinander bekommen, was sie voneinander brauchen. Es ist aber für die Schauspieler auch gut, wenn sie ihren Figuen in der Kopie begegnen oder auch in anderen Gestaltungen. Von einer Person anderen Geschlechts gespielt, wird die Figur ihr Geschlecht deutlicher verraten, von einem Komiker gespielt, tragisch oder komisch, neue Aspekte gewinnen. Vor allem sichert der Schauspieler, indem er die Gegenfiguren mitentwickelt oder zumindest ihre Darsteller vertritt, den so entscheidenden gesellschaftlichen Standpunkt, von dem aus er seine Figur vorführt. Der Herr ist nur so ein Herr, wie ihn der Knecht es sein läßt und so weiter.

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An der Figur sind natürlich schon zahllose Aufbauakte vollzogen worden, wenn sie unter die andern Figuren des Stücks tritt, und der Schauspieler wird seine Vermutungen, die der Text darüber anregt, zu memorieren haben. Aber nun erfährt er weit mehr über sich aus der Behandlung, welche die Figuren des Stücks ihm widerfahren lassen.

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Den Bereich der Haltungen, welche die Figuren zueinander einnehmen, nennen wir den gestischen Bereich. Körperhaltung, Tonfall und Gesichtsausdruck sind von einem gesellschaftlichen Gestus bestimmt: die Figuren beschimpfen, komplimentieren, belehren einander und so weiter. Zu den Haltungen, eingenommen von Menschen zu Menschen, gehören selbst die anscheinend ganz privaten, wie die Äußerungen des körperlichen Schmerzes in der Krankheit oder der religiösen. Diese gestischen Äußerungen sind meist recht kompliziert und widerspruchsvoll, so daß sie sich mit einem einzigen Wort nicht mehr wiedergeben lassen, und der Schauspieler muß achtgeben, daß er bei der notwendigerweise verstärkten Abbildung da nichts verliert, sondern den ganzen Komplex verstärkt.

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Der Schauspieler bemächtigt sich seiner Figur, indem er kritisch ihren mannigfachen Äußerungen folgt sowie denen seiner Gegenfiguren und aller anderen Figuren des Stücks.

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Gehen wir, um zum gestischen Gehalt zu kommen, die Anfangsszenen eines neueren Stückes durch, meines „Leben des Galilei“. Da wir auch nachsehen wollen, wie die verschiedenen Äußerungen Licht aufeinander werfen, wollen wir annehmen, es handle sich nicht um die erste Annäherung an das Stück. Es beginnt mit den morgendlichen Waschungen des Sechsundvierzigjährigen, unterbrochen durch Stöbern in Büchern und eine Lektion für den Knaben Andrea Sarti über das neue Sonnensystem. Mußt du nicht wissen, wenn du das machen sollst, daß wir schließen werden mit dem |184|Nachtmahl des Achtundsiebzigjährigen, den eben derselbe Schüler für immer verlassen hat? Er ist dann schrecklicher verändert, als diese Zeitspanne hätte zuwege bringen können. Er frißt mit haltloser Gier, nichts anderes mehr im Kopf, er ist seinen Lehrauftrag auf schimpfliche Weise losgeworden wie eine Bürde, er, der einst seine Morgenmilch achtlos getrunken hat, gierig, den Knaben zu belehren. Aber trinkt er sie wirklich ganz achtlos? Ist sein Genuß an dem Getränk und der Waschung nicht eins mit dem an den neuen Gedanken? Vergiß nicht: er denkt der Wollust wegen! Ist dies etwas Gutes oder etwas Schlechtes? Ich rate dir, da du im ganzen Stück darüber nichts der Gesellschaft Nachteiliges finden wirst, und besonders, da du doch selber, wie ich hoffe, ein tapferes Kind des wissenschaftlichen Zeitalters bist, es als etwas Gutes darzustellen. Aber notiere es deutlich, viel Schreckliches wird in dieser Sache passieren. Daß der Mann, der hier das neue Zeitalter begrüßt, am Ende gezwungen sein wird, dieses Zeitalter aufzufordern, daß es ihn mit Verachtung von sich stoße, wenn auch enteigne, wird damit zu tun haben. Was die Lektion anlangt, magst du übrigens entscheiden, ob bloß, dem das Herz zu voll ist, das Maul überläuft, so daß er zu jedem davon reden würde, selbst zu einem Kinde, oder ob das Kind ihm das Wissen erst entlocken muß, indem es, ihn kennend, Interesse zeigt. Es können auch zwei sein, die sich nicht enthalten können, der eine zu fragen, der andere zu antworten; solch eine Brüderschaft wäre interessant, denn sie wird einmal böse gestört werden. Freilich wirst du die Demonstration des Erdumlaufs mit einer Hast vornehmen wollen, da sie nicht bezahlt wird, denn nun tritt der fremde, wohlhabende Schüler auf und verleiht der Zeit des Gelehrten Goldwert. Er zeigt sich nicht interessiert, aber er muß bedient werden, ist Galilei doch mittellos, und so wird er zwischen dem wohlhabenden Schüler und dem intelligenten stehen und seufzend wählen. Er kann den Neuen nicht viel lehren, so läßt er sich von ihm belehren; er erfährt vom Teleskop, das in Holland erfunden worden ist: in seiner Weise verwendet er die Störung des Morgenwerks. Der Kurator der Universität kommt. Galileis Eingabe um Erhöhung des Gehalts ist abgeschlagen worden, die Universität zahlt nicht gern für physikalische Theorien, was sie für theologische bezahlt, sie wünscht von ihm, der sich schließlich auf einer niedrig angesetzten Ebene der Forschung bewegt, Nützliches für den Tag. Du wirst |185|an der Art, wie er seinen Traktrat anbietet, bemerken, daß er die Zurück- und Zurechtweisungen gewohnt ist. Der Kurator verweist ihn darauf, daß die Republik die Freiheit der Forschung gewährt, wenn auch schlecht bezahlt; er erwidert, daß er mit dieser Freiheit wenig anfangen kann, wenn er nicht die Muße hat, die gute Bezahlung verschafft. Da wirst du gut tun, seine Ungeduld nicht allzu herrisch zu finden, sonst kommt seine Armut zu kurz. Denn du triffst ihn kurz darauf bei Gedanken, die einiger Erklärung bedürfen: der Verkünder eines neuen Zeitalters der wissenschaftlichen Wahrheiten erwägt, wie er die Republik um Geld betrügen kann, indem er ihr das Teleskop als seine Erfindung anbietet. Nichts als ein paar Skudi, wirst du erstaunt sehen, sieht er in der neuen Erfindung, die er lediglich untersucht, um sie sich anzueignen. Gehst du aber weiter, zur zweiten Szene, wirst du entdecken, daß er, die Erfindung an die Signoria von Venedig mit einer durch ihre Lügen entwürdigende Rede verkaufend, dieses Geld schon beinahe vergessen hat, weil er neben der militärischen noch eine astronomische Bedeutung des Instruments ausgefunden hat. Die Ware, die herzustellen man ihn erpreßt hat – nennen wir es doch jetzt so –, zeigt eine hohe Qualität für eben die Forschung, die er unterbrechen mußte, um sie herzustellen. Wenn er während der Zeremonie, die unverdienten Ehrungen geschmeichelt entgegennehmend, dem gelehrten Freund die wunderbaren Entdeckungen andeutet – überspring da nicht, wie theatralisch er das tut –, wirst du einer viel tieferen Erregung bei ihm begegnen, als die Aussicht auf den geldlichen Gewinn bei ihm auslöste. Wenn jedoch, so betrachtet, seine Scharlatanerei nicht sehr viel bedeutet, zeigt sie doch an, wie entschlossen dieser Mann ist, den leichten Weg zu gehen und seine Vernunft in niedriger wie in hoher Weise zu verwenden. Eine bedeutsamere Prüfung steht bevor, und macht nicht jedes Versagen ein weiteres Versagen leichter?

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Solch gestisches Material auslegend, bemächtigt sich der Schauspieler der Figur, indem er sich der Fabel bemächtigt. Erst von ihr, dem abgegrenzten Gesamtgeschehnis aus, vermag er, gleichsam in einem Sprung, zu seiner endgültigen Figur zu kommen, welche alle Einzelzüge in sich aufhebt. Hat |186|er alles getan, sich zu wundern über die Widersprüche in den verschiedenen Haltungen, wissend, daß er auch sein Publikum darüber zu wundern haben wird, so gibt ihm die Fabel in ihrer Gänze die Möglichkeit einer Zusammenfügung des Widersprüchlichen; denn die Fabel ergibt, als begrenztes Geschehnis, einen bestimmten Sinn, das heißt sie befriedigt von vielen möglichen Interessen nur bestimmte.

 

Bertolt Brecht: „Kleines Organon für das Theater“, in: ders.: Schriften zum Theater, Band 7, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1964, S. 30 – 48

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